30.07.2020

Rolf Radeisen: „Im Wesentlichen sind wir bisher recht gut durch diese Krise gesteuert worden.“

PUBLICUS-Interview zur temporären Absenkung der Mehrwertsteuer

Rolf Radeisen: „Im Wesentlichen sind wir bisher recht gut durch diese Krise gesteuert worden.“

PUBLICUS-Interview zur temporären Absenkung der Mehrwertsteuer

Die Absenkung der Mehrwertsteuer geht durch alle Branchen. | © Christian_Emmerke
Die Absenkung der Mehrwertsteuer geht durch alle Branchen. | © Christian_Emmerke

Seit beinahe einem Monat gilt die temporäre Senkung der Mehrwertsteuer. Im Interview mit Professor Rolf Radeisen sprechen wir über die Umsetzung in Betrieben, neu entstandenen Problemen und häufigen Fragen.

PUBLICUS: Seit (knapp) einem Monat gilt nun die temporäre Senkung der Mehrwertsteuer. Was sind die größten Probleme, mit denen die Betriebe zu kämpfen haben?

Die Absenkung der Mehrwertsteuer geht durch alle Branchen und betrifft Unternehmen jeglicher Größe. Damit kann sich kein Unternehmer dieser Änderung entziehen. Bei rechtlich klaren Vorgängen geht es um die Anpassung der Kassensysteme, der Buchhaltungssysteme und der gesamten für Eingangs- und Ausgangsleistungen relevanten IT. Dies sind in der Kürze der Zeit und den heutigen komplexen Systemen enorme Herausforderungen. Gerade für kleine Unternehmen, die über keine internen Ressourcen zur zeitnahen Anpassung verfügen, entsteht dadurch ein enormer Aufwand. Darüber hinaus gibt es auch Vorgänge, bei denen schon die systematische Abgrenzung Schwierigkeiten bereitet. Erwähnt seien hier nur Dauerschuldleistungen, die über einen längeren Zeitraum erbracht werden oder Bauleistungen.


PUBLICUS: In welchen Branchen waren und sind nach Ihrer Wahrnehmung die Probleme mit der Umsetzung am größten?

Das kann man gar nicht so sehr auf einzelne Branchen beziehen. Es kommt eher darauf an, welche Prozesse angepasst werden mussten und welche rechtlichen Überlegungen angestellt werden sollten. Grundsätzlich waren natürlich die Branchen besonders von der Umstellung betroffen, bei denen in der Nacht vom 30.6. zum 1.7. die Anpassungen vorgenommen werden mussten – insbesondere also im Einzelhandel und Gastronomiebereich. Dabei waren zum Beispiel in der Gastronomiebranche, die von dem Shutdown mit am stärksten betroffen war, gleich mehrere Probleme zu bewältigen: Einerseits die auf ein Jahr befristete Umstellung vom Regelsteuersatz auf den ermäßigten Steuersatz für die Abgabe von Speisen, andererseits dann die Reduzierung des ermäßigten Steuersatzes von 7 % auf 5 %.

PUBLICUS: Welche konkreten Probleme konnten Sie in der Praxis dabei am häufigsten beobachten?

Zum einen sind das die reinen technischen Fragen der Anpassung der Kassensysteme. Das ist ja nicht mehr so einfach, dass da nur ein Schalter umgelegt werden muss. Die Eingriffe in die Systeme, Test- und Trainingsläufe müssen dann dokumentiert werden. Zum Teil müssen gerade kleinere Unternehmen dazu auf externe Techniker zurückgreifen, die so schnell auch nicht alle Systeme anpassen können. Zum anderen besteht insgesamt eine große Unsicherheit, wie mit langfristigen Verträgen umzugehen ist – wo muss eine Anpassung vorgenommen werden, wo können oder müssen Rechnungen berichtigt werden.

PUBLICUS: Und welche Fragen und Probleme im Kontext der temporären Mehrwertsteuersenkung sind bis heute ungelöst?

Der letzte gerade angesprochene Punkt der rechtlichen Würdigung gerade langfristiger Vertragsbeziehungen wird die gesamte Wirtschaft nach meiner Einschätzung noch lange Zeit beschäftigen. Dies sind ja nicht nur kurzfristig zu lösende Fragen und Probleme – dieselben Fragen werden sich auch in der Zukunft stellen, wenn das zweite Halbjahr 2020 Gegenstand von Betriebsprüfungen sein wird. Wenn dann die heutige Situation hoffentlich Geschichte sein wird, werden manche Entscheidungen, die jetzt spontan getroffen worden sind, vielleicht systematisch anders gesehen werden können. Es bleibt da zu hoffen, dass die Finanzverwaltung dann auch noch so mit Augenmaß agieren wird, wie sie es derzeit nach meiner Einschätzung tut.

