15.07.2020

Fortgeltung rechtswidriger Normen durch Anordnungen von Verwaltungsgerichten?

Zwischen Zweitwohnungsteuer und Corona-Krise

Fortgeltung rechtswidriger Normen durch Anordnungen von Verwaltungsgerichten?

Zwischen Zweitwohnungsteuer und Corona-Krise

Jüngst kam es zu innovativen Gerichtsentscheidungen. | © Alexander Limbach - stock.adobe.com
Jüngst kam es zu innovativen Gerichtsentscheidungen. | © Alexander Limbach - stock.adobe.com

Zwischen Zweitwohnungsteuer und Corona-Krise: Dürfen Verwaltungsgerichte die vorläufige Fortgeltung rechtswidriger untergesetzlicher Normen anordnen?

Auf den ersten Blick haben Zweitwohnungsteuer und Corona-Krise nichts miteinander zu tun. Bei näherer Betrachtung offenbart sich jedoch eine erstaunliche Parallelität: In beiden Themengebieten kam es jüngst zu innovativen Gerichtsentscheidungen, die sich mit einer bislang kaum behandelten prozessualen Frage befassten: Welche Rechtsfolgen können Verwaltungsgerichte ihren Entscheidungen beimessen, wenn sie bei einer prinzipalen oder inzidenten Normenkontrolle untergesetzlicher Normen einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG feststellen?

Eine überraschende Entscheidung aus Karlsruhe

Im Herbst 2019 versetzte eine Kammerentscheidung des BVerfG die Fachwelt in Erstaunen. Mit Beschluss vom 18.7.2019, der mit der zugehörigen Pressemitteilung am 24.10.2019 veröffentlicht wurde, gab die 2. Kammer des Ersten Senats zwei Verfassungsbeschwerden statt, die sich gegen die Erhebung von Zweitwohnungsteuern in den bayerischen Gemeinden Markt Oberstdorf und Sonthofen richteten (1 BvR 807/12, 1 BvR 2917/13). Für Verblüffung sorgte dabei weniger die materielle Aussage, dass die zugrundeliegenden Satzungen wegen der Anknüpfung des Steuermaßstabs an die indexierte Jahresrohmiete und wegen der konkreten Ausgestaltung des gestaffelten Steuertarifs gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstießen, sondern vielmehr eine prozessuale Besonderheit: Anstatt die betreffenden gemeindlichen Satzungsbestimmungen für nichtig zu erklären, beschränkte sich die Kammer darauf, deren Unvereinbarkeit – sowie die der darauf gestützten behördlichen und gerichtlichen Entscheidungen – mit Art. 3 Abs. 1 GG festzustellen. Die Richter räumten den betroffenen Gemeinden im Wege einer sogenannten Fortgeltungsanordnung eine Übergangsfrist für die weitere Anwendbarkeit bis zum 31.3.2020 ein. Sie begründeten diesen Schritt damit, dass den Gemeinden andernfalls größere Einnahmeausfälle – von der Gemeinde Markt Oberstdorf auf rund 1 Mio. Euro pro Jahr beziffert – drohten, die sich empfindlich auf den kommunalen Haushalt auswirken würden.


Mit der Fortgeltungsanordnung bezüglich einer kommunalen Abgabensatzung betrat das BVerfG juristisches Neuland. Zwar hatten die Karlsruher Richter bereits wiederholt die weitere Anwendbarkeit verfassungswidriger förmlicher Gesetze bis zu einer gesetzlichen Neuregelung für gerechtfertigt erklärt; ein Präzedenzfall für untergesetzliche Rechtsnormen, insbesondere gemeindliche Satzungen, findet sich in der verfassungsgerichtlichen Judikatur jedoch nicht. Dies dürfte nicht nur mit den – auf den Parlamentsgesetzgeber zugeschnittenen – Regelungen der §§ 31 Abs. 2, 79 Abs. 1 BVerfGG zusammenhängen, sondern auch dem fehlenden praktischen Bedürfnis für eine solche Anordnung geschuldet sein: Nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung sind die Kommunen bei der Erhebung von Abgaben berechtigt, eine ungültige Satzung rückwirkend durch eine neue Satzung zu ersetzen und auf dieser Grundlage örtliche Steuern, Verbrauchsgebühren und Beiträge auch für einen zurückliegenden Zeitraum neu zu erheben.

Die wenig überraschende Antwort der Fachgerichte

Die Reaktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf den Karlsruher Vorstoß ließ nicht lange auf sich warten. Bereits im November 2019 stellte das BVerwG in zwei Revisionsverfahren zu Zweitwohnungsteuersatzungen in Schleswig-Holstein und Niedersachsen klar, dass die Verwaltungsgerichte mangels einer entsprechenden Regelung in der Verwaltungsgerichts­ordnung grundsätzlich nicht befugt sind, eine zeitlich befristete Fortgeltung rechtswidriger Satzungsbestimmungen anzuordnen (U.v. 27.11.2019 – 9 C 3.19 und 9 C 4.19). Noch einen Schritt weiter ging der BayVGH in einem Eilbeschluss zu der von der Gemeinde Markt Oberstdorf erlassenen aktuellen Zweitwohnungsteuersatzung, die inzwischen an die Stelle der vom BVerfG geprüften Vorgängerregelung getreten war. Der BayVGH entschied, dass sich die bis zum 31.3.2020 geltende verfassungsgerichtliche Fortgeltungsanordnung nicht auf die denselben Mangel aufweisende Nachfolgesatzung erstreckte und dass die Verwaltungsgerichte auch in diesem Sonderfall nicht selbst eine derartige Fortgeltungsanordnung aussprechen durften (B.v. 24.2.2020 – 4 CS 19.2271). Die Reichweite und praktische Bedeutung der vom BVerfG angeordneten Fortgeltung beschränkt sich danach allein auf die vom konkreten Entscheidungsausspruch erfassten Zweitwohnungsteuersatzungen der beiden betroffenen bayerischen Kommunen.

