04.04.2022

Jobcenter muss 20 FFP2-Masken wöchentlich als Mehrbedarf finanzieren

Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe

Jobcenter muss 20 FFP2-Masken wöchentlich als Mehrbedarf finanzieren

Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe

Ein Beitrag aus »Die Fundstelle Baden-Württemberg« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Die Fundstelle Baden-Württemberg« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

 

Die 12. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe (SG) hat ein Jobcenter im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig verpflichtet, einem Arbeitsuchenden i. R. d. Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) kalenderwöchentlich 20 Atemschutzmasken als Sachleistung zur Verfügung zu stellen.

Dem Jobcenter wurde freigestellt, alternativ anstelle dieser Sachleistung kalendermonatlich 129 € zu zahlen. Das SG setzte sich mit seinem ausführlich begründeten Beschluss von der bisherigen Linie der Rechtsprechung ab, nach der die Pandemie keine Mehrbedarfe i. S. d. SGB II begründet (vgl. SG Konstanz, Beschl. v. 02.04.2020 – S 1 AS 560/20 ER), siehe Fundstelle BW. Als Folge des Beschlusses des SG Karlsruhe gingen bei den Sozialgerichten bereits eine Vielzahl weiterer Anträge dieser Art ein.

Antragsteller hatte in der Vergangenheit bereits zahlreiche Verfahren vor dem SG geführt

Gerichtlichen Eilrechtsschutz hatte ein 1980 geborener, alleinstehender Mann nachgesucht, der seit vielen Jahren Arbeitslosengeld II bezieht. Aufgrund von 81 erstinstanzlichen Verfahren, die der Mann in der Vergangenheit gegen das Jobcenter angestrengt hatte, war es dem SG bekannt, dass der Mann dauerhaft vermögens- wie einkommenslos war. Anlässlich der wegen der SARS-CoV-2-Pandemie (Corona-Pandemie) verschärften Pflicht zum Tragen bestimmter Arten von Mund-Nasen-Bedeckungen begehrte der Mann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die Verpflichtung des Jobcenters, entsprechende Masken mehrbedarfsweise zu gewähren. Er stellte den entsprechenden Antrag am 25.01.2021 per Telefax bei dem SG, ohne seinen Bedarf an „Corona-Schutzmasken“ näher zu beziffern oder zu begründen.


In Baden-Württemberg besteht in zahlreichen Situationen ein gesetzlicher Maskenzwang

Das SG zeichnete in seinem stattgebenden Beschluss zunächst die gesundheitspolitische Entwicklung nach. Die Bundeskanzlerin und die Regierungschefs der Bundesländer beschlossen am 19.01.2021 auf einem sog. Bund-Länder-Gipfel, der Allgemeinheit für eine Vielzahl von Örtlichkeiten das Tragen medizinischer bzw. ursprünglich für den professionellen Einsatz in Medizinberufen konstruierter Mund-Nasen-Bedeckungen verbindlich vorzuschreiben. Am 23.01.2021 setzte die Regierung des Landes Baden- Württemberg den Beschluss durch den Erlass der Fünften Verordnung zur Änderung der Corona-VO mit Wirkung zum 25.01.2021 um. U. a. werden seither für den Besuch von Krankenhäusern, stationären Pflegeeinrichtungen etc. medizinische Masken verbindlich vorgeschrieben, welche den Anforderungen der Standards FFP2 oder eines vergleichbaren Standards entsprechen. Masken eines geringeren Schutzstandards, insbesondere sog. Operations-Masken (OP-Masken), müssen an vielen anderen aufgezählten Örtlichkeiten getragen werden.

Ein individueller Mehrbedarf kann auch wegen Schutzvorkehrungen zugunsten Dritter bestehen

Nach Auffassung des SG sind die Voraussetzungen für einen Anspruch hinsichtlich des Bedarfs an FFP2-Masken hinreichend glaubhaft gemacht. Ein Bedarf i. S. d. § 21 Abs. 6 SGB II besteht u. a. für solche laufend individuell anfallenden dritt- oder allgemeinnützigen Aufwendungen, welche dem Arbeitsuchenden aufgrund der Einführung eines – in Bezug auf die jeweils letzte Verbraucherstichprobe – neuen dritt- oder allgemeinnützigen rechtsverbindlichen Gebots in nicht unerheblicher Höhe durch gebotskonformes Verhalten durchschnittlich entstehen, solange und soweit der Sozialgesetzgeber zwecks grundsicherungsrechtlicher Berücksichtigung eben dieser Mehrbelastung weder eine spezielle Anspruchsgrundlage geschaffen noch die Regelbedarfshöhe angepasst hat.

Es gilt auch in dieser Hinsicht der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung

Bei der Auslegung des Bedarfsbegriffs i. S. d. § 21 Abs. 6 SGB II verwendeten Begriffes „Bedarf“ ist auch solchen Mehrbelastungen Rechnung zu tragen, die aufgrund eines neuen dritt- oder allgemeinnützigen Gebots entstehen. Rechtsverbindlich festgelegte dritt- oder allgemeinnützige Aufwendungen wirken dann als anspruchserhöhend, wenn das uneigennützige, kostenaufwändige Verhalten des Arbeitsuchenden der Erfüllung ihm unveräußerlicher Rechtspflichten dient. Systematisch betrachtet muss die Erfüllung gesetzlicher Pflichten im Grundsicherungsrecht schon wegen des Grundsatzes der Einheit der Rechtsordnung als erforderlich angesehen und folgerichtig auch bei der Bemessung existenzsichernder Leistungen bedarfserhöhend berücksichtigt werden. Auch ließen es teleologische Erwägungen nicht zu, den Beziehern existenzsichernder Leistungen abzuverlangen, mit eben diesen sehr begrenzten Mitteln in mehr als nur unerheblichem Umfang die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder den Schutz Dritter zu finanzieren.

