16.06.2021

Ist der Föderalismus in Deutschland überholt?

Vor- und Nachteile des föderalen Systems

Ist der Föderalismus in Deutschland überholt?

Vor- und Nachteile des föderalen Systems

Der Föderalismus in Deutschland hat eine widersprüchliche Geschichte. ©Hero - stock.adobe.com
Der Föderalismus in Deutschland hat eine widersprüchliche Geschichte. ©Hero - stock.adobe.com

Immer häufiger wird der Föderalismus in Deutschland für politisch-administratives Systemversagen verantwortlich gemacht. Zuletzt galt das beim Umgang mit der Corona-Pandemie: Nicht nur von Mitgliedern der Bundesregierung, sondern auch von Ministerpräsidenten der Bundesländer wird das nicht bundesweit einheitliche Vorgehen kritisiert. Gerade der Ministerpräsident des traditionell überaus selbstbewussten Freistaats Bayern pocht immer wieder auf einheitliche Maßnahmen. Und das, obwohl die Infektionslage regional recht unterschiedlich ist.[1]

Breite Kritik aus Bevölkerung und Medien muss der Föderalismus seit Jahrzehnten in der Schulpolitik einstecken. Zwar geschieht vieles in enger Abstimmung unter den Kultusministern und so werden Finanzierungsangebote des Bundes zu konformen Schritten gezwungen. Dennoch wird der mangelnde Fortschritt im Bildungswesen regelmäßig dem Föderalismus angekreidet. So als wäre alles besser, wenn es nur bundesweit gleich mangelhaft wäre. Der Gedanke des Wettbewerbsföderalismus ist weitgehend aus der Debatte verschwunden.

Dass Landtagswahlen in der öffentlichen Wahrnehmung als weniger wichtig – ähnlich wie Meinungsumfragen bei vielen nur noch als bundespolitische Zwischenbilanz – gelten, ist ein weiteres Indiz dafür, dass der Föderalismus in Deutschland seine Blütezeit lange hinter sich hat.


Andererseits wird deutscher Föderalismus gerne als Exportschlager gelobt. Besonders dezidiert hat zuletzt der Historiker Michael Wolffsohn[2] föderale Strukturen als Schlüssel zur Friedenssicherung in Selbstbestimmung empfohlen: für Palästina und andere Weltregionen wohlgemerkt.

Ist Deutschland ein Föderalstaat ohne Föderalisten geworden?[3]

Der Föderalismus in Deutschland hat eine widersprüchliche Geschichte. In seiner aktuellen Form war er eine Bedingung der Alliierten für erste Schritte in die Souveränität nach 1945. Nicht nach dem Modell der föderalen Vereinigten Staaten, sondern zur Verhinderung einer starken Zentralmacht sollte die zweite deutsche Demokratie föderal organisiert werden.[4] Dabei waren bereits die Wurzeln des deutschen Staatswesens dezentral, quasi föderal angelegt.[5] Macht und Einfluss der deutschen Fürsten im Heiligen Römischen Reich gründeten nicht nur auf regionalem Grundbesitz und daraus abgeleiteten Rechtspositionen, sondern zuerst auf ihre Rolle als Vertreter ihres Stammes.[6] So konnten sie ihre Position über die Auflösung des alten Reichs bis in die Neuzeit hinein retten. Preußen als Führungsmacht des Deutschen Reichs[7] schwächte zwar die Autonomie der süddeutschen Staaten, zur Durchsetzung eines Zentralstaats bedurfte es aber der Naziherrschaft – oder im Ostteil Deutschlands eines kommunistischen Regimes.

In der heutigen Debatte werden historische Aspekte weitgehend ausgeblendet. Außer es geht um eine Gebietsreform. Eine Neugliederung des Bundesgebiets[8] steht indes nicht auf der politischen Tagesordnung; erheblicher Widerstand großer Teile der Bevölkerung wäre zu erwarten. Es scheint dabei seit 1952 keine Änderung der öffentlichen Meinung zu geben. Schon damals war der bisher einzige Schritt zur Herstellung größerer, leistungsfähiger Bundesländer nur mit erheblichen wahltaktischen Anstrengungen durchsetzbar.[9] Bis zum – gescheiterten – zweiten Versuch dauerte es immerhin 44 Jahre.[10] Fast könnte man meinen, die meisten Bundesbürger schätzen ihre Länderautonomie immer erst dann, wenn man sie ihnen „wegnehmen“ will.