Dass unter bestimmten Voraussetzungen eine verwaltungsgerichtliche Fortgeltungsanordnung in Betracht kommen könnte, haben das BVerwG und – im Anschluss daran – der BayVGH allerdings nicht kategorisch ausgeschlossen, sondern in den genannten Entscheidungen grundsätzlich für möglich gehalten. Beide Gerichte nehmen dabei Bezug auf ein Urteil des BVerwG zur Spielgerätesteuer aus dem Jahr 2010, das die Möglichkeit einer Fortgeltungsanordnung in besonderen Ausnahmefällen angedeutet hatte (U.v. 9.6.2010 – 9 CN 1.09 – BVerwGE 137, 123 Rn. 29). Ob und – wenn ja – unter welchen Voraussetzungen ein derartiger „Notstand“ anzunehmen wäre, der eine zeitlich befristete Fortgeltung rechtfertigen könnte, konnten die Gerichte bei der Entscheidung über die angefochtenen Zweitwohnungssteuerbescheide offenlassen. Dass potenzielle gemeindliche Einnahmeausfälle in einer Größenordnung von 1 Mio. Euro, die zudem durch den rückwirkenden Neuerlass der Satzung kompensiert werden können, keinen solchen Notstand darstellen, lag – jedenfalls aus fachgerichtlicher Sicht – auf der Hand.

Fortsetzung folgt

Der Corona-Krise ist es geschuldet, dass die Diskussion um verwaltungsgerichtliche Fortgeltungsanordnungen im Notstandsfall eine Renaissance unter einem völlig anderen, nicht-steuerlichen Blickwinkel erlebt. In einem vielbeachteten Beschluss, der zu einem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz im Normenkontrollverfahren gegen die Zweite Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung erging, hat nunmehr ein anderer Senat des BayVGH nicht nur die Kategorie des Notstands überhaupt anerkannt, sondern zugleich dessen Voraussetzungen bejaht. Das Gericht stellte in seiner Entscheidung zur 800 m²-Regelung im Einzelhandel zwar die Unvereinbarkeit des vom Verordnungsgeber verfolgten Gesamtkonzepts mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG fest, sah aber wegen des in wenigen Tagen bevorstehenden Außerkrafttretens der Regelung sowie des minder schweren Gewichts des Gleichheitsverstoßes von einer Außervollzugsetzung ab (B.v. 27.4.2020 – 20 NE 20.793). Zur weiteren Begründung führte der Senat unter Bezugnahme auf den Notstands-Vorbehalt im Urteil des BVerwG zur Spielgerätesteuer aus, dass er dessen Voraussetzungen angesichts der gesamtgesellschaftlichen Bedrohungslage durch das Corona-Virus für gegeben halte. In einer solchen Situation müsse es dem Normenkontrollgericht möglich sein, auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren von der an sich nach § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO vorgesehenen Unwirksamkeitserklärung abzusehen.

Dem – im Schrifttum teilweise heftig kritisierten – Beschluss des BayVGH gebührt das Verdienst, erstmals die Kriterien für den vom BVerwG in den Raum gestellten Notstandsfall inhaltlich auszufüllen und damit Ansatzpunkte für eine Fallgruppenbildung zu liefern. Festzuhalten ist zunächst, dass ein Notstand nach allgemeinen Kriterien nur angenommen werden kann, wenn die befristete Weitergeltung der verfassungswidrigen Normen zur Vermeidung eines noch verfassungsferneren Zustands geboten wäre (vgl. bereits BayVGH, B.v. 24.2.2020 – 4 CS 19.2271 – Rn. 14). Da eine solche Rechtsfolge einfachrechtlich nicht vorgesehen ist, kommt die Annahme des Notstands nur aus verfassungsrechtlichen, insbesondere aus grundrechtlichen Erwägungen in Betracht. In der Corona-Krise liegt es nahe, hier die staatliche Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu aktivieren. Auch wenn den staatlichen Instanzen dabei nach ständiger Rechtsprechung ein weiter Einschätzungsspielraum zukommt (vgl. nur BVerfGE 142, 313/337 f. Rn. 70; U.v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15 – Rn. 224 f.; speziell zu Corona B.v. 12.5.2020 – 1 BvR 1027/20 – Rn. 6), lag angesichts der vom 20. Senat geschilderten allgemein bekannten Gefährdungslage eine Situation vor, die einklagbare Handlungspflichten auslösen könnte. Wann, wenn nicht in einem solchen Fall könnte die Annahme eines Notstands im Sinn der Rechtsprechung des BVerwG gerechtfertigt sein?

 

Prof. Dr. Isabel Schübel-Pfister

Richterin am Bundesverwaltungsgericht; Honorarprofessorin an der Universität Bayreuth
n/a