15.12.2013

Starke Allianz für Bürgerbeteiligung

Planungsleitfaden BW: PUBLICUS im Gespräch mit Staatsrätin Gisela Erler

Starke Allianz für Bürgerbeteiligung

Planungsleitfaden BW: PUBLICUS im Gespräch mit Staatsrätin Gisela Erler

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Mit dem Auftrag aus dem Koalitionsvertrag und im Rahmen der „Politik des Gehörtwerdens“ hat die Landesregierung Baden-Württemberg den Leitfaden für eine neue Planungskultur (Planungsleitfaden) erarbeitet, der mit der Verwaltungs­vorschrift zur Intensivierung der Öffentlichkeitsbeteiligung (kurz: VwV Öffentlichkeitsbeteiligung) umgesetzt wird. Die Verwaltungsvorschrift wird voraussichtlich Anfang kommenden Jahres in Kraft treten.

Im nachfolgenden Interview beantwortet Frau Staatsrätin Gisela Erler Fragen der PUBLICUS-Redaktion zur Umsetzung der geplanten Neuerungen. Das Interview führte Susanne Sonntag.

PUBLICUS: Sehr geehrte Frau Staatsrätin Erler, zum Einstieg einmal ganz direkt gefragt: Hätte das Verfahren um Stuttgart 21 mit dem neuen Planungsleitfaden und den darin vorgesehenen Formen der sehr frühen Bürgerbeteiligung einen wesentlich anderen, nämlich besseren Verlauf finden können?


Staatsrätin Erler: Ja, das könnte sein – nämlich dann, wenn die DB AG als Vorhabenträgerin die Ideen des Planungsleitfadens beherzigt hätte. Aber ich will gleich Wasser in den Wein gießen: Das für Stuttgart 21 eigentlich zuständige Eisenbahnbundesamt können wir mit der Verwaltungsvorschrift einer Landesregierung nicht erfassen.

PUBLICUS: Welche wesentlichen Erfahrungen aus Stuttgart 21 sind in den Planungsleitfaden mit eingeflossen?

Staatsrätin Erler: Bei Stuttgart 21 gab es in absoluten Zahlen eine gigantische Öffentlichkeitsbeteiligung. Rund 13.000 Einwendungen wurden im Planfeststellungsverfahren bearbeitet. Aber dieser Aufwand hat sich, politisch betrachtet, nicht gelohnt. Es fehlten diskursive Verfahren. Das wollen wir mit den Ideen des Planungsleitfadens zukünftig besser machen. Es gibt eine weitere Lehre aus Stuttgart 21: Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger dann, wenn die Bagger noch fern sind, stärker sensibilisieren. Solange noch über das Ob eines Vorhabens oder über seine Alternativen gesprochen werden kann, ist doch der Einfluss der Bürgerinnen und Bürger am größten. Deshalb brauchen wir mehr Bürgerbeteiligung in einem frühen Stadium, z. B. vor und in der Raumordnung.

PUBLICUS: Können Sie am Beispiel Stuttgart 21 erklären, wie die frühzeitige Einbeziehung der Bürger hier ganz konkret hätte aussehen können?

Staatsrätin Erler: Ich werde sicher nicht im Nachhinein gute Ratschläge zu Stuttgart 21 geben. Das steht mir nicht zu. Ich kann Ihnen aber die Kernidee des Planungsleitfadens beschreiben. Sie lautet früh, verbindlich und flexibel. Wir wollen ganz „früh“ die Bürger dabei haben, eben dann, wenn es noch etwas zu entscheiden gibt. Wir machen die Ideen „verbindlich“ für die Landesverwaltung und gehen damit über die reine Empfehlung hinaus. Das Land bindet sich damit bei eigenen Projekten wie Landesstraßen oder dem Hochwasserschutz selbst, mehr Bürgerbeteiligung durchzuführen. „Flexibel“ ist der Planungsleitfaden ebenfalls. Denn Bürgerbeteiligung nach „Schema F“ funktioniert nicht. Nur vor Ort kann über die Notwendigkeit und das rechte Maß der Bürgerbeteiligung entschieden werden.