PUBLICUS: Wie sind die meisten Betriebe mit dem Thema umgegangen: Umsetzung und Weitergabe der Beträge, auch wenn es sich nur um Cent-Beträge handelt oder haben manche Alternativen ersonnen?

Ich glaube, quer durch die gesamte Wirtschaft waren alle sehr von dieser temporären Steuersatzabsenkung überrascht. Irgendwelche großen Strategien waren da gar nicht so schnell umsetzbar. Die Frage der Weitergabe der Steuersatzabsenkung wird nach meiner Auffassung zum Teil überschätzt. Die Preisgestaltung in vielen Branchen – nehmen Sie einmal die großen Discounter – ist weniger von der Höhe des Mehrwertsteuersatzes als denn von strategischen Aspekten geprägt. Natürlich ist dies als Werbeaspekt – wie jeder mitverfolgen konnte – dankbar aufgenommen worden. Ich denke, Herr Söder hat es in der Pressekonferenz bei der Verkündung der temporären Steuersatzabsenkung recht gut getroffen, als er feststellte, dass vieles eben reine Psychologie ist.

PUBLICUS: Der zeitliche Vorlauf der temporären Mehrwertsteuersenkung war sehr kurz, erläuternde BMF-Schreiben stehen teilweise noch aus: Spiegelt diese Vorgehensweise eine Praxisferne der Politik oder ist dieser Vorlauf noch im Rahmen der Zumutbarkeit?

Ja, historisch sind wir bei einer Anpassung der allgemeinen Steuersätze immer von einem Vorlauf von vier Monaten ausgegangen, um die notwendigen Anpassungen vornehmen zu können. Diesmal waren es gerade mal vier Wochen. Ich glaube, die Politik hat die Auswirkungen für die Wirtschaft nicht so recht im Blick gehabt, gerade die kleineren Unternehmen – obwohl sie eigentlich ein stabiles Rückgrat der deutschen Wirtschaft sind – werden mit ihren Problemen nicht in ausreichendem Maße bei politischen Entscheidungen berücksichtigt. In diesem Fall möchte ich aber auch die Politik in Schutz nehmen – die gesamte Situation ist eben einmalig und deshalb kann nicht auf Erfahrungswerte zurückgegriffen werden. Im Wesentlichen sind wir in Deutschland bisher mit allen Maßnahmen recht gut durch diese Krise gesteuert worden.


PUBLICUS: Die Umstellungskosten etwa bei der IT oder in der Kommunikation der Absenkung war für die Betriebe sicher nicht günstig. Gibt es hier bereits Durchschnittswerte, wie hoch die betrieblichen Kosten anzusetzen sind?

Das kann meines Erachtens nicht beziffert werden, da auch ganz unterschiedliche Verhältnisse in den einzelnen Branchen vorliegen. Aufgrund einer kleinen Anfrage im Deutschen Bundestag geht die Bundesregierung von einem Erfüllungsaufwand der Wirtschaft von knapp 240 Mio. Euro aus. Branchenspezifische Daten liegen der Bundesregierung nicht vor. Neben dem reinen Erfüllungsaufwand, der ja auch andererseits wieder – zumindest teilweise – auf der anderen Seite Umsatz und Beschäftigung bedeutet, muss vor allem Dingen auch berücksichtigt werden, dass die temporäre Steuersatzabsenkung zu erheblicher Unsicherheit auch bei den Abrechnungen im B2B-Bereich geführt hat. Hier hätte m.E. durch eine überlegtere Vorgehensweise sehr zur Rechtssicherheit beitragen können. Ich möchte dies kurz erläutern: Wenn ein Unternehmer eine Leistung an einen anderen Unternehmer ausführt, schuldet zwar der leistende Unternehmer die Mehrwertsteuer, der Leistungsempfänger kann diese sich aber als Vorsteuer regelmäßig abziehen – es bleibt dabei im Ergebnis bei einem Nullsummenspiel. Wenn jetzt aber der leistende Unternehmer auch in der Zeit der temporären Steuersatzabsenkung auch weiterhin den alten Steuersatz abrechnet, kann der Leistungsempfänger diesen überhöhten Betrag nicht als Vorsteuer abziehen. Damit müssen auch alle Prozesse – wie zum Beispiel steuerpflichtige Gewerbemietverträge, Leasingverträge etc. – im B2B-Bereich angepasst werden. Die Finanzverwaltung hat hier lediglich – aber auch erst nach Verhandlungen mit dem Finanzausschuss eine Nichtbeanstandungsregelung für Juli 2020 geregelt. Dies ist aus Sicht der Praxis eindeutig nicht ausreichend und führt zu erheblichen nicht notwendigen Umstellungskosten.

