15.12.2013

Kita-Anspruch für unter Dreijährige

Wie ein Rechtsanspruch in den Justizmühlen zerrieben wurde

Kita-Anspruch für unter Dreijährige

Wie ein Rechtsanspruch in den Justizmühlen zerrieben wurde

Das Wörtchen \"oder\" im § 24 SGB VIII ist zum Zankapfel bei der Kinderbetreuung geworden. | © Poles - Fotolia
Das Wörtchen \"oder\" im § 24 SGB VIII ist zum Zankapfel bei der Kinderbetreuung geworden. | © Poles - Fotolia

Seit dem 1. August 2013 werden Kinder auch im Alter von 1 bis 3 Jahren in Kindertagesbetreuung gefördert. Der bisher einschlägige § 24 Sozialgesetzbuch VIII gilt seither in textlich neuer Fassung. Der Ausbau der Betreuungsplätze für unter dreijährige Kinder hat in den letzten Jahren Städte und Ge­meinden auf Trab gehalten. Der neue Rechtsanspruch hat viele Zeitungen und Magazine gefüllt. In diesem Sommer wurden dann die Gerichte mit der Auslegung des neuen § 24 Sozialgesetzbuch VIII befasst. PUBLICUS 2013.11 berichtete darüber.

Jetzt wird der neue Rechtsanspruch ein halbes Jahr alt. Städte und Gemeinden klopfen sich auf die Schulter, ihre Aufgaben seien gemacht. Zeitungen und Magazine berichten nicht mehr. Wie ergeht es aber den anspruchsberechtigten Familien? Vorweg kann jedenfalls gesagt werden, dass gut gemeint längst noch nicht gut gemacht ist. Aber der Reihe nach.

Da dem Wortlaut in der Auslegung von Gesetzen doch erhebliche Bedeutung zukommt, soll er hier vorangestellt werden:


SGB VIII § 24 Anspruch auf Förderung in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege

[…] (2) Ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, hat bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. […]

Das unscheinbare Wort „oder“ ist zum Zankapfel in der Anwendung des neuen Rechtsanspruchs geworden.

Entscheidungen der Gerichte zum Wörtchen „oder“

Das Verwaltungsgericht Köln war das Gericht, das als erstes mit Eilverfahren und Klagen zum neuen Rechtsanspruch befasst war. Im August waren dort 44 Klagen und 11 Eilverfahren anhängig. Beispielsweise im Bundesland Hessen wurden nur vier Verfahren gezählt, eines wurde durch die Kanzlei der Verfasserin des Beitrags geführt. Das Verwaltungsgericht Köln verpflichtete die Stadt Köln, „vorläufig einen ganztägigen Betreuungsplatz in einer städtischen Kindertageseinrichtung zur Verfügung zu stellen, die nicht weiter als 5,0 km (Wegstreckenentfernung) vom Wohnort des Antragstellers entfernt liegt“ (19 L 877/13). In den Beschlussgründen führte es u. a. aus: „Sinn und Zweck sowie die Entstehungsgeschichte des Gesetzes zur Förderung von Kindern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege (Kinderförderungsgesetz – KiföG) gebieten es aber, den Eltern als Vertreter für ihr Kind das Auswahlrecht für die Wahl zwischen der Betreuung in einer Tageseinrichtung und der Tagespflege einzuräumen.“ Diese Auslegung des Wörtchens „oder“ im Gesetz sah das Kölner Gericht durch eine Aussage der damaligen Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von der Leyen in der 2. Lesung des Bundestages, BT-PlPr. 16/180, S. 19236 (D) gestützt. Die ehemalige Bundesministerin hatte gesagt – das Kölner Gericht hat ihre Worte in den Beschlussgründen aufgeführt – „Wir werden den Eltern nicht vorschreiben, wo und wie sie ihre Kinder betreuen und fördern. Sie sollen selbst organisieren, wie sie ihren Alltag mit Kindern leben, ob zu Hause, in einer altersgemischten Gruppe, einer Krippe oder der Kindertagespflege, ob wohnortnah oder betriebsnah.“

Das Wörtchen „oder“ hat beachtliches Gewicht

Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen kassierte auf eine Beschwerde der Stadt Köln hin den Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln (12 B 793/13). Die Aussage der damaligen Bundesministerin wurde vom Oberverwaltungsgericht nicht als bindende Willensäußerung des Bundesgesetzgebers gesehen, sondern als wörtlich „politisch motivierte Formulierung“ abgetan. Dem Wörtchen „oder“ kam in den Beschlussgründen des Oberverwaltungsgerichts enorme Bedeutung zu, entschied es doch, dass „der zuständige Träger der Jugendhilfe seine Verpflichtung zur Förderung von unter dreijährigen Kindern gleichermaßen mit dem Nachweis eines zumutbaren Platzes in einer Kindertagesstätte und mit dem Nachweis eines zumutbaren Platzes in der Kindertagespflege – also regelmäßig bei einer sogenannten Tagesmutter – erfüllen kann“.

Das Wörtchen „oder“ hatte auch in der Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (10 B 1848/13) beachtliches Gewicht. Der Entscheidung lag folgender Fall zugrunde: Kurz nach der Geburt der Tochter hatten sich die Eltern bei privaten, kirchlichen und städtischen Kindertageseinrichtungen um einen Kita-Platz für die dann Einjährige beworben. Von den städtischen Einrichtungen erhielten sie keine Rückmeldung. Zum Ende der Elternzeit der Mutter wandten sich die Eltern des Mädchens an die hessische Landeshauptstadt als ihr zuständiger Träger der öffentlichen Jugendhilfe und baten um Bereitstellung eines Kita-Platzes für ihre Tochter. Als die Familie trotz des Schreibens an den Jugendhilfeträger von diesem zwei Monate lang keinerlei Reaktion erhielt, haben sie fürs Erste eine selbst organisierte privat-gewerbliche Tagespflege (Tagesmutter) mit der zunächst anstehenden Eingewöhnung der Tochter betraut. Die Mutter wollte einen Monat später an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, dies war mit ihrem Arbeitgeber auch schon vor längerem vertraglich vereinbart worden. Beinahe gleichzeitig beantragten die Eltern bei dem Verwaltungsgericht Wiesbaden, dass der Jugendhilfeträger einen Kita-Platz zur Verfügung stelle.

Das Verwaltungsgericht Wiesbaden lehnte den Eilantrag ab. Es verneinte den Anordnungsgrund, der Anordnungsanspruch wurde gar nicht erst geprüft. Das Wiesbadener Gericht war der Meinung, dass die Tochter von einer Tagesmutter betreut werde, ein Bedürfnis nach vorläufiger Regelung während des Zeitraums bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache bestehe nicht.

Wunsch- und Wahlrecht?

Dagegen richtete sich die Beschwerde zum Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel. Die Kanzlei argumentierte, wenn ein Hilfegesuch eines Hilfesuchenden vom Jugendhilfeträger unbeantwortet bleibt, spricht das Kinder- und Jugendhilferecht vom sog. Systemversagen. Damit setzte sich der Verwaltungsgerichtshof aber gar nicht erst auseinander. Es wurde ausgeführt, dass das Kinder- und Jugendhilferecht vom Wunsch- und Wahlrecht durchzogen wird, überdies Wechsel der Hilfemaßnahmen durchaus üblich seien. Der Verwaltungsgerichtshof meinte, dass das Wunsch- und Wahlrecht auch nichts anderes ergebe als „Ist die Förderung – wie hier – in einer Tagespflege sichergestellt, besteht ein Anspruch auf Förderung nicht mehr. Hieraus folgt, dass auch kein Anspruch mehr besteht auf Förderung in einer Tageseinrichtung.“ und wies die Beschwerde zurück.

Gesetzeslage ist eindeutig

Trotz eindeutiger im Gesetz geregelter Informations- und Beratungspflicht des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe beantwortete dieser das schriftliche Hilfegesuch der Eltern nicht. Trotz der Idee des Kinder- und Jugendhilferechts, dass der Träger mit den Hilfesuchenden Verständigung und Konsens zu suchen habe und es nicht allein von der Eigeninitiative des Hilfesuchenden abhängen dürfe, haben die Eltern des Mädchens in Eigeninitiative eine privat-gewerbliche Tagespflege selbst organisiert. Trotz des im Gesetz verankerten Wunsch- und Wahlrechts des Hilfesuchenden – neben § 5 Sozialgesetzbuch VIII im Gesetzeswortlaut auch mit dem Wort „oder“ kenntlich gemacht – besteht kein Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung, wenn Förderung in einer Tagespflege bereits erfolgt. Trotz des Wortes „oder“, das nach echter Wahlfreiheit zwischen zwei tatsächlich unterschiedlichen Betreuungsformen klingt, kann der Jugendhilfeträger den Rechtsanspruch mit einem Platz in Tageseinrichtung oder mit einem Platz in Tagespflege erfüllen, je nachdem, wo gerade ein Platz frei ist. Tageseinrichtung gewählt, Tagespflege bekommen.

Das BVerwG und der Aufwendungsersatz

Selbst das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG 5 C 35.12) hatte kürzlich einen Fall zu Tagesbetreuung zu entscheiden. Im Streitfall ging es um den Ersatz von Aufwendungen, die durch die Unterbringung einer damals zweijährigen Tochter in einer Kinderkrippe einer privaten Elterninitiative von April bis Oktober 2011 entstanden waren. Es ging um einen Streitfall vor Inkrafttreten des neuen Rechtsanspruchs. Das Bundesverwaltungsgericht entschied:

„[…] Dieser verleiht einen Anspruch auf Aufwendungsersatz, wenn bestimmte Ansprüche auf Jugendhilfeleistungen nicht erfüllt werden. Der Anspruch auf Übernahme der erforderlichen Aufwendungen setzt voraus, dass der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Bedarf rechtzeitig in Kenntnis gesetzt hat, die Voraussetzungen für die Gewährung der Leistung vorgelegen haben und die Deckung des Bedarfs keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat. […]“

Trotz des vom Bundesverwaltungsgericht bejahten Anspruchs auf Aufwendungsersatz unter bestimmten Voraussetzungen werden Familien zukünftig keinen Aufwendungsersatz erhalten, denn der neue Rechtsanspruch wird vom Jugendhilfeträger durch einen Platz in Tageseinrichtung oder durch einen Platz in Tagespflege erfüllt. Ein Platz in Tagespflege lässt sich zur Anspruchserfüllung doch schnell aus dem Hut zaubern, dann besteht kein Anspruch auf Aufwendungsersatz. Dass der Platz in Tagespflege doppelt bis drei Mal so viel kostet wie ein Platz in Tageseinrichtung, ist bei der Entwicklung, die das Wörtchen „oder“ genommen hat, dann auch kein Aufreger mehr. Für Städte und Gemeinden rechnet es sich allemal.

Hinweis der Redaktion: Beachten Sie zu diesem Thema auch die früheren Artikel in PUBLICUS 2013.8 und PUBLICUS 2013.11.

 

Sibylle Schwarz

Rechtsanwältin
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