Die Übernahme eines Hygienemehrbedarfs ist bereits in anderen Konstellationen anerkannt

Für die Berücksichtigung des streitbefangenen Mehrbedarfs an FFP2-Masken nach § 21 Abs. 6 SGB II spricht überdies auch eine historische Gesetzesauslegung. Der Gesetzgeber hat ausweislich der Gesetzesmaterialien mit der Härteregelung des § 21 Abs. 6 SGB II u. a. einen dauerhaft erhöhten Hygienebedarf aufgrund schwerer Erkrankungen ausgleichen wollen. U. a. wird ein grundsicherungsrechtlicher Mehrkostenaufwand nach § 21 Abs. 6 SGB II anerkannt, soweit es den Hygienebedarf eines HIV-infizierten Leistungsempfängers zur Abwehr der Gefahr der Ansteckung Dritter betrifft (vgl. BSG, Urt. v. 19.08.2010 – B 14 AS 13/10 R). Der mit dem für die Beschaffung von Hygieneartikeln eines HIV-Infizierten anerkannte Mehrbedarf ist vergleichbar mit dem Mehrbedarf für die Beschaffung von Hygieneartikeln zum effektiven Schutz vor respiratorischem Kontakt mit SARS-CoV-2-haltigen Aerosolen.

Der Gebrauch von einfachen OP-Masken ist unzumutbar

Der Anspruch auf einen Mehrbedarf ist auf Masken gerichtet, die mindestens den besonderen Anforderungen der Standards FFP2 entsprechen. Auf sog. „Alltagsmasken“ müssen sich Arbeitsuchende ab dem 25.01.2021 nicht mehr verweisen lassen. Auch ein uneingeschränkter Verweis auf OP-Masken würde gegen Recht und Gesetz verstoßen. Arbeitsuchende würden hierdurch in ihrem verfassungskräftigen Gleichheitsgrundrecht auf gleiche Teilhabe aus Art. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und 3 GG verletzt. Ohne FFP2-Masken setzen Arbeitsuchende zur Verwirklichung des objektiven Tatbestandes der (gefährlichen) Körperverletzung in bedingt vorsätzlicher Weise unmittelbar an, sobald sie trotz des Bewusstseins eines möglicherweise präsymptomatischen oder asymptomatischen eigenen Infektionsverlaufs nur eine OP-Maske tragen, ohne diese Örtlichkeiten (Supermarkt, Treppenhaus, Wartezimmer, Leichenhalle, etc.) stets sofort binnen kürzester Zeit wieder zu verlassen, dort fortwährend mind. 1,5 m Abstand zu Mitmenschen einzuhalten, unentwegt zu lüften und hierdurch respiratorische Ansteckungen zuverlässig zu vermeiden.

FFP2-Masken können nicht mehrfach verwendet werden

Die im Falle der Erbringung als Geldleistung fällige Höhe des Mehrbedarfs schätzt das Gericht auf 129 € monatlich. Hierbei legt die Kammer die im Online-Handel diesbezüglich vorliegenden Angebote zugrunde. Es scheint hiernach überwiegend wahrscheinlich, in der Größenordnung von 20 Exemplaren zum Stückpreis von 1,50 € FFP2- Schutzmasken auch ohne zusätzliche Lieferkosten beschaffen zu können. Nach den Empfehlungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sind FFP2- Masken zum einmaligen Gebrauch in Medizinberufen konstruiert und produziert worden und selbst bei sachgemäßer Behandlung nach einer maximalen Tragedauer von 75 Minuten abzusetzen. Eine Wiederverwendung bzw. Reinigung benutzter Masken stellte Sorgfaltsanforderungen auf, die realistischer Weise von der Bevölkerung in den nächsten Monaten nicht zuverlässig zu erwarten sind. Je Kalendermonat resultiert hieraus rechnerisch ein monatlicher Mehrbedarf an 86 FFP2-Masken zu einem geschätzten Gesamtpreis von 129 €.

Andere Gerichte teilen die Auffassung nicht

Gegen diese Entscheidung des SG ist die Beschwerde unstatthaft. Gegen Entscheidungen des Sozialgerichts ist gem. § 172 Abs. 1 SGG grundsätzlich die Beschwerde nur statthaft, wenn in der Hauptsache die Berufung der Zulassung bedürfte. Hier hätte die Berufung der Zulassung bedurft, da im Eilrechtsverfahren Leistungen für rd. fünf Monate und für eine Gesamtsumme von nur 636 € bzw. einer diesem Wert entsprechenden Sachleistung zugesprochen wurde. Auch wenn das LSG Baden-Württemberg somit nicht berufen war, über die Angelegenheit zu entscheiden, haben bereits mehrere andere Kammern des SG Karlsruhe wie auch andere Sozialgerichte (z. B. SG München, Beschl. v. 22.02.2021 – S 52 AS 127/21 ER) in Eilbeschlüssen klargestellt, dass sie die Einschätzungen der 12. Kammer nicht teilen.

Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 11.02.2021 – S 12 AS 213/21 ER.

 

Entnommen aus FstBW 2021 Heft 10, Rn. 150

 

Dr. Martin Kellner

Richter am Sozialgericht Freiburg i. Br.
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