PUBLICUS: Wird die „Rückumstellung“ zum 01.01.2021 deutlich leichter?

Sie wird auf jeden Fall besser planbar. Zumindest die technischen Anpassungsprozesse werden deutlich entspannter angegangen werden können. Die rechtlichen Fragen bleiben natürlich vergleichbar. Dabei muss beachtet werden, dass die Intention der Verbraucher dann eine andere ist, als bei der Absenkung. Während bei der Absenkung plötzlich die Verbraucher gerne noch den Termin für Einkäufe oder Inanspruchnahme von Dienstleistungen aus dem Juni in den Juli verschoben haben, wird es jetzt dazu kommen, dass die Leistung noch im Dezember ausgeführt werden soll. Dabei ist immer zu beachten, dass es für die zutreffende Anwendung des jeweiligen Steuersatzes immer nur auf die tatsächliche Ausführung des Umsatzes und nicht auf die Rechnungsausstellung, den Vertragsabschluss oder die Bezahlung ankommt.

PUBLICUS: Was sind die drei Attribute, die Ihnen für diese steuerliche Maßnahme einfallen?

Das ist sehr schwer – gerade, weil die Situation, unter der dies stattfindet so einmalig ist. Ich würde zuerst feststellen, dass dies politisch gut gemeint ist, obwohl aus meiner Sicht die Mehrwertsteuer kein vorrangiges Instrument für eine kurzfristige Nachfragebelebung ist. Dann möchte ich in diesem Zusammenhang auch die Vorgehensweise der Finanzverwaltung positiv hervorheben und in diesem Fall als sehr praxisorientiert einstufen. Auch die Finanzverwaltung konnte sich auf diese Entwicklung nicht längerfristig einstellen und hat transparent und schnell mit Entwürfen von Verwaltungsanweisungen zumindest einen Orientierungsrahmen vorgegeben. Und ob es sich um eine erfolgreiche oder eher weniger erfolgreiche Maßnahme handelt werden wir – wenn überhaupt – erst später sehen können.

PUBLICUS: Sind Sie der Großen Koalition eigentlich dankbar für diese Sonderkonjunktur für Steuerberater?

Nein, ich glaube auch nicht, dass Kolleginnen oder Kollegen dafür dankbar sind. Steuerberaterinnen und Steuerberater versuchen in dieser Zeit, zusammen mit den Mandanten, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie einigermaßen in Grenzen zu halten. Da ist ja nicht nur die Mehrwertsteuer, es sind auch diverse andere Corona-bedingten Aufgaben zu bewältigen. Es ist auch oftmals ein falscher Eindruck, der im Zusammenhang mit Steuern und Steuerberatung verbreitet wird. Es steht – obwohl es medial natürlich attraktiver ist – nicht die Gestaltung im Vordergrund, eine möglichst niedrige Steuer zu zahlen. Die weitaus größte Zahl der Mandantinnen und Mandanten wollen lediglich für ein steuerliches Problem eine verlässliche und vor allem rechtssichere Lösung. Hier könnte die Finanzverwaltung in Abstimmung mit den steuerberatenden Berufen sicher noch über das bisherige Maß hinaus noch zulegen.

 

Zur Person:

Professor Rolf Radeisen ist Diplom-Kaufmann und praktiziert als Steuerberater in Berlin mit Spezialisierung auf Umsatzsteuerrecht und Erbschaftsteuer und Bewertungsrecht. Er ist Honorarprofessor an der HTW Berlin und aktiv in der Aus- und Fortbildung von Steuerberatern.

 

Marcus Preu

Ltg. Lektorat und Redaktion, Rechtsanwalt
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