09.10.2023

Passives Wahlrecht ab 16, Aufhebung von Altersgrenzen und Einführung der Stichwahl

Kommunalwahlrechtsnovelle 2023

Passives Wahlrecht ab 16, Aufhebung von Altersgrenzen und Einführung der Stichwahl

Kommunalwahlrechtsnovelle 2023

Ein Beitrag aus »Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg« | © emmi - Fotolia / RBV

Der Landtag von Baden-Württemberg hat am 29.03.2023 das Gesetz zur Änderung kommunalwahlrechtlicher und anderer Vorschriften beschlossen,1GBl. S. 137, Nr. 8 vom 14.04.2023. das wesentliche Änderungen des Kommunalwahlrechts beinhaltet. Schwerpunkt des Gesetzes ist die Umsetzung verschiedener, im Koalitionsvertrag zwischen Bündnis 90/Die Grünen und der CDU2Koalitionsvertrag Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg und CDU Baden-Württemberg 2021–2026 „Jetzt für morgen“, S. 94, 95. vereinbarter Änderungen für Bürgermeisterwahlen3Im Interesse der besseren Lesbarkeit wird nicht ausdrücklich nach geschlechtsspezifischen Personenbezeichnungen differenziert. und die Wahlen kommunaler Gremien sowie damit zusammenhängender Vorschriften. Daneben enthält das Gesetz einige weitere Änderungen, mit denen insbesondere die Organisation und Durchführung von Kommunalwahlen in verschiedenen Punkten vereinfacht oder gesetzliche Regelungen angepasst werden. In diesem Beitrag sollen die wesentlichen Neuerungen dargestellt und erläutert werden. 

I. Einleitung

Mit dem Gesetz vom 04.04.2023,4GBl. S. 137. das auch in der Öffentlichkeit durchaus mit Interesse wahrgenommen wurde, wurden einerseits die rechtlichen Grundlagen für die im Jahr 2024 stattfindenden Kommunalwahlen geschaffen. Zum anderen wurde das Bürgermeisterwahlrecht in einigen wesentlichen Punkten reformiert. Durch einige Änderungen des Regierungsentwurfs5LT-Drs. 17/4079.6LT-Drs. 17/4495. im parlamentarischen Verfahren wurden weitere Aspekte aus der kommunalen Praxis aufgegriffen.7LT-Drs. 17/4495. Kernstück der Novelle ist sicherlich die – bundesweit bislang einmalige – Absenkung des Mindestalters für die Wählbarkeit in kommunale Gremien von 18 auf 16 Jahre. Zudem erhalten nunmehr wohnungslose Menschen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der jeweiligen Körperschaft haben, das kommunale Wahl- und Stimmrecht.

Eine weitere Änderung betrifft die Absenkung des Mindestalters für die Wählbarkeit zum Bürgermeister auf 18 Jahre und das Entfallen der Höchstalters- und der Ruhestandsaltersgrenze für Bürgermeister. Neu ist auch, dass zukünftig beim zweiten Wahlgang von Bürgermeisterwahlen die bisherige Neuwahl durch eine Stichwahl ersetzt wird. Für ehemalige Beamte, Richter und Tarifbeschäftigte des Landes wird ein Rückübernahmeanspruch nach Ende der Amtszeit als Bürgermeister eingeführt.


Änderungen erfahren hat auch das Nebentätigkeitsrecht – hier wurde die Ablieferungspflicht für bestimmte Nebentätigkeiten aufgehoben und die Ablieferungsfreigrenze für Nebentätigkeiten deutlich angehoben. Den als bisweilen antiquiert empfundenen Begriff des „Amtsverwesers“ wird man zukünftig in den Gesetzen des Landes nicht mehr finden, er wird durch die Bezeichnungen „bestellter Bürgermeister“, „bestellter Landrat“ und „Amtsverwalter“ ersetzt.

Die Regelungen wurden – soweit geboten – auch auf die Landkreisebene sowie auf den Verband Region Stuttgart übertragen; dies wird an den entsprechenden Stellen der Darstellung angesprochen.

