13.11.2020

Strafverfahren gegen IS-Anhänger

Völkermord an den Jesiden

Strafverfahren gegen IS-Anhänger

Völkermord an den Jesiden

lBis heute gelten mehr als dreitausend jesidische Frauen und Mädchen als vermisst, bzw. als vom IS gefangen gehalten. | © ruslanshug - stock.adobe.com
lBis heute gelten mehr als dreitausend jesidische Frauen und Mädchen als vermisst, bzw. als vom IS gefangen gehalten. | © ruslanshug - stock.adobe.com

Im August 2014 wurde durch den Islamischen Staat (IS) mit der Vernichtung und Verfolgung der in der irakischen Region Sindschar (Şingal) lebenden Jesiden begonnen. Es kam zu Folter, Vergewaltigung, Massentötung und Versklavung. Bis heute gelten mehr als dreitausend jesidische Frauen und Mädchen als vermisst, bzw. als vom IS gefangen gehalten. Unter den IS-Anhängern befanden sich auch deutsche Kämpfer. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums (BMI) sind rund tausend deutsche Extremisten bekannt, die 2014 nach Syrien und in den Irak aufgebrochen waren. Aktuell sollen sie sich in den von Kurden kontrollierten Gebieten im Nordosten (Rojava) des Bürgerkriegslandes befinden. Aufgrund fehlender diplomatischer Kontakte sowie konsularischer Vertretung Deutschlands in Syrien ist eine Ausreise kaum möglich. Dennoch gelang es einigen, nach Deutschland einzureisen.

Der Islamische Staat (IS)

Der Islamische Staat (IS) gilt als eine der extremistischsten Terrororganisationen des 21. Jahrhunderts. Gegründet wurde sie 2003, aufgrund des im Nahen Osten bestehenden Widerstandes (Tawhid und Dschihad) gegen die amerikanische Einflussnahme vor allem im Irak und in Syrien. Ziel des IS ist es, die Amerikaner zurückzudrängen und einen sunnitischen Gottesstaat zu errichten. Zunächst nur im Irak und in Syrien, später im gesamten arabischen Raum. Folglich mussten alle Andersgläubigen (Kuafir) sich entweder zum Islam bekennen (Missionierung) oder vernichtet werden. Unter der Leitung des Irakers Abu Bakr Al-Bagdadi wurden etliche Anschläge gegen Minderheiten (Jesiden, christliche Aramäer, Assyrer, Schabak, Mandade und Schiiten) verübt.

Kampf der Kurden gegen den IS

Durch den Einmarsch in Syrien 2014 und den Kampf um Kobanê (Ain al-Arab) erlangte der IS internationale Bekanntheit. Der Kampf der YPG unter der Leitung von Mazlum Abdi Kobani sowie die Unterstützung der internationalen Koalition führten jedoch zur Niederlage des IS und folglich zum Sieg über das sogenannte Kalifat.


Der IS hatte im syrischen Nordosten 2017 nicht nur Raqqa, die „heimliche Hauptstadt“ seines Kalifats verloren, sondern 2019 mit al-Baghuz (Schlacht um al-Baghuz-Faqwani) auch das letzte Stück Territorium. Nach dem Fall ergaben sich tausende IS-Kämpfer und ihre Familien kampflos den Kurden. Rund 12.000 IS-Kämpfer sollen sich heute im al-Sinaa-Gefängnis sowie in anderen Anstalten in Hesekê aufhalten. Hinzu kommen nahezu 70.000 IS-Anhänger und Familienmitglieder, die im Flüchtlingslager Hol untergebracht sind.

Völkermord an den Jesiden

Unter all den Kriegsverbrechen des IS ist eines in starker Erinnerung geblieben: Der Völkermord an den Jesiden. Im August 2014 hatte der IS mit der Vernichtung und Verfolgung der Jesiden in der irakischen Region Sindschar (Şingal) begonnen. Die Jesiden stellen im Nahen Osten eine seit Jahrhunderten verfolgte ethnische und religiöse Minderheit dar. Das Jesidentum galt vor der Zwangsislamisierung im 7. Jahrhundert als Ursprungsreligion der Kurden. Die Jesiden werden zudem als eines der ältesten religiösen Völker angesehen. Heute zählt man weltweit rund zwei Millionen Jesiden.

Vor dem Angriff des IS am 3. August 2014 lebten rund eine halbe Million Jesiden im irakischen Gebiet Sindschar (Şingal), das zwischen Mossul und der syrischen Grenze liegt. Der IS sieht die Jesiden als „Ungläubige“ und „Teufelsanbeter“, die zu vernichten seien. Knapp 10.000 Menschen, vor allem Männer und Jungen, wurden vor Ort in den Dörfern getötet. In der Region wurden mehr als 70 Massengräber entdeckt. Etwa 7.000 jesidische Frauen und Kinder wurden als Sklaven verschleppt, verkauft, misshandelt und vergewaltigt. Hunderttausende flohen – und wagen bis heute nur vereinzelt die Rückkehr in ihre Heimat. Viele Überlebende sind traumatisiert. Rund 3.000 Frauen und Kinder gelten bis heute als vermisst.