Gibt das nicht Anlass dazu, den Föderalismus in Deutschland grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen?

Dabei ist neben der verbreiteten gesellschaftlichen Kritik am föderalen System vor allem zu berücksichtigen, dass sich seit Gründung der Bundesrepublik die Rahmenbedingungen grundlegend geändert haben. Seit dem Beitritt der Bundesrepublik zu den europäischen Gemeinschaften[11] ist aus deren zunächst begrenzten Befugnissen ein dominierender Faktor auf vielen Feldern der Politik geworden. Nach Schätzungen geht heute etwa 80 Prozent der Rechtssetzung auf Entscheidungen der Europäischen Union zurück: zu einem kleineren Teil durch in den Mitgliedsstaaten unmittelbar geltende EU‑Normen, überwiegend durch Vorgaben für die nationale Gesetzgebung. Stützte sich die Europäische Union zur Umsetzung ihrer Entscheidungen lange fast ausnahmslos auf die Administration ihrer Mitgliedsstaaten, werden für immer mehr Aktionsfelder EU‑Behörden[12] – in unterschiedlicher Bezeichnung – eingerichtet, oft auf Initiative von Mitgliedsstaaten. Immer häufiger zeigt sich die EU in der Rolle des unverzichtbaren Koordinators auch auf Politikfeldern, auf denen ihr vertragliche Zuständigkeiten eigentlich fehlen.[13] Ferner wachsen Einfluss und Bedeutung der europäischen Rechtsprechung.

Die europäische politische Funktionsebene überlagert in Deutschland eine sehr ausdifferenzierte Politik- und Verwaltungsstruktur. Sie ist geprägt von folgenden Elementen:

  • dem Bund als dominierendem Politikgestalter mit weitgehenden legislativen Kompetenzen, kaum eingeschränkter Finanzmacht,[14] jedoch wenigen administrativen Zuständigkeiten
  • den Bundesländern: Mit nur noch wenigen verbliebenen Gesetzgebungskompetenzen und geringen finanziellen Spielräumen sind sie nicht nur formal Verwalter im Auftrag des Bundes. Auch politisch stehen sie unter bundespolitischem Konformitätsdruck und wirtschaftlicher Abhängigkeit.[15]
  • der kommunalen Ebene – Städte, Gemeinden und Landkreise. Deren Selbstverwaltungsrecht ist de iure vergleichsweise ausgeprägt. Faktisch hängt die Kommunalautonomie entscheidend von der Finanzkraft der einzelnen Körperschaft ab. Sie wird von der örtlichen Wirtschaftslage, aber auch wesentlich von landespolitischen Entscheidungen und den unterschiedlichen kommunalen Verwaltungsstrukturen bestimmt.[16]

Vier Ebenen also, auf denen politisch entschieden und administrativ gehandelt wird. Schon rechtlich sind ihre Zuständigkeiten nicht klar abgegrenzt. Zwar unternahmen Bund und Länder mit der Föderalismusreform 2006 einen Versuch, ihre Gesetzgebungskompetenzen zu entflechten. Zu einer aktiveren Rolle der Bundesländer als Gesetzgeber hat das aber nicht geführt. Die zweite Stufe der Föderalismusreform 2009 konnte eine grundlegende Neuordnung der Finanzbeziehungen im Bundesstaat nicht bewirken. Im Gegenteil: 2017 wurde der bundesstaatliche Finanzausgleich neu geregelt und dabei die Kompetenzen des Bundes zu Finanzhilfen für Investitionen der Länder und Kommunen ausgebaut, damit die Länder noch stärker an den „goldenen Zügel“ genommen. Die Bundeskompetenz, Investitionsvorhaben von Ländern und Kommunen mitzufinanzieren, ist nämlich um weitreichende Steuerungs- und Kontrollrechte des Bundes ergänzt worden. Das gilt auch für eine der letzten politischen Kernkompetenzen der Länder, die Bildungsinfrastruktur.[17]

Wer trägt die Verantwortung?

