27.04.2020

Corona-Krise: Schlägt jetzt die Stunde der Online-Gerichte?

Wie der Technologieansatz den Zugang zur Justiz erleichtern kann

Corona-Krise: Schlägt jetzt die Stunde der Online-Gerichte?

Wie der Technologieansatz den Zugang zur Justiz erleichtern kann

Was ist das Wesen eines Gerichts? | © Maksim Kabakou - stock.adobe.com
Was ist das Wesen eines Gerichts? | © Maksim Kabakou - stock.adobe.com
Gerichtsverhandlungen finden angesichts der Corona-Krise seltener statt. Die Krise führt uns täglich die Verwundbarkeit der Systeme, auch der Justiz vor Augen. Werden Online-Gerichte nun wahrscheinlicher?

Aktuelle Fragestellungen

Der Autor Richard Susskind, der für sein Thema „Zukunft von Rechtsdienstleistungen“ in Fachkreisen und in der allgemeinen Presse international bekannt ist, schreibt über Online-Gerichte, die dazu bestimmt sind, Rechtsstreitigkeiten in ihrem Wesen zu verändern. Dabei stehen folgende Fragen im Vordergrund: Ist das Gericht eine Dienstleistung oder ein Ort? Ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, dass Streitigkeiten von Richtern gelöst werden sollten, die online und nicht in Gerichtssäle arbeiten? Kann das globale Problem des Zugangs zur Justiz durch Technologieeinsatz abgemildert oder gar gelöst werden? Der Autor zeigt in seinem Werk „Online Courts and the Future of Justice“, wie Rechtsstreitigkeiten durch Technologie transformiert werden und schlägt eine Lösung für das globale Access to Justice-Problem vor.

Was ist das Wesen eines Gerichts?

Im ersten Teil wird gefragt, ob das Gericht eine Dienstleistung oder ein Ort sein müsse. Dazu wird festgestellt, dass Gerichte weiterhin wichtig sind, dass aber ein Wandel vollzogen werden müsse. Begründet wird dies mit technologischem Fortschritt, ergebnisorientierten Denken und dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz durch allgemeinen Zugang zu Recht und Gesetz. Bei der Verwirklichung dieses Anspruches gebe es weltweite Ungerechtigkeiten:

In den meisten fortgeschrittenen Rechtsordnungen dauere die Beilegung von Zivilstreitigkeiten zu lange, koste zu viel, und das Verfahren sei nicht nur veraltet, sondern für gewöhnliche Sterbliche unverständlich. Die Gerichte einiger Gerichtsbarkeiten arbeiteten unter erschütternden Rückständen – 100 Millionen Fälle in Brasilien, 30 Millionen in Indien. Auf der anderen Seite hätten mehr Menschen auf der Welt heute Internetzugang als Zugang zur Justiz. Susskind zeigt auf der Basis von 40 Jahren Geschichte in Justiz und Rechtswissenschaft, wie die bemerkenswerte Reichweite des Internets (mehr als die Hälfte der Menschheit ist inzwischen online) genutzt werden könnte, um Menschen dabei zu helfen, ihre Rechte zu verstehen und durchzusetzen.


Was bringt ein Online-Gericht?

Der zweite Teil stellt die Vision des Autors von einem Modell eines Online-Gerichts vor, das in seiner Ausformung nicht von einer bestimmten nationalen Prozessordnung bestimmt wird. Diese besteht aus einem technischen und personellen Rahmen, einer organisierten Online-Führung und hat als Vorgabe, dass Streitigkeiten zu schlichten seien und nicht einfach Rechtsfälle zu lösen. Der Teil wird durch Fallstudien aus bereits bestehenden Ansätzen abgeschlossen.

Online-Gerichte bieten aus Sicht des Autors die Möglichkeit für „Online-Urteile“ , also die Lösung von Rechtsfällen durch menschliche Richter, die nicht in physischen Gerichtssälen anwesend sind. Stattdessen werden Beweise und Argumente über Online-Plattformen eingereicht, über die auch die Richter ihre Entscheidungen treffen. Online-Gerichte nutzten auch Technologien, die es den Gerichten ermöglichen, mehr als nur Gerichtsentscheidungen zu treffen. Diese „erweiterten Gerichte“ böten Werkzeuge, die den Nutzern helfen, das relevante Recht und die verfügbaren Optionen zu verstehen, Argumente zu formulieren und Beweise zusammenzustellen. Sie ermöglichten zudem außergerichtliche Vergleiche wie Verhandlungen und frühzeitige neutrale Bewertungen, nicht als Alternative zum öffentlichen Gerichtssystem, sondern als Teil davon.

Chancen und Risikofaktoren

Im dritten Teil werden Gegenargumente zur Visionsverwirklichung erörtert. Der Widerspruch einer Partei gegen eine Online-Schlichtung, mangelnde Transparenz, das Gebot des fairen Verfahrens bei nicht bestehender technologischer „Waffengleichheit“ sowie mangelnde technische Infrastruktur des öffentlichen Sektors könnten entgegenstehen. Der vierte Teil spekuliert auf die Zukunft und stellt einer globalen Herausforderung folgende Ideen und Hilfsmittel gegenüber: Telepräsenz, Augmented Reality, Virtual Reality, Künstliche Intelligenz und letztlich einen digitalen „Computer-Richter“. Im Anhang benennt Susskind die nach seiner Ansicht kritischen Erfolgsfaktoren und verweist auf weiterführende Literatur.

Fazit

Susskind, ein Pionier der Online-Gerichte, behauptet, dass sie viele konventionelle Rechtsstreitigkeiten ersetzen werden. Er bewertet die Vor- und Nachteile und schaut nach vorne und prognostiziert, dass und wie KI, maschinelles Lernen und virtuelle Realität wahrscheinlich den Gerichtsdienst dominieren werden. Allerdings hatte Susskind auch schon 2010 „The End of Lawyers“ propagiert, das offenbar nicht für alle Fachkollegen in Sicht zu sein scheint.

Ob es bei den Online-Gerichten angesichts der Corona-Krise zu einer anderen Bewertung kommen wird, bleibt abzuwarten. Die Chancen stehen aber nicht schlecht.

 

Dr. Alexander Konzelmann

Leiter der Boorberg Rechtsdatenbanken RDB, Stuttgart
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