05.07.2020

Angriff auf die Unabhängigkeit der EZB

Das BVerfG schwächt die Gemeinschaftswährung

Angriff auf die Unabhängigkeit der EZB

Das BVerfG schwächt die Gemeinschaftswährung

Verfälschungen des Wettbewerbs und Beeinträchtigungen des Handels zwischen EU-Mitgliedstaaten sollen grundsätzlich verhindert werden. | © bluedesign - stock.adobe.com
Verfälschungen des Wettbewerbs und Beeinträchtigungen des Handels zwischen EU-Mitgliedstaaten sollen grundsätzlich verhindert werden. | © bluedesign - stock.adobe.com

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) fordert mit seinem viel beachteten Urteil vom 05.05.2020 eine Überprüfung der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) durch die Bundesregierung. Hierin zeigt sich, dass es die Funktionsweise moderner Geldpolitik nicht versteht. Das müssen Juristen grundsätzlich wohl auch nicht, aber in diesem Fall könnte der Schaden immens sein.

Glaubwürdigkeit der Zentralbank

Glaubwürdigkeit ist für die Funktionsweise von Geldpolitik unabdingbar. So wurde die Ankündigung vom Juli 2012 vom damaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi, alles zu tun, um den Euro zu retten („whatever ist takes“), von den Märkten als glaubwürdige Ankündigung aufgefasst. Allein durch die Wirkung seiner Worte wurde die Eurokrise entschärft und die EZB musste das beschlossene OMT-Anleihenkaufprogramm („Outright Monetary Transactions“) überhaupt nicht aktivieren und keinen einzigen Cent dafür ausgeben.

Jetzt führt das Urteil des BVerfG zum gegenteiligen Ergebnis. Wenn die Unsicherheiten hinsichtlich der Verlässlichkeit der Geldpolitik steigen, müssen Notenbanken mehr intervenieren, um ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. So hat die EZB in der Woche der Urteilsverkündung Anleihen für den Rekordbetrag von 45 Mrd. EUR gekauft und damit fast doppelt so viel wie durchschnittlich in den sechs Wochen davor. Nur dadurch konnte der Zinsaufschlag (Spread) zwischen deutschen und italienischen Staatsanleihen in Grenzen gehalten werden. Denn wenn Investoren ein Land als unsicher einstufen, verlangen sie als Risikoprämie höhere Zinsen. Karlsruhe hat also ein Eigentor geschossen.


Konstruktionsfehler der Währungsunion

Es zeigt sich wiederum, dass bei der Konstruktion der Währungsunion zwei grundsätzliche Fehler begangen wurden. Der eine war, die Währungsunion nicht mit einer Fiskalunion zu verbinden. Der andere bestand darin, nationale Notenbanken auch in der Eurozone beizubehalten. Die Deutsche Bundesbank ist durch diese doppelte Funktionalität gleichzeitig eine deutsche Behörde und damit an das deutsche Recht, andererseits aber als Mitglied des Eurosystems auch an das Unionsrecht gebunden. Michael Burda von der Berliner Humboldt-Universität hat bereits 2013 vorgeschlagen, die nationalen Notenbanken abzuschaffen, da diese einen „Stolperstein auf dem Weg zur Integration Europas“ darstellten. Stattdessen könnte die Eurozone in fünf Distrikte analog des Federal Reserve-Systems der USA eingeteilt werden. Dann gäbe es keinen Konflikt zwischen nationalem und EU-Recht mehr und die Maßnahmen der Zentralbank würden entpolitisiert.

Zudem sitzen im EZB-Rat, dem geldpolitischen Entscheidungsgremium der Eurozone, den sechs Mitgliedern des Direktoriums derzeit 19 nationale Notenbankpräsidenten gegenüber. Die Stimmrechte der nationalen Notenbanken sind zwar auf 18 begrenzt, aber trotzdem haben die Notenbankchefs in der Summe ein dreimal höheres Stimmgewicht als das gesamte Direktorium der EZB. Der Schwanz wackelt hier also mit dem Hund. Bei lediglich fünf Distrikten hätte das Direktorium hingegen eine kleine Stimmenmehrheit.

Vergleich mit anderen Zentralbanken

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Urteilsbegründung die Verhältnismäßigkeit der Anleihenkaufprogramme angemahnt. Bei einem Vergleich mit anderen relevanten Notenbanken würde man aber zum gegenteiligen Schluss kommen: Die EZB hätte deutlich mehr kaufen müssen. So hat sich die Bilanzsumme der Federal Reserve Bank (USA) von Januar 2007 bis April 2020 um 655% erhöht, während die Bilanzsumme der EZB nur um 366% gestiegen ist. Selbst ein Hort der Stabilität wie die Schweizerische Nationalbank hat im gleichen Zeitraum eine Aufblähung der Bilanzsumme um 705%, die Bank of England gar um 781%, zugelassen. Im Ergebnis hat die zögerliche Haltung der EZB während der Finanzkrise zu einer unnötigen Verschleppung der Krise beigetragen.

Die US-Notenbank konnte durch ihr beherztes Einschreiten schon von Ende 2015 bis Ende 2018 die Notenbankzinsen wieder um mehr als zwei Prozentpunkte erhöhen, während die EZB diese im März 2016 auf null Prozent senken und seitdem auf diesem historisch niedrigen Niveau belassen musste. Die viel kritisierte Nullzinspolitik ist v.a. auf die zögerliche Haltung in der Finanzkrise zurückzuführen. Legt man einen Vergleich mit anderen Notenbanken zugrunde, könnte man der EZB also allenfalls vorwerfen, zu wenig und zu spät gehandelt zu haben. Der Ankauf von Staatsanleihen zählt zu den klassischen Instrumenten der Geldpolitik. Auch die Bundesbank hat in den 1970er Jahren davon Gebrauch gemacht, um die langfristigen Zinsen zu senken.

Angriff auf die Unabhängigkeit

Die EZB soll laut BVerfG keine Wirtschaftspolitik betreiben. Wie Sebastian Dullien schon über das Urteil des BVerfG vom Juli 2017 über das „Public Sector Purchase Programme“ (PSPP) festgestellt hat, lassen die „ökonomischen Argumente der Richter in beträchtlichen Teilen intellektuell zu wünschen übrig“. Wie dann Geldpolitik möglich sein soll, bleibt fraglich, denn Geldpolitik ist in ihrer makroökonomischen Wirkungsweise zwingend immer auch Wirtschaftspolitik. Will man das verhindern, dürfte die Notenbank beispielsweise keine deutlichen Zinsänderungen mehr vornehmen, was eine massive Einschränkung ihrer Unabhängigkeit bedeuten würde.

Diese in Artikel 108 des EG-Vertrags garantierte Unabhängigkeit wird durch das Karlsruher Urteil zumindest infrage gestellt, das eine Überprüfung der Geldpolitik der Notenbank durch die Bundesregierung fordert. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass fast dreißig Jahre nach der von Deutschland gegen den Willen der meisten anderen Staaten durchgesetzten strikten Unabhängigkeit der EZB ausgerechnet das BVerfG diese in Frage stellt. Und warum sollten jetzt nicht auch z.B. die italienische oder die spanische Notenbank von nationalen Gerichten aufgefordert werden, die Verhältnismäßigkeit der Geldpolitik entsprechend den Krisenerfordernissen in diesen Ländern anzupassen?

Fazit

Die Unabhängigkeit von Notenbanken ist ein hohes Gut. Zahlreiche empirische Studien belegen, dass es eine positive Korrelation von Unabhängigkeit und Zielerreichung einer Notenbank gibt. D.h., je unabhängiger Notenbanken agieren können, desto geringer sind die durchschnittlichen Inflationsraten.

Vielleicht wird das Urteil aber auch zum Katalysator einer stärkeren fiskalischen Antwort auf die Krise werden. Eine solche wird nach der Schwächung der EZB durch das BVerfG dringender denn je benötigt. Denn in der Finanzkrise war die EZB die einzige EU-Institution, die schnell und effektiv handeln konnte. Wenn die EZB aber handlungsunfähig wird, dann bricht in der nächsten Krise die Eurozone entweder auseinander oder sie entwickelt sich notgedrungen zu einer echten Fiskalunion weiter.

Der Politikwissenschaftler Kishore Mahbubani aus Singapur hat es treffend formuliert: „Europe is brilliantly right because it has achieved zero prospect of war, an achievement no other region can match. Yet it is also brilliantly wrong because it has tried to achieve an impossible dream: monetary union without fiscal union.“

 

Prof. Dr. Karl Heinz Hausner

Professur für Wirtschaftswissenschaften, insbesondere Volkswirtschaftslehre, Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Bundeswehrverwaltung, Mannheim
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