Immer wieder zeigt sich das Unvermeidliche dieses komplexen Netzwerks: Kaum jemand durchschaut noch, wer wofür politische und administrative Verantwortung trägt. Wer als Bürger und Wähler einen kompetenten Ansprechpartner für ein politisches Anliegen sucht, hat es schwer. Oft ist die Kommunalverwaltung, der Bürgermeister, der – wörtlich – naheliegende Ansprechpartner. Er muss aber oft darauf hinweisen, dass ihm dafür die Kompetenzen fehlen oder er zumindest nicht allein handeln kann. Ebenso verweisen Abgeordnete und Minister oft auf Landes-, Bundes- oder EU-Zuständigkeiten, die ihnen – angeblich – die Hände binden. Herauszufinden, wer für eine konkrete Maßnahme verantwortlich ist, erscheint im Zuständigkeitsgeflecht der Bundesrepublik oft aussichtslos. Da kann schon gelegentlich der Gedanke aufkommen, das sei so gewollt: organisierte Verantwortungslosigkeit. Und das trägt nicht wenig zu der oft beklagten und verbreiteten Politikverdrossenheit bei.[18]

Die in der Theorie meist genannten Vorteile des Föderalismus,

  • die Bürger regional angemessen zu repräsentieren und als Repräsentant direkt erreichbar zu sein,
  • den regional unterschiedlichen Lebensverhältnissen angepasste Entscheidungen zu treffen,
  • eine mit den regionalen Verhältnissen vertraute Verwaltung zu gewährleisten,
  • Machtmissbrauch durch Dezentralisierung zu erschweren,

können nicht allein durch ein föderales System erreicht werden. Auch werden sie vom bestehenden System heute nur unzureichend realisiert. Das zeigen folgende Argumente:

  • Repräsentanz: Die demokratisch angemessene Repräsentanz der Bürger in politischen Entscheidungsgremien ist vorrangig Aufgabe des Wahlrechts. Derzeit haben wir – im internationalen Vergleich – eine Überrepräsentanz, die vor allem durch große Parlamente und die Kumulation von Vertretungsgremien auf vier Ebenen zustande kommt.
  • Regional angepasste Entscheidungen: Die öffentliche Meinung und die Entwicklung der Verfassungsrealität drängen die Bundesländer dazu, auf unterschiedliche regionale Verhältnisse bei ihren Entscheidungen möglichst nicht einzugehen, sondern ihre Angelegenheiten bundesweit einheitlich zu regeln, auf „Sonderwege“ zu verzichten. Regionale Besonderheiten werden dadurch in der Landespolitik immer weniger berücksichtigt. Ein Wettbewerb unterschiedlicher Politiken bleibt aus; einheitlich ist meist wichtiger als besser.
  • Verwaltungskompetenz: Zentrale politische Entscheidungen bedingen keine zentralistische Verwaltungsstruktur. Sie können auch dezentral umgesetzt werden. Regionalen Verwaltungsbehörden können Ermessens- und Ausgestaltungsspielräume eingeräumt werden. Das gilt vor allem, wenn die Möglichkeiten der Digitalisierung konsequent genutzt werden.
  • Machtmissbrauch: Die politische und legislative Schwäche der Bundesländer schaltet sie als Kontrollinstanz weitgehend aus. Andere Institutionen wie das Bundesverfassungsgericht und die Medien, aber auch die Erosion der großen Parteien[19] und die Etablierung eines Vielparteiensystems lassen den föderalen Aspekt der Dezentralisierung von Macht in Deutschland eher in den Hintergrund treten.

Eine Föderalismusreform, die diesen Namen verdient, sollte daher nicht davor zurückschrecken, das föderale System grundlegend in Frage zu stellen. Wenn eine politische Entscheidungsebene verzichtbar ist und die Straffung des politischen Systems Vorteile verspricht, ist vor allem die Rolle der Bundesländer in den Blick zu nehmen. Der Bund als alleinige nationale politische Entscheidungsinstanz könnte sich auf eine dezentrale Verwaltungsstruktur stützen. Diese rein administrative Ebene, ohne politisches Vertretungsorgan, könnte gestrafft und durch moderne digitale Instrumente effizienter werden.