Das Gesetz ist in wesentlichen Teilen am 01.08.2023 in Kraft getreten.8Art. 12 Abs. 1 des Gesetzes vom 04.04.2023 (GBl. S. 137). Soweit hiervon abweichende Zeitpunkte des Inkrafttretens gelten – einzelne Änderungen sind bereits am 15.04.2023 bzw. am 01.05.2023 in Kraft getreten9Art. 12 Abs. 2 und 3 des Gesetzes vom 04.04.2023 (GBl. S. 137). – wird darauf bei der Erläuterung der konkreten Regelung eingegangen. Die Übergangsbestimmungen werden am Ende des Beitrags (VIII.) angesprochen.

II. Passives Wahlrecht ab 16 Jahren bei Gremienwahlen

Mit der Regelung zur Absenkung der Altersgrenze auf 16 Jahre beim passiven Wahlrecht betritt Baden-Württemberg gesetzgeberisches Neuland, da es eine vergleichbare Regelung in anderen Bundesländern bislang nicht gibt. Daher wurde diese Änderung im Gesetzgebungsverfahren und auch in der Öffentlichkeit durchaus kontrovers diskutiert.10Vgl. LT-Drs. 17/4079, S. 24 ff.; LT-Drs. 17/4341, S. 10 ff. (Anlage 3; Anhörung). Die Gesetzesbegründung des Regierungsentwurfs trägt dem durch eine sehr ausführliche verfassungsrechtliche Bewertung im Allgemeinen Teil Rechnung und geht dabei auch auf vorgebrachte Kritikpunkte ein.11LT-Drs. 17/4079, S. 16 ff. Zudem werden in der Einzelbegründung zu den maßgeblichen Vorschriften einzelne Aspekte wie etwa die gesetzlichen Regelungen zur Schulpflicht und zum Jugendschutz sowie Fragen einer etwaigen Haftung thematisiert.12LT-Drs. 17/4079, S. 38 ff.

1. Wählbarkeit

Bislang stand das passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen ebenso wie bei den Parlamentswahlen in Deutschland nur Personen zu, die das 18. Lebensjahr vollendet haben. Durch eine Änderung in § 28 Abs. 1 der Gemeindeordnung (GemO) werden nun alle wahlberechtigten Bürger der Gemeinde bei der Wahl in den Gemeinderat wählbar. Erfasst sind damit auch Bürger ab Vollendung des 16. bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs, die bislang vom passiven Wahlrecht ausgenommen waren, denen das aktive Wahlrecht aber bereits seit einer Gesetzesänderung im Jahr 201313Gesetz vom 16.04.2013, GBl. S. 55. zustand. Aus dem Umstand, dass das passive Wahlrecht nun ab dem 16. Lebensjahr eingeräumt wird, folgt, dass diese Bürger hinsichtlich der Wahl zum Gemeinderat in vollem Umfang handlungsfähig sind. Eine Zustimmung der Erziehungsberechtigten ist insoweit nicht erforderlich. Daher bedürfen Minderjährige insbesondere keiner Zustimmung der Erziehungsberechtigten für die Entscheidung, zur Wahl anzutreten und für die Abgabe der unwiderruflichen Erklärung der Zustimmung zur Aufnahme in den Wahlvorschlag (vgl. § 8 Abs. 1 Satz 4 des Kommunalwahlgesetzes (KomWG)).

Der Fall, dass die Erklärung der Zustimmung zur Aufnahme in den Wahlvorschlag durch einen Minderjährigen abgegeben wird, konnte bereits nach bisherigem Recht eintreten, da die für die Wählbarkeit erforderliche Volljährigkeit erst am Wahltag vorliegen musste. Erforderlich ist danach nun, dass der betreffende Bürger am Wahltag das 16. Lebensjahr vollendet haben muss, da dies insoweit der maßgebende Zeitpunkt ist. Daraus folgt, dass einer Bewerbung nicht die Tatsache entgegensteht, dass der Bewerber zum Zeitpunkt der Bewerbung noch 15 Jahre alt ist. Eine ausdrückliche Annahme der Wahl ist weder vorgeschrieben noch erforderlich, da die in den Gemeinderat gewählten Bürger, einschließlich der 16- und 17-Jährigen, zur Übernahme dieser ehrenamtlichen Tätigkeit verpflichtet sind (vgl. § 15 Abs. 1 GemO). Für die Wählbarkeit in den Ortschaftsrat gilt Entsprechendes (§ 69 Abs. 1 Satz 4 GemO), ebenso für die Wahl zum Bezirksbeirat (§ 65 Abs. 1 Satz 1 GemO).14LT-Drs. 17/4079, S. 44.

