05.02.2020

Grabenwahl und Grundgesetz

Bigamie im Wahlrecht?

Grabenwahl und Grundgesetz

Bigamie im Wahlrecht?

Es gibt mehrere Vorschläge zur Reform des Wahlrechts. | © pedro ferreira - Fotolia
Es gibt mehrere Vorschläge zur Reform des Wahlrechts. | © pedro ferreira - Fotolia

Deutschland ist der einzige Staat weltweit, in dem es geduldet wird, dass es im Parlament zu viele Abgeordnete gibt. Dem will eine Gruppe von Abgeordneten der CDU endlich Einhalt gebieten und schlägt vor, zur sog. „Grabenwahl“ überzugehen. Kurz davor hatten FDP, Linke und Grüne einen ausformulierten Gesetzesentwurf zur Reform des Wahlrechts in den Bundestag eingebracht. Frei­lich haben die meisten Bundestagsfraktionen am 22. Wahlgesetz des Bundes mitgewirkt. Sie kön­nen jetzt nicht darüber hinwegtäuschen, nun eine „Reform von der Reform“ zu verlangen. Den lautstark kritisierten Gesetzgebungspfusch haben sie selbst mit auf den Weg gebracht.

Unionsabgeordnete fordern „Grabenwahl“

Das Wahlrecht kann offenbar nicht länger so bleiben wie es ist. Die Experten rechnen für 2021 mit etwa 800 Abgeordneten, bei einer Sollzahl von 589 Sitzen im Parlament. Soll ein 23. Wahlgesetz des Bundes verabschiedet werden und bei der nächsten Bundestagswahl 2021 Anwendung finden, wird die Zeit allmählich knapp und es besteht erhöhter Handlungsbedarf. Deshalb haben 24 Abgeordnete in einem Brief an den CDU-Fraktionsvorsitzenden, Ralph Brinkhaus, MdB, vorgeschla­gen, zur sog. „Grabenwahl“ zu wechseln. Danach sollen 299 der insgesamt 598 Abgeordneten allein mit der Erststimme gewählt werden. Über den verbleibenden Rest von weiteren 299 Abgeordneten würde einzig und allein mit der Zweitstimme abgestimmt, und zwar ohne dass es zu einer Anrechnung der Personenwahl auf die Parteienwahl kommt.

Zu Recht hoben die CDU-Abgeordneten in ihrem Brief an Brinkhaus hervor, durch die „Grabenwahl“ werde die reguläre Größe des Bundestages von 598 Abgeordneten auf jeden Fall eingehalten. Sind beide Stimmen „wie durch einen tiefen Graben“ von einander strikt getrennt, kann es nicht zu sog. „Überhangmandaten“ kommen. Denn zwei vollständig voneinander getrennte Stimmen sind zwei voll­kommen von einander getrennte Wahlen. Beide Ergebnisse werden zusammengetragen. Genau ge­nommen verschwinden die leidigen „Überhänge“ zwar nicht, spielen ohne Anrechnung aber keine Rolle mehr. Und ohne Anrechnung besteht für die Ausgleichsmandate von vorneherein gar kein Be­darf. – Und das trifft in der Tat so zu.


Auf Zustimmung trafen die CDU-Abgeordneten bei dem Politikwissenschaftler Prof. Jürgen W. Falter. In einem Interview mit dem Wochenmagazin „Forum“ vom 13.12.2019 hatte er sich zuvor eben­falls für die Grabenwahl ausgesprochen. Er weist darauf hin, das Bundesverfassungsgericht habe in seiner letzten Entscheidung vom 25.7.2012 (BVerfGE 131, 316) zur Deckelung der „Überhänge“ in einem „obiter dictum“ – also in einer richterlichen Randbemerkung – diesen Ausweg als eine der denkbaren Lösungsmöglichkeiten ausdrücklich erwähnt – eigentlich sogar angeboten. Prof. Falter fühlt sich daher auf der richtigen Seite.

Ein Urteil des BVerfG gibt es nicht

Auf der Gegenseite hat der frühere Verfassungsrichter Ernst Gottfried Mahrenholz sich sehr kritisch zur Grabenwahl eingelassen. In einer Festschrift für seinen Richterkollegen Winfried Hassemer (2010, S. 111 ff.) hat er einen Beitrag veröffentlicht, der den Titel trägt: „Bigamie im Wahlrecht? Zweifel an dem Grabensystem“. Mahrenholz bemängelte damals, das Verfassungsgericht habe das Grabensystem selbst und als solches keiner grundlegenden Bewertung unterzogen, obwohl es Gelegenheit dazu gab. Und in der Tat gibt es jedenfalls auf der Ebene des Bundesverfassungsgerichts keine höchstrichter­liche Entscheidung zur Grabenwahl. Wie Karlsruhe im Ernstfall am Ende entscheiden würde, sollte es zur Grabenwahl angerufen werden, das kann niemand vorhersagen.

Die Ausführungen von Mahrenholz haben Gewicht, auch wenn sie nicht zur herrschenden Meinung zählen. Schwerer wiegt noch die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts von Schleswig-Holstein (LVerfG v. 30.8.2010, Az. 3/09 und 3/10; Nord-ÖR 19/2010, S. 389 und 410 ff). Sie spielt in der öffentlichen Debatte aber keine Rolle oder wird als unmaßgebliche Ländersache abgetan. So einfach ist es aber nicht. Die Grundsätze der unmittelbaren, freien und gleichen Wahl sind in Bund und in den Ländern identisch. Der Kern der verfassungsmäßigen Grundordnung kann nach § 28 GG in Bund und in den Ländern nicht voneinander abweichen. Das wird allgemein als Homogenitätsprinzip bezeich­net.

Was zählt ist das Grundgesetz

Das Landeswahlgesetz in Schleswig-Holstein fußt wie das Bundeswahlrecht auf dem Verfahren der sog. „personalisierten“ Verhältniswahl mit der Erststimme für die Personenwahl und mit der Zweit­stimme für die Parteienwahl. Beides passt nicht zusammen und gleicht irgendwie dem Versuch, Was­ser mit  Feuer zu mischen. Die Verfassungsrichter in Kiel stellten mit der o.a. Entscheidung jedenfalls fest: „Als verbundenes und einheitliches Wahlsystem schließt es ein die Grundsätze der Mehrheits- und der Verhältniswahl nebeneinander stellendes Grabensystem aus.“ – Und das ist das genaue Ge­genteil dessen, was das Bundesverfassungsgericht v. 25.7.2012 als denkbaren Lösungsweg „angebo­ten“ hat.

Ausschlaggebend für die definitive Beurteilung der Grabenwahl ist der Wortlaut der Verfassung. In Art. 38 Grundgesetz heißt es: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden (…) in gleicher Wahl (…) gewählt.“ Genau das ist bei der sogenannten „Grabenwahl“ aber nicht der Fall. Der Weg in das Parlament ist für alle Abgeordneten gleich. Hier gibt es keine Kompromisse. Wenn man aber auf zwei grundverschiedenen Wegen in den Bundestag gelangen kann – einmal über die Personenwahl mit der Erststimme in 299 Wahlkreisen, zum anderen über die Parteienwahl mit der Zweitstimme, also über die Landeslisten – handelt es sich von vorneherein nicht um eine gleiche Wahl. Die „Grabenwahl ist also ungleich. Das liegt einfach in der Natur einer Sache einer „Doppelwahl“ mit zwei Stimmen.

Und was die Listenwahl angeht, ist diese auch nicht unmittelbar. Das hier aber nur nebenbei. Bei der „Grabenwahl“ werden die Mandate nicht mehr aufeinander angerechnet und nicht mehr zu einer „per­sonalisierten“ Verhältniswahl – einem „mixtum compositum“, einem Mischmasch – „verschmolzen“. Es bleibt also bei zwei völlig getrennten Wahlen. Folglich kann eine dualistische „Grabenwahl“ vor dem Gleichheitsprinzip der Verfassung keinen Bestand haben. Und das ist, was das Land Schleswig-Holstein betriff, ja bereits so entschieden worden. Wer das anders sieht, muss die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts in Kiel wieder annullieren.

Zwei Stimmen sind zwei Wahlen

Die Kritik der FDP an der von den CDU-Abgeordneten vorgeschlagenen Grabenwahl ließ nicht lange auf sich warten. Sie bezeichnete den Vorschlag der CDU-Abgeordneten sogar als „legalen Putsch“. Argumentativ blieb auch ihr Wortführer, Alexander Graf Lambsdorff, MdB, unsachlich und unklar. Er bemängelte, der Vorstoß aus den Reihen der CDU, dem offenbar auch einige Abgeordneten der SPD zugestimmt haben, sei „zynisch“ und „egoistisch“. Graf Lambsdorff griff auch Konrad Adenauer an: Der habe sich schon zu seiner Zeit vergeblich für die Grabenwahl stark gemacht. „Aus der Gruft“ brauche man keine Ratschläge. Der Partei- und Fraktionsvorsitzende, Christian Lindner, MdB, dop­pelte ebenso unsachlich nach: „Die Union will die Reform des Wahlrechts nutzen, um sich einseitig Vorteile zu verschaffen.“ – Nirgendwo trifft man auf verfassungsrechtlich stichhaltige Argumente.

Außerdem hat die FDP zusammen mit den Linken und den Grünen selbst einen Vorschlag zur Reform des Wahlrechts in den Bundestag eingebracht, der hochproblematisch ist. An drei Stellen wollen FDP, Linke und Grüne den Hobel ansetzen und das Wahlrecht novellieren. Erstens: Die Zahl von derzeit 299 Wahlkreisen soll auf 250 herabgesetzt werden. Zweitens: Im Bundestag sollen nicht mehr als 630 Mitglieder Sitz und Stimme haben. Schließlich werden – drittens – die Landeskontingente für die ein­zelnen Bundesländer abgeschafft.

Mit der Herabsetzung der Wahlkreise von 299 auf 250 kann man verfassungsrechtlich keinen Boden gutmachen. Zwar kann die maximale Zahl der Überhänge von 299 auf  250 zurückgeführt werden. Hinzu kämen aber mindestens 250 Ausgleichsmandate, zusammen 500 Sitze mehr als normal. Doch daran will die FDP natürlich möglichst wenig ändern. Denn sie profitiert davon, und zwar massiv. Schon 2017 ging die FDP mit 15 Ausgleichsmandaten aus dem Rennen. Bei den Grünen und den Linken wurden jeweils 10 Zusatzsitze nachgeschoben. Eine Kappungsgrenze bei 630 Parlamentariern hätte 2013 schon bedeutet, dass ein „außerparlamentarischer“ Abgeordneter zwar gewählt worden wäre, aber dem Bundestag fernbleiben muss. – Ein völliges Unding.

Die von der FDP vorgeschlagene Abschaffung der Landeskontingente ist gleichfalls ein Irrweg. „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein (…) Bundesstaat.“ So steht es in Art. 20 Abs. 1 GG. Im Verhältnis zur gesamten Wohnbevölkerung der föderativ aufgebauten Republik wählt Bremen 5 Abgeordnete, im Saarland sind es 7; Bayern stellt 93 und NRW 128 Mitglieder des Bundestages usw. Das Wahlrecht ist keine politische „Spielwiese“. Würde man die Landeskontingente bei den Mandaten aufheben, wäre die verfassungsrechtlich garantierte Bundesstaatlichkeit am Ende.

2017 kam es noch schlimmer. Wegen der Kappungsgrenze bei 630 Abgeordneten wären 15 nicht ausgleichbare Überhänge entstanden, was nach dem Urteil des BVerfG v. 25.7.2012 (BVerfGE 131, 316) auf keinen Fall zulässig ist. Ein Schildbürgerstreich der besonderen Art. FDP-Chef Christian Lindner drohte, man wolle den Gesetzesentwurf auch gegen den Willen der CDU/CSU-Fraktion zur Abstimmung stellen. Ein „Wink mit dem Zaunpfahl“, die Koalition mit der SPD könnte zerbrechen und die Sozialdemokraten als neue Oppositionspartei für den vorliegenden Reformvorschlag stimmen. Doch daraus wurde nichts. Am 17.11.2019 hat der Bundestag den Oppositions-Entwurf von FDP, Linken und Grünen in erster Lesung abgelehnt.

Absurder Kuhhandel

Das Thema wäre damit erledigt, wenn nicht Wolfgang Schäuble von der hohen Warte des Bundestags­präsidenten aus ebenfalls eine deutliche Verringerung der Wahlkreise von 299 auf 270 verlangt hätte. Auch Thomas Oppermann, Stellvertreter des Bundestagspräsidenten, will die Zahl der Wahlkreise stufenweisen zunächst um 20 Direktmandate verringern. In jüngerer Zeit trat auch der CDU-Politiker, Peter Altmaier, mit dem Ansinnen hervor, die Zahl der Abgeordneten des Bundestages bei jeder Le­gislaturperiode um 40 Mandate zu verkleinern. Näheres dazu war auch von ihm nicht zu erfahren. Durch diesen Bieter-Wettbewerb verkommt die Reform des Wahlrechts zum Kuhhandel. Die Vorga­ben der Verfassung werden mit Füßen getreten. Von den fünf Grundsätzen der allgemeinen, der un­mit­telbaren, der freien, gleichen und geheimen Wahl, hört man von den Mitgliedern des Bundestages, die sich zu Wort melden, überhaupt nichts.

Fasst man alles zusammen, ist der Bundestag heillos zerstritten.

 
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