Gleichzeitig wäre die kommunale Ebene zu stärken, die Selbstverwaltung auf örtlicher Ebene aufzuwerten. Das betrifft vor allem eine hinsichtlich der zunehmenden Aufgaben angemessene Finanzierung und administrative Ausstattung. Gebietsreformen sind dabei nicht die zwingende Folge. Die Erfahrung zeigt eher das Gegenteil: Dass größere kommunale Körperschaften die in sie gesetzten Erwartungen einer Effizienzsteigerung nicht erfüllen konnten, die Identifikation der Bürger mit ihrer Kommune aber erheblich schwindet.[20]

Die Bundesländer haben jedoch in Artikel 79 Absatz 3 eine Bestandsgarantie, solange das Grundgesetz besteht. Die Eigenstaatlichkeit der Bundesländer könnte nach herrschender Meinung nur durch eine neue Verfassung aufgehoben werden. Sind wir also im föderalen System gefangen? Sechzehn Bundesstaaten in der Rolle von Verwaltungsbezirken, deren Eigenstaatlichkeit nur noch als Hülle besteht, deren Verfassungsorgane aber leeres Stroh dreschen: Ist das die Zukunft unseres Föderalismus?

 

[1] Im Umgang mit der Corona-Pandemie sprechen sich auch 68 % der Deutschen für einheitliche Regelungen aus. ARD DeutschlandTrend 16.10.2020.

[2] Zum Weltfrieden, München 2015; Die Welt, 21. Mai 2016.

[3] Schon unter Zeitgenossen galt die Weimarer Republik als eine „Demokratie ohne Demokraten“.

[4] Mit Unterstützung der Zentralstaaten Großbritannien und Frankreich.

[5] Im Gegensatz zu den meisten anderen, schon früh zum Zentralstaat tendierenden europäischen Staaten, u.a. England, Frankreich, Spanien oder Russland.

[6] Die weltlichen Kurfürsten galten stets auch als „Stammesfürsten“.

[7] Das Deutsche Reich von 1871 sollte zunächst, wie der Fürstenbund von 1815, Deutscher Bund heißen.

[8] Artikel 29 Grundgesetz.

[9] Baden-Württemberg.

[10] Berlin – Brandenburg 1996.

[11] Gründungsmitglied der Montanunion 1951, der Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und Euratom 1957, ab 1993 Europäische Gemeinschaft.

[12] zum Beispiel Europäische Zentralbank 1998, Europäischer Datenschutzbeauftragter 2004, Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung 2010, Europäischer Auswärtiger Dienst 2011.

[13] Weniger erfolgreich bisher: Roadmap to a social Europe, 2013; überwiegend anerkannt dagegen die Europäische Impfstoffstrategie, vor allem die gemeinsame Beschaffung von Impfstoff.

[14] Der Bund hat rechtlich und ökonomisch den mit Abstand größten haushalts- und finanzpolitischen Gestaltungsspielraum. Er wird derzeit durch die Nullzinspolitik der Notenbank noch erheblich vergrößert. Dagegen sind in den Bundesländern verfassungsrechtlich sog. Schuldenbremsen und in den Kommunen das restriktive Haushaltsrecht zu beachten.

[15] Etwa von der Steuerpolitik oder Förderprogrammen des Bundes.

[16] Die Kommunalverfassung fällt in die Regelungskompetenz der Länder. Sie haben in den 1950er Jahren unterschiedliche Verfassungsmodelle eingeführt, die sich im Wesentlichen bis heute gehalten haben.

[17] s.a. Johannes Hellermann, Universität Bielefeld.

[18] Ein Indikator: Die Beteiligung an Bundestagswahlen sank von 91,1 % (Höchststand 1971) auf 70,8 % (2009); zuletzt 76,2 % (2017). Die Wahlbeteiligung in den Ländern und Kommunen liegt deutlich darunter.

[19] Aktuell scheint die Bildung einer Bundesregierung aus – CDU und CSU zusammen gerechnet – weniger als drei Parteien kaum noch denkbar.

[20] U.a. Felix Rösel, Gibt es Einspareffekte durch Kreisgebietsreformen? Ifo München, 2016; Daniel Plogmann, Die gescheiterten Kreisgebietsreformen, ZLVR 1/2019.

 

Harald Burkhart

Verwaltungsdirektor a.D., bis 2019 Referent bei einem kommunalen Landesverband
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