19.02.2024

Erinnerungspolitische Wertungsfragen

Am Beispiel der kommunalen Verwaltungspraxis

Erinnerungspolitische Wertungsfragen

Am Beispiel der kommunalen Verwaltungspraxis

Ein Beitrag aus »Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV
Ein Beitrag aus »Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter« | © emmi - Fotolia / RBV

In Nordrhein-Westfalen spielen Kommunen eine zentrale Rolle bei der Aufarbeitung der Vergangenheit und der Aufrechterhaltung des öffentlichen Gedenkens. Es handelt sich dabei überwiegend um freiwillige Selbstverwaltungsangelegenheiten, sodass insbesondere bei der Frage, ob und in welcher Form an bestimmte Personen und Ereignisse im öffentlichen Raum erinnert werden soll, ein weiter Gestaltungsspielraum besteht. Dennoch erzeugt die zunehmende Sensibilisierung für vergangene Gewalt- und Unrechtserfahrungen vielerorts einen Handlungsdruck, wenn seitens der Öffentlichkeit ein (vermeintlich) fehlgeleitetes öffentliches Gedenken bemängelt und ein Einschreiten der Verwaltung gefordert wird. Die Handhabung dieses Phänomens in der Kommunalverwaltung ist uneinheitlich.

A. Einführung

„Denkmalstürze“ und „Schilderstürme“ sind aus der Geschichte als typische Reaktionen auf Zusammenbrüche von Staats- und Gesellschaftsordnungen bekannt. In der Beseitigung von materiellen Erinnerungsträgern spiegeln sich gleichermaßen das Verlangen nach einer symbolischen Abrechnung („repressives Vergessen“) und der Wunsch nach einem Neubeginn („konstruktives Vergessen“). In Deutschland wurden im Verlauf des 20. Jahrhunderts Erinnerungszeichen eines zusammengebrochenen Regimes gleich zweimal – nach 1945 und nach 1990 – aus der Öffentlichkeit entfernt. Die Gründlichkeit dieser symbolischen Dekontaminierung des öffentlichen Raums war freilich von Ort zu Ort unterschiedlich: Gerade beim Umgang mit den Hinterlassenschaften des NS-Regimes beschränkte sich der Ausschluss kompromittierter Namen auf die Hauptverantwortlichen, sparte aber politische oder geistige Wegbereiter meist aus und stand einer späteren Ehrung von Unterstützern und Profiteuren erst recht nicht im Wege. In der kommunalen Namensvergabepraxis schreckte man folglich über Jahrzehnte hinweg nicht davor zurück, in das NS-Unrecht hochgradig verstrickte Personen aufgrund ihrer späteren Verdienste zu ehren. Auch ein eher unreflektiertes, gestalterisch noch in der Tradition der nationalsozialistischen Heldenverehrung stehendes öffentliches Gedenken an gefallene Angehörige der Wehrmacht – sei es durch Ergänzung der Ehrenmale aus der Zwischenkriegszeit, sei es durch Aufstellung neuer Gedenkzeichen – entsprach jahrzehntelang dem Zeitgeist oder fiel zumindest nicht negativ auf.