Aufnahme durch Deutschland

Tausende von Menschen weltweit folgten 2014 dem Aufruf des IS und reisten nach Syrien und dem Irak. Unter ihnen befanden sich auch viele deutsche Staatsbürger, die sich dem Kalifat anschlossen und den Genozid an den Jesiden mitverübten. Vorgeworfen wird ihnen allen die Beteiligung an einer Terroristischen Vereinigung, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Menschenhandel. Dabei handelt es sich nicht allein um ein kurdisches, irakisches oder syrisches Problem, sondern um ein internationales und folglich auch um ein deutsches Problem. Denn viele der deutschen IS-Kämpfer warten auf die Rückaufnahme durch Deutschland.

Fall des IS-Anhängers Taha Al-J

In Frankfurt hat Mitte April das erste Strafverfahren weltweit mit dem Tatbestand des Genozides an den Jesiden begonnen. Angeklagt ist Taha Al-J., der Mann von der in München angeklagten IS-Anhängerin Jennifer W. Beide sollen in ihrem Haushalt ein 5-jähriges jesidisches Kind sowie die Mutter des Kindes als Sklavin gehalten haben. Das minderjährige Kind wurde laut Anklage von dem IS-Anhänger Taha Al-J und seiner Frau Jennifer W. draußen bei 40 Grad an ein Fenster gekettet und verdurstete in der glühenden Sonne. Die Bundesanwaltschaft hat aufgrund dessen Anklage wegen Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Begehung von Kriegsverbrechen erhoben. Der Frankfurter Prozess gegen Taha Al-J. ist das weltweit erste Strafverfahren gegen einen Täter des IS im Zusammenhang mit dem Genozid an den Jesiden. Erstmals wird explizit der Straftatbestand des Genozids mitverhandelt.

Völkermord: Zerstörungsabsicht erforderlich

Problematisch ist, wie Deutschland nun mit der Rückkehr deutscher IS-Anhänger umzugehen hat. Fraglich ist zudem, wann ein Verbrechen als Völkermord zu subsumieren ist. Nach Artikel II der UN- Völkerrechtskonvention versteht man darunter

„die an einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe begangenen Handlungen:

  1. Tötung von Mitgliedern der Gruppe
  2. Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe
  3. vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen
  4. Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind
  5. gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.

Diese Handlungen müssen in der Absicht begangen werden, die Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.“

Eine Schwierigkeit besteht darin, dass in den meisten Fällen keine schriftliche Darlegung in Form einer Zerstörungsabsicht vorliegt, wie beispielsweise das Dokument der Wannsee-Konferenz zur „Endlösung der Judenfrage“. Dass der Genozid und folglich die systematische Auslöschung der Jesiden eine bewusste Entscheidung der IS-Führungsriege war, belegt ein Bericht der „Unabhängigen Untersuchungskommission“ zu Syrien. Daraus folgt, dass die Staatsanwaltschaft im Fall des Taha Al-J. belegen muss, dass er vorsätzlich handelte und die Jesiden sowie ihre Religion oder Kultur systematisch vernichten wollte. Um das zu beweisen, könnte die Verbreitung der Vernichtungsabsichten der IS-Kämpfer im Internet den zuständigen Behörden zu Gute kommen.

Fall des ruandischen Ex-Bürgermeisters Onesphore R.

Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Klärung eines Völkermordes ist dies nicht der erste Fall in Deutschland. So erging im Jahr 2015 am OLG Frankfurt ein Urteil gegen den in Deutschland lebenden ruandischen Ex-Bürgermeister Onesphore R. Dieser wurde wegen Mittäterschaft am Völkermord in Ruanda zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Dieses Urteil wurde gefällt, bevor das Völkerstrafgesetzbuch in Kraft getreten war. Das Urteil beruhte damals auf den Völkermordparagraphen im deutschen Strafgesetzbuch (StGB).

Internationales Straftribunal

Die verhängten Strafen bzw. zu verhängenden Strafen zeigen, dass nicht mehr allein auf ein nationales Straftribunal zu setzen ist. Dies würde auch mit den Grundwerten Europas nicht im Einklang stehen. Die westliche Weltordnung zeigt weltweit, wie hoch das Verständnis für Freiheit und Gerechtigkeit ist. Daher kann eine Völkermord-Debatte nicht mehr nur innerhalb der Grenzen eines Nationalstaates erfolgen, sondern erfordert ein internationales Straftribunal. Der Gedanke eines internationalen Straftribunals beruht zudem auf den Grundlagen des Philosophen Immanuel Kant aus dem 18. Jahrhundert. Darin stellt er fest, dass

die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird“.

Dieser Gedankengang hat es bis in die Präambel des Römisches Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs geschafft, dem sich 123 Staaten anschlossen. Deutschland im Besonderen folgte diesem Rechtsgedanken und verankerte 2002 das sogenannte Weltrechtsprinzip im Völkerstrafgesetzbuch. Das Prinzip zielt vor allem darauf ab, dass es keinen sicheren Hafen für Verbrecher geben soll („No save havens for perpetrators“). Gerichte haben durch diesen Leitgedanken die Möglichkeit, die Verbrechen der IS-Kämpfer auch außerhalb des Tat-Landes zu verfolgen. Deutschland geht mit diesem Beispiel nun einmalig voran.

 

Quellen:

 

Hülya Duran

Polizeikommissarin, Kreis Warendorf
n/a