2. Mandatsausübung

Die Absenkung des passiven Wahlrechts auf die Vollendung des 16. Lebensjahrs hat zur Folge, dass auch nach bürgerlichem Recht nicht voll geschäftsfähige Personen (vgl. §§ 104 ff. BGB) zur Wahl antreten und Mitglieder des Gemeinderats werden können. Der neu eingefügte § 32 Abs. 2 a GemO stellt daher klar, dass die Gemeinderäte, die noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet haben, hinsichtlich der Ausübung ihres Mandats handlungsfähig sind, soweit sich nicht aus dem Gesetz etwas anderes ergibt. Minderjährige Gemeinderäte bedürfen daher im Rahmen der Wahrnehmung ihres Mandats grundsätzlich nicht der Zustimmung der Erziehungsberechtigten. Sie sind bei der Ausübung ihres Mandats ebenso frei wie volljährige Gemeinderäte (vgl. § 32 Abs. 3 GemO). Dies gilt insbesondere für Redebeiträge und Abstimmungen in den gemeindlichen Gremien sowie für den Beitritt zu einer oder den Austritt aus einer Fraktion i. S. v. § 32 a GemO.15Anders aber der Beitritt eines Minderjährigen zu einer Partei, wofür unverändert die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters erforderlich ist, vgl. LT-Drs. 17/4079, S. 40. Minderjährige Gemeinderäte sind auch berechtigt, Niederschriften über Gremiensitzungen zu unterzeichnen (§ 38 Abs. 2 Satz 1 GemO).16LT-Drs. 17/4079, S. 39. Für Ortschaftsräte, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, gilt § 32 Abs. 2 a GemO entsprechend (§ 72 Satz 1 GemO). In Bezug auf den Bezirksbeirat wird § 65 Abs. 1 GemO um eine Verweisung auf § 32 Abs. 2 a GemO ergänzt.

3. Einschränkungen bei der Mandatsausübung

Minderjährige Gremienmitglieder können indes nicht Mitglied des Aufsichtsrats einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) oder einer Aktiengesellschaft (AG) sein. Dies ergibt sich aus den bundesgesetzlichen Regelungen in § 52 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaft mit beschränkter Haftung und § 100 Abs. 1 Satz 1 des Aktiengesetzes. Ausgeschlossen ist auch die Mitgliedschaft Minderjähriger in den Verwaltungsräten der Sparkassen; diese Änderung in § 15 Abs. 4 des Sparkassengesetzes wurde nach Durchführung der Anhörung in den Gesetzentwurf aufgenommen.17Art. 7 des Gesetzes vom 04.04.2023, GBl. S. 137; LT-Drs. 17/4079, S. 27, 56, 57. Dagegen ist es möglich, dass minderjährige Gemeinderäte Mitglied im Verwaltungsrat einer selbstständigen Kommunalanstalt sein können.18LT-Drs. 17/4079, S. 40. Da die ehrenamtlichen Stellvertreter des Bürgermeisters als gesetzliche Vertreter der Gemeinde selbst geschäftsfähig sein müssen, wird durch § 48 Abs. 1 Satz 2 GemO nunmehr klargestellt, dass nur volljährige Gemeinderäte als Stellvertreter bestellt werden können.19LT-Drs. 17/4079, S. 43. Gleiches gilt in Bezug auf Ortsvorsteher und stellvertretende Ortsvorsteher (§ 71 Abs. 1 Satz 1 GemO).20LT-Drs. 17/4079, S. 45. Eine Mitgliedschaft in einem Jugendgemeinderat oder einer anderen Jugendvertretung (vgl. § 41 a GemO) und eine Mitgliedschaft im Gemeinderat schließen sich nicht aus, so dass eine gleichzeitige Mitgliedschaft in beiden Gremien möglich ist.21LT-Drs. 17/4079, S. 40.