Heute steht die Frage nach der Angemessenheit bestimmter Formen des öffentlichen Erinnerns und Gedenkens bundesweit im Fokus kommunalpolitischer Kontroversen, die typischerweise in gräber-, bauordnungs-, denkmalschutz- oder straßenrechtliche Verwaltungsverfahren eingebettet sind und gelegentlich in verwaltungsgerichtlichen Verfahren münden. Überwiegend geht es dabei um vorhandene Erinnerungsträger (Gedenkzeichen, Straßennamen), die als Belege einer inkonsequenten Entnazifizierung oder als Bekenntnisse zu Militarismus oder Kolonialismus wahrgenommen werden. Sofern ein Einschreiten der Verwaltung gegen ein (vermeintlich) unverdientes oder aus heutiger Sicht unzumutbares Gedenken begehrt wird, reicht das Spektrum der Forderungen von der vollständigen Beseitigung eines Erinnerungsträgers (Demontage, Umbenennung) über dessen Veränderung oder Anpassung (Abdeckung, Verhüllung) bis hin zu einer Kontextualisierung, z. B. durch Anbringung einer erläuternden Informationstafel oder eines erklärenden QR-Codes. Was die jeweiligen Petenten für ein Gebot der historischen Gerechtigkeit halten, ist in den Augen der Kritiker eine „Verdrängung historischer Zusammenhänge“, „Entsorgung der Geschichte“ oder ein Ausdruck von „Cancel Culture“. Gelegentlich werden auch Erinnerungsdefizite, also das Fehlen der Erinnerung an staatliches Unrecht oder bestimmte Opfergruppen im öffentlichen Raum, als ein Missstand wahrgenommen, dessen Behebung – in Form von Aufstellung von neuen Erinnerungsträgern – von der Verwaltung gefordert wird. Auch dieses Anliegen bleibt jedoch nicht unwidersprochen: sei es, dass die Bedeutung des zu erinnernden Vorgangs für die konkrete Gemeinde infrage gestellt, sei es, dass eine „Überfrachtung“ des öffentlichen Raums mit Gedenkzeichen befürchtet wird.


Wann immer die Erinnerung an eine Person oder ein Ereignis durch kommunales Handeln aufrechterhalten oder umgekehrt aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt werden soll, stellt sich die Frage, welche Allgemein- oder Individualinteressen dabei verfolgt werden und anhand welcher Kriterien solche Entscheidungen getroffen werden. Dem soll im Folgenden – mit Blick auf die Rechtslage in Nordrhein-Westfalen – nachgegangen werden.

B. Erinnerungspolitische Konflikte auf kommunaler Ebene

I. Gedenkzeichen im öffentlichen Raum

1. Rechtsgrundlagen

Die Aufrechterhaltung der Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse – insbesondere an die Opfer staatlichen Unrechts – durch Errichtung und Unterhaltung von Gedenkzeichen ist ein integraler Bestandteil des staatlichen Kultur- und Bildungsauftrags. Ortsgebundenes Gedenken, das der Aufarbeitung der lokalen Vergangenheit oder der Stiftung der lokalen Identität dient, fällt zudem als Ausfluss der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 78 LV NW) in den Zuständigkeitsbereich von Städten und Gemeinden. Sichtbarer Ausdruck einer kommunal organisierten Erinnerungskultur sind zahlreiche Mahnmale zur Erinnerung an unterschiedliche Opfergruppen, die in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen Jahrzehnten teils an Originalschauplätzen historischer Ereignisse, teils auch an anderen öffentlichen Orten errichtet wurden und immer noch werden. Ein staatliches oder kommunales Monopol für ortsgebundenes Gedenken existiert gleichwohl nicht, weshalb selbstverständlich auch zivilgesellschaftliche Akteure als Initiatoren, Stifter oder Träger von Gedenkzeichen fungieren können.

Die auf die Installation von Gedenkzeichen im öffentlichen Raum anwendbaren Vorschriften variieren je nach Beschaffenheit und Standort. Bei einer Inanspruchnahme des öffentlichen Straßenraums für erinnerungskulturelle Zwecke handelt es sich regelmäßig um eine erlaubnispflichtige Sondernutzung im Sinne des § 18 Abs. 1 StrWG NRW, deren Zulassung im Ermessen der Straßenbaubehörde liegt. Das betrifft nicht nur Gedenkzeichen, die in den Straßenraum hineinragen (Stelen, Standbilder usw.), sondern auch solche, die bündig in den Straßenkörper eingelassen werden (z. B. sog. „Stolpersteine“). Außerhalb von Verkehrsflächen kann die Aufstellung baugenehmigungspflichