10.06.2021

Open-Book-Klausuren

Muss ich dafür überhaupt lernen?

Open-Book-Klausuren

Muss ich dafür überhaupt lernen?

Open-Book-Klausuren: alle Hilfsmittel erlaubt? © BillionPhotos.com - stock.adobe.com
Open-Book-Klausuren: alle Hilfsmittel erlaubt? © BillionPhotos.com - stock.adobe.com

Klausuren auf Distanz

Die Corona-Krise verändert das Lernen, Lehren und Prüfen an den Universitäten.[1] Da Präsenzprüfungen im Sommersemester 2020 nur noch unter strengen Hygieneauflagen möglich waren, wurden in Köln alle Klausuren der Rechtswissenschaftlichen Fakultät außerhalb der Schwerpunktbereichsprüfung als E-Klausuren durchgeführt.

Die Klausuren wurden im Lernmanagementsystem der Universität zu Köln, ILIAS, online bereitgestellt. Die Studierenden konnten die Klausuraufgabe zuhause herunterladen, am PC bearbeiten und ihre Lösung im PDF-Format in ILIAS hochladen.[2] Die Fakultät hat sich gegen eine – technisch mögliche – Überwachung der Studierenden beim Anfertigen der Klausur entschieden; alle Klausuren wurden als Open-Book-Klausuren konzipiert. Hierzu konnte auf die wissenschaftliche Vorarbeit und praktische Erfahrung des Kompetenzzentrums für juristisches Lernen und Lehren (KjLL) zurückgegriffen werden.[3]

Da die Qualität der Lehre an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln einen besonderen Stellenwert einnimmt, wurde bereits 2011 in Kooperation mit dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft das KjLL gegründet. Das KjLL hat unter anderem die Aufgabe, den Diskurs über das juristische Studium zu fördern und neue Lehr- und Prüfungsformate zu entwickeln und zu erproben.[4] In diesem Rahmen wurden schon in den letzten Jahren Open-Book-Klausuren in Präsenz erprobt.


Open-Book-Klausuren: Alles erlaubt?

Die Ankündigung einer Open-Book-Klausur weckt bei Studierenden in der Regel mehr Verunsicherung als Begeisterung. Was erwartet uns? Wie wird sich die Prüfungsaufgabe von Aufgaben, die wir schon kennen, unterscheiden? Was genau ist in der Open-Book-Klausur erlaubt, was nicht? Studierende haben sich daran gewöhnt, dass in Klausuren praktisch alle Hilfsmittel außer bestimmten, zugelassenen Gesetzestexten verboten sind. Die Gesetzestexte dürfen überdies normalerweise keinerlei Anmerkungen oder Unterstreichungen enthalten.

In einer Open-Book-Klausur sind dagegen grundsätzlich alle Hilfsmittel erlaubt, die keine Kommunikation mit anderen ermöglichen. Die Bezeichnung Open-Book-Klausur bezieht sich auf die zugelassenen Hilfsmittel. Dieses Prüfungsformat ist grundsätzlich unabhängig davon, ob die Klausur in Präsenz oder auf Distanz geschrieben wird. In beiden Fällen ist es möglich, Quellen als Hilfsmittel zuzulassen, sodass man von einer Open-Book-Klausur sprechen kann.

In einer Open-Book-Klausur darf der Gesetzestext Unterstreichungen und Kommentare enthalten, auch Verweise auf andere Paragraphen dürfen notiert werden. Zusätzlich dürfen Studierende Kommentare, Gerichtsentscheidungen, Lehrbücher oder Skripten und sogar die eigenen Mitschriften aus der Vorlesung verwenden. Bei einer Open-Book-Klausur in Präsenz wird die Grenze in der Regel bei Onlinequellen gezogen, weil beim Zugriff auf das Internet nicht mehr kontrolliert werden kann, ob die Prüflinge mit anderen kommunizieren. Bei einer E-Klausur auf Distanz ist dagegen auch ein Zugriff auf Onlinedatenbanken möglich und erlaubt.

Verboten ist dagegen auch bei einer Open-Book-Klausur die Zusammenarbeit mit anderen. Das betrifft nicht nur Gespräche vor Ort, sondern auch die virtuelle Kommunikation per E-Mail, Chat, SMS oder Telefon. Eine Klausur soll immer eine Einzelleistung sein. Die Zusammenarbeit oder Inanspruchnahme von Hilfe durch eine andere Person ist ein Täuschungsversuch. Studierende, die sich gemeinsam auf eine Prüfung vorbereiten und vielleicht sogar gemeinsam Materialien erstellen, sind manchmal besorgt, dass ähnliche Klausurbearbeitungen als Täuschungsversuch gewertet werden könnten. Dass eine gemeinsame Vorbereitung zu identischen oder fast identischen Klausur-lösungen führt, ist aber sehr unwahrscheinlich. In der Regel unterscheiden sich die schriftlichen Ausarbeitungen von Klausuren trotz gemeinsamer Vorbereitung recht deutlich. Solche Sorgen sollten Studierende nicht vom gemeinsamen Lernen abhalten.

Eine weitere Befürchtung von Studierenden ist, dass ein wörtliches Zitat aus einer zugelassenen Quelle als Plagiat eingestuft werden könnte. Diese Befürchtung geht am Kern des Problems vorbei. Wörtliche Zitate sollte man in einer Klausur aus einem anderen Grund vermeiden: Die Übernahme fremder Formulierungen ist keine Leistung, für die man Punkte erwarten kann. Stattdessen empfiehlt es sich, Aussagen sinngemäß zu übernehmen. Die Umformulierung einer Textpassage in eigene Worte ist eine Transferleistung, die zeigt, ob der Aussagegehalt der Passage verstanden wurde.

Fußnoten sind in einer Klausur grundsätzlich unangebracht, selbst wenn Quellen verwendet wurden. Anders als in einer Haus- oder Seminararbeit geht es in der Klausur nicht um eine möglichst umfassende Aufarbeitung von Streitständen und Entwicklungslinien aus dem Schrifttum. Es geht darum, in begrenzter Zeit eine vertretbare Lösung für einen konkreten Fall zu finden und zu begründen.

„Dann kann ich ja aufhören zu lernen!“ – Vorbereitung

Während einige bei Ankündigung einer Open-Book-Klausur verunsichert sind, lehnen sich andere zurück. „Dann kann ich ja aufhören zu lernen, schließlich kann ich in der Klausur alles nachlesen“, lautet die Devise. Das ist ein Irrtum! Eine Open-Book-Klausur ist natürlich nicht auf die Reproduktion auswendig gelernten Wissens gerichtet. Das könnte man in der Tat in der Klausursituation nachschlagen. Eine solche Prüfung wäre sinnlos. Wofür gibt es also die Punkte in einer Open-Book-Klausur? Eine Klausur soll zeigen, dass die Studierenden den Stoff verstanden haben. Das betrifft vor allem das System, die Struktur und die Grundwertungen. Auswendiglernen ist grundsätzlich, also auch bei traditionellen Klausurformaten, eine Lernstrategie, die nur in begrenztem Umfang Erfolg verspricht. In einer traditionellen Klausur kann es allerdings notwendig sein, auswendig gelernte Definitionen zu präsentieren. Dieses Problem entfällt bei der Open-Book-Klausur: Eine Definition kann man rasch nachschlagen. Das bedeutet aber auch, dass man für diese Definition keine Punkte erwarten kann.

Bei Fragen, die im Schrifttum oder zwischen Rechtsprechung und Lehre umstritten sind, geht es nicht darum, auswendig gelernte Streitstände und Argumente zu reproduzieren. Verständnis beweisen Prüflinge, die erklären können, warum die jeweilige Frage überhaupt umstritten ist. Dafür muss man weder den Streitstand kennen noch wissen, dass es überhaupt verschiedene Ansichten zu der Frage gibt.

Zentrale Argumente zur Entscheidung von Problemen der Rechtsanwendung können Studierende – entgegen einer verbreiteten Selbsteinschätzung – in aller Regel selbst auch in kurzer Zeit entwickeln. Dazu benötigt man kein auswendig gelerntes Wissen, sondern ein Verständnis für Sprache, System und Zweck des Gesetzes und für die Wertungen, die einer Regelung zugrunde liegen. Das bedeutet für die Vorbereitung auf eine Open-Book-Klausur: Auswendiglernen lohnt sich nicht, aber trotzdem gibt es einiges zu tun. Die Methoden der Gesetzesauslegung sind der Schlüssel zur erfolgreichen Rechtsanwendung (auch) in der Klausur. Studierende sollten verstehen, warum bestimmte Fragen streitig sind und sich mit den zentralen Argumenten zu einem Streit auseinandersetzen.

Eine gute Argumentation ist mehr als die Aufzählung auswendig gelernter oder nachgeschlagener Argumente. Die Argumentation sollte ausgewogen sein, und die Argumente müssen zueinander und zum Gesetz in Bezug gesetzt werden. Auslegung und Argumentation lassen sich gut in einer Lerngruppe trainieren. Auch die Fallbearbeitung kann und sollte man üben, am besten unter dem Zeitdruck einer Klausursituation.

Die Arbeit mit Quellen in der Klausur erfordert ebenfalls Übung. Die Bearbeitungszeit ist begrenzt und Zeit, die zum Blättern oder nachlesen eingesetzt wird, steht nicht für die eigentliche Fallbearbeitung zur Verfügung. Je mehr Quellen zum Einsatz kommen, desto komplizierter wird die Recherche im Ernstfall. Deshalb sollten Studierende die Hilfsmittel, die sie in der Klausur einsetzen möchten, vorab sorgfältig auswählen und dann auch zur Klausurvorbereitung nutzen.

Zum Nachschlagen von Definitionen oder Streitständen eignen sich vor allem Kommentare. Ein Lehrbuch kann hilfreich sein, wenn man schon im Vorfeld aktiv damit gelernt und wichtige Passagen markiert oder kommentiert hat. Dann kann man in der Klausur an den eigenen, individuellen Lernprozess anknüpfen. Auch Gerichtsentscheidungen können geeignete Hilfsmittel für die Fallbearbeitung sein. Sie bieten oft eine präzise Darstellung des Problems und eine übersichtliche Aufbereitung des Streitstands. Besondere Vorsicht ist beim Einsatz eigener Mitschriften in der Klausur geboten. Der Rückgriff auf eine in der Vorlesung besprochene Falllösung kann beispielsweise dazu führen, dass man am Klausursachverhalt „vorbei“ schreibt.

Funktionen von Prüfungen

Prüfungen haben verschiedene Funktionen, die sich in drei Kategorien einteilen lassen: Herrschafts- und Sozialisierungsfunktionen, didaktische Funktionen und Rekrutierungsfunktionen. Zu den didaktischen Funktionen zählen die Motivation der Studierenden, etwas zu lernen, Diagnose von Lernvoraussetzungen und Orientierung darüber, was gelernt werden soll.[5] Die Zulassung von Vorlesungsmitschriften und eventuell bereitgestellten Skripten kann die Vernetzung von Lehre (Vorlesung) und Prüfung (Klausur) verbessern. Dadurch kann die Qualität der Prüfung gesteigert werden, denn diese sollte einen Rückschluss darauf erlauben, ob die Prüflinge erfolgreich gelernt haben.[6]

Im Vergleich zu traditionellen Prüfungsformaten bietet die Open-Book-Klausur stärkere Anreize, Verständnis und Anwendung des Stoffs zu lernen. Die reine Wissensabfrage, die in der gängigen Lernzieltaxonomie ganz unten steht,[7] ist in einer Open Book-Klausur wenig zielführend, weil die Prüflinge einfach nachsehen können.

Die Klausur soll eine berufliche Alltagssituation für Juristinnen und Juristen simulieren: Die Lösung eines Falls in begrenzter Zeit unter Zuhilfenahme von Kommentaren, Rechtsprechung und Datenbanken. Es kommt weniger darauf an, was die Studierenden wissen, und mehr darauf, wie sie ihr Wissen anwenden. Die typische juristische Fallklausur ist hierfür relativ gut geeignet. Zusätzlich sollte bei Fragestellung und Bewertung ein Schwerpunkt auf Problemverständnis und Argumentation liegen. Schwächen bei der Formulierung der Lösung und auch Wissenslücken sollten weniger stark gewichtet werden.

Open-Book-Klausuren sind nicht per se leichter als traditionelle Prüfungsformate und sollten daher auch nicht per se strenger bewertet werden. Studierende und Lehrende müssen den Fokus von der Wissensreproduktion auf die Wissensverarbeitung verlagern. Der Nutzen von Quellen in der Klausur sollte nicht überbewertet werden. Für eine gründliche Recherche fehlt in der Prüfungssituation die Zeit und den Wissenstransfer müssen die Prüflinge immer selbst leisten. Die zielgerichtete Verwendung von Quellen verlangt den Studierenden sogar zusätzliche Kompetenzen ab, die sie im späteren Berufsalltag auch benötigen werden.

Insofern kann die Open-Book-Klausur ein Schritt zu realitätsnäheren Prüfungen im juristischen Studium sein. Nichts spricht dagegen, auch bei Präsenzklausuren die Nutzung von Quellen zuzulassen, sofern dadurch keine Kommunikation mit anderen ermöglicht wird.

 

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag entstammt aus dem »Der Wirtschaftsführer für junge Juristen«.

Um den Wirtschaftsführer auch unterwegs bequem lesen zu können, finden Sie hier unsere »Wirtschaftsführer-App«.

[1] Der Beitrag beruht auf Vorarbeiten aus dem KjLL; unter anderem den nachfolgend zitierten Handreichungen, an denen auch Prof. Dr. Dr. h. c. Barbara Dauner-Lieb, Pauline Riecke und Jens Schumacher mitgewirkt haben.

[2] Details abrufbar unter https://jura.uni-koeln.de/fakultaet/zentrale-einrichtungen/pruefungsamt/klausuren-hausarbeiten-seminare/e-klausuren (zuletzt abgerufen am 09.06.2021).

[3] Handreichungen des KjLL zum Umgang mit Open-Book-Klausuren sind online abrufbar unter https://kjll.jura.uni-koeln.de/mediengestuetztes-lernen-und-lehren/lernen-in-der-krise (für Studierende) und https://kjll.jura.uni-koeln.de/mediengestuetztes-lernen-und-lehren/lehren-in-der-krise (für Lehrende; beide zuletzt abgerufen am 09.06.2021). Diese Handreichungen sind auch Grundlage des vorliegenden Beitrags.

[4] Nähere Informationen zu Aufgaben und Zielen des KjLL unter https://kjll.jura.uni-koeln.de/ueber-uns/aufgaben-und-ziele (zuletzt abgerufen am 09.06.2021).

[5] Kaulbach/Riecke, Die juristische Prüfung auf dem Prüfstand, NJW 2017, 2805, 2806 f., m. w. Nachw.

[6] Kaulbach/Riecke, NJW 2017, 2805, 2807, m. w. Nachw.

[7] Kaulbach, Expertendilemma Vollständigkeit: Stoffauswahl für eine Vertiefungsvorlesung im Familien- und Erbrecht, ZDRW 2018, 232, m. w. Nachw.

 

Dr. Ann-Marie Kaulbach

Geschäftsführerin des Kompetenzzentrums für juristisches Lernen und Lehren an der Universität zu Köln
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