4. Änderungen auch für Landkreise und den Verband Region Stuttgart

Das Gesetz sieht gleichlautende Regelungen in der Landkreisordnung (§ 23 Abs. 1, § 26 Abs. 2 a LKrO) und dem Gesetz über die Errichtung des Verbands Region Stuttgart (§ 10 Abs. 1 GVRS) vor.

5. Umgang mit der Neuregelung in der kommunalen Praxis

Wie die kommunale Praxis mit der Neuregelung umgehen wird, muss sich zeigen. Es bleibt zunächst abzuwarten, wie viele Gemeinderäte unter 18 Jahren den Sprung in die kommunalen Gremien tatsächlich schaffen werden. Zu bedenken ist dabei auch, dass die genannten einschränkenden Regelungen dann maximal für zwei Jahre gelten werden, denn mit Vollendung des 18. Lebensjahrs entfallen die Beschränkungen, und es bestehen keine Unterschiede zu einem bereits zum Zeitpunkt der Wahl volljährigen Gemeinderat. Weitere (gesetzliche) Regelungen zur Umsetzung des neuen Rechts in den Kommunen sind nicht erforderlich. Etwaige auftretende Problemstellungen können in der Praxis sachgerecht gelöst werden.22LT-Drs. 17/4579, zu Ziffer I. 1. Wichtig erscheint aber, dass die besondere Situation minderjähriger Gemeinderäte bei der Planung der Gremiensitzungen (insbesondere hinsichtlich der Terminierung und der Dauer der Sitzungen), aber auch der übrigen Gremienarbeit angemessen Berücksichtigung findet, um Konfliktfälle möglichst zu vermeiden.23Vgl. LT-Drs. 17/4079, S. 40. Hier sind sämtliche Beteiligten gefordert und dazu aufgerufen, das Ihrige zur reibungslosen Umsetzung der gesetzlichen Neuerung beizutragen. Möglicherweise kann Baden-Württemberg hier wieder einmal Vorbild für andere Bundesländer sein.

[…]

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in den Verwaltungsblättern Baden-Württemberg 9/2023, S. 353.

 

Ministerialrat Gerd Armbruster

Leiter des Referats Kommunales Verfassungsrecht und Dienstrecht beim Innenministerium Baden-Württemberg.
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  • 1
    GBl. S. 137, Nr. 8 vom 14.04.2023.
  • 2
    Koalitionsvertrag Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg und CDU Baden-Württemberg 2021–2026 „Jetzt für morgen“, S. 94, 95.
  • 3
    Im Interesse der besseren Lesbarkeit wird nicht ausdrücklich nach geschlechtsspezifischen Personenbezeichnungen differenziert.
  • 4
    GBl. S. 137.
  • 5
    LT-Drs. 17/4079.
  • 6
    LT-Drs. 17/4495.
  • 7
    LT-Drs. 17/4495.
  • 8
    Art. 12 Abs. 1 des Gesetzes vom 04.04.2023 (GBl. S. 137).
  • 9
    Art. 12 Abs. 2 und 3 des Gesetzes vom 04.04.2023 (GBl. S. 137).
  • 10
    Vgl. LT-Drs. 17/4079, S. 24 ff.; LT-Drs. 17/4341, S. 10 ff. (Anlage 3; Anhörung).
  • 11
    LT-Drs. 17/4079, S. 16 ff.
  • 12
    LT-Drs. 17/4079, S. 38 ff.
  • 13
    Gesetz vom 16.04.2013, GBl. S. 55.
  • 14
    LT-Drs. 17/4079, S. 44.
  • 15
    Anders aber der Beitritt eines Minderjährigen zu einer Partei, wofür unverändert die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters erforderlich ist, vgl. LT-Drs. 17/4079, S. 40.
  • 16
    LT-Drs. 17/4079, S. 39.
  • 17
    Art. 7 des Gesetzes vom 04.04.2023, GBl. S. 137; LT-Drs. 17/4079, S. 27, 56, 57.
  • 18
    LT-Drs. 17/4079, S. 40.
  • 19
    LT-Drs. 17/4079, S. 43.
  • 20
    LT-Drs. 17/4079, S. 45.
  • 21
    LT-Drs. 17/4079, S. 40.
  • 22
    LT-Drs. 17/4579, zu Ziffer I. 1.
  • 23
    Vgl. LT-Drs. 17/4079, S. 40.
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