PUBLICUS: Das sogenannte Beteiligungs-Scoping wird mit dem Leitfaden neu eingeführt. Es dient dazu, die Notwendigkeit, Maß und Vorgehen der erweiterten Beteiligung vor Beginn des Raumordnungsverfahrens und des Planfeststellungs- oder Genehmigungsverfahrens gemeinsam mit relevanten Akteuren zu erörtern und einen angemessenen Fahrplan für den Beteiligungsprozess zum Vorhaben festzulegen. Welche unterschiedlichen Beteiligungsformen kommen in Frage?

Staatsrätin Erler: Wir machen hier bewusst keine Vorgaben. Es gibt unzählige Auflistungen zu den Methoden. Darauf verweisen wir auch im Planungsleitfaden. Ob ein runder Tisch, eine Planungswerkstatt, das World Café oder andere Formen genutzt werden, muss der Vorhabenträger entscheiden. Wir setzen auf Subsidiarität. Wir können von Stuttgart aus nicht die einzig wahre Beteiligungsform über ganz Baden-Württemberg legen. Wichtig ist eher, dass das Beteiligungs­scoping eine Ankerfunktion über alle Planungsphasen hinweg hat. Solche Prozesse dauern oft Jahre, da kann sich leicht etwas ändern. Deshalb sollen die Behörden das Beteiligungs­scoping immer wieder durchführen – und sei es, bei offenkundig unstreitigen Fällen, auch nur als gedankliche Stütze: Ist das Verfahren wirklich immer noch so unstreitig?

PUBLICUS: Belastet die Umsetzung des Leitfadens die Verwaltung mit zusätzlicher Bürokratie?

Staatsrätin Erler: Das war eine zentrale Frage bei der Erstellung des Planungsleitfadens. Gemeinsam mit dem Innenministerium habe ich das Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung in Speyer beauftragt, die Auswirkungen des Planungsleitfadens zu untersuchen. Wir sind sehr selbstkritisch an das Thema herangegangen. Interessanterweise ergab die Untersuchung, dass wir möglicherweise mit dem Planungsleitfaden sogar Stellen einsparen können, wenn Unternehmen engagiert die Bürgerbeteiligung durchführen. Im ungünstigsten Fall wurde ein Bedarf von rund neun zusätzlichen Stellen vorhergesagt. Die Landesregierung hat deshalb neun Stellen genehmigt. Diese Zahlen werden aber bereits nach einem Jahr mit einer Evaluation überprüft.

PUBLICUS: Sie sehen in der Beteiligung der Bürger hinsichtlich der Lösungsfindung und Planung die größten Entwicklungspotenziale. Welche Entwicklungen können Sie sich hier vorstellen? Wie können die Bürger für gelebte Demokratie begeistert werden?

Staatsrätin Erler: Wir müssen immer sehr genau zwischen Bürgerbeteiligung im Planungswesen und Abstimmungen differenzieren. Das gehört auch zum Erwartungsmanagement, das der Planungsleitfaden empfiehlt. Bei der Bürgerbeteiligung im Planungsrecht kommen wir aus rechtlichen Gründen nur bis zur Mitwirkung durch die Bürgerinnen und Bürger, nicht aber zur Mitentscheidung. Die Mitentscheidung gibt es nur bei der direkten Demokratie. Während die direkt Betroffenen bei Planungsprozessen die Verfahren nachvollziehbarerweise emotionalisieren, können nicht betroffene, aber interessierte Bürgerinnen und Bürger die Diskussionen versachlichen und beruhigen. Die Methode der zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürger hat sich dabei als sehr praktikabel und erfolgreich herausgestellt. Damit können wir eben auch die Schichten der Bevölkerung erschließen, die bisher nicht sehr beteiligungsaffin sind: Frauen, Jugendliche, bildungsferne Gruppen.

PUBLICUS: Wie unterscheidet sich diese Form der Beteiligung von den Verfahren der direkten Demokratie – z. B. Ablehnung der Bewerbung für die Olympischen Spiele der Stadt München durch Bürgerentscheid?

Staatsrätin Erler: Die Bürgerbeteiligung im Planungsrecht führt nicht zu einer Entscheidung durch Bürgerinnen und Bürger. Die Behörde entscheidet abschließend. Anders ist es bei Formen der direkten Demokratie. Hier sehe ich noch sehr große Potenziale, sei es auf kommunaler Ebene, sei es auf Landesebene. Das Beispiel der Schweiz zeigt, dass allein die Möglichkeit von Abstimmungen enorm disziplinierend wirkt – auf die Inhalte wie auf den Tonfall einer Diskussion. Diese Vorwirkungen haben wir in Baden-Württemberg noch nicht ausgereizt.

PUBLICUS: Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem Planungsleitfaden für die Vorhabenträger?

Staatsrätin Erler: Das Land als Vorhabenträger ist an die VwV gebunden. Das Land geht also mit dieser Selbstverpflichtung als gutes Vorbild für mehr Bürgerbeteiligung voran. Darin liegt die große politische Bedeutung des Planungsleitfadens. Dritte Vorhabenträger werden zukünftig besser beraten. Dafür bekommen die Behörden Checklisten.

PUBLICUS: Wie schätzen Sie die Akzeptanz bei den nicht staatlichen Vorhabenträgern ein?

Staatsrätin Erler: Ich bin da zuversichtlich. Denn wir haben bei der Erarbeitung des Planungsleitfadens eng mit dem VDI kooperiert. Er hat für Unternehmen Richtlinien erarbeitet, die den Unternehmensleitungen Empfehlungen für die Gestaltung von Großprojekten geben. Das läuft dort unter dem Aspekt des Risikomanagements. Wir haben im Planungsleitfaden wie in den VDI-Richtlinien die gleichen Verfahrensstufen, die sich an den gesetzlich vorgegeben Abläufen orientieren. Die Werke sind gut abgestimmt. Ich glaube, dass private Vorhabenträger sehr offen sein werden für eine entsprechende Beratung durch Behörden, die ausdrücklich auf die VDI-Richtlinien hinweisen sollen.

PUBLICUS: Die grün-rote Landesregierung möchte eine neue politische Beteiligungskultur entwickeln und hat hierfür das Amt der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung eingerichtet. Nimmt das Land Baden-Württemberg mit diesem Engagement für die erweiterte Öffentlichkeitsbeteiligung eine Vorbildrolle ein – möglicherweise auch im Hinblick auf eine entsprechende Regelung des Bundes?

Staatsrätin Erler: Ja, wir spüren ein großes bundesweites Interesse an unserer Arbeit. Allerdings geht es bei der Reform der Bundesgesetzgebung um etwas anderes als bei einer VwV für Landesbehörden. Das müssen wir im Auge behalten. Aber die eine oder andere Idee aus dem Planungsleitfaden könnte durchaus die anstehenden Diskussionen auf Bundesebene prägen. Herr Ministerpräsident Kretschmann hat schließlich das Thema Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie zu einem Schwerpunkt im Rahmen seines Vorsitzes bei der Ministerpräsidentenkonferenz gemacht.

PUBLICUS: Welche Wünsche und Erwartungen verbinden Sie mit dem Start von Verwaltungsvorschrift und Planungsleitfaden im Jahr 2014?

Staatsrätin Erler: Ziel ist es, dass wir eine noch bessere Planungskultur bekommen. Das kann allein mit einer VwV nicht gelingen. Wir werden deshalb mit Fortbildungen und Veranstaltungen die Einführung intensiv begleiten.

PUBLICUS: Welche weiteren Pläne hat die Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung?

Staatsrätin Erler: Ich möchte die Zivilgesellschaft weiter stärken. Wir haben in Baden-Württemberg eine unglaublich vitale und engagierte Bürgerschaft. Das reicht vom Ehrenamt im Sportverein bis weit in das politische Vorfeld hinein. Denken Sie nur an die Anti-AKW-Bewegung und die Friedensbewegung, die einen Schwerpunkt in Baden-Württemberg hatten. Genauso aktiv ist die Zivilgesellschaft beim Erhalt von Heimat im weit verstandenen Sinn, sei es beim Denkmalschutz, beim Naturschutz, im ländlichen Raum oder bei der Integration von Migranten. Mit der Allianz für Beteiligung habe ich ein Netzwerk mitbegründet, das diese vielen Stränge regional und lokal miteinander verknüpfen kann.

PUBLICUS: Wir danken Ihnen für das Gespräch!

 

Hinweise der Redaktion: Eine ausführliche Erörterung der einzelnen Regelungen der Verwaltungsvorschrift finden Sie in der März-Ausgabe 2014 der Verwaltungsblätter Baden- Württemberg (VwBl BW) – zu beziehen über den Richard Boorberg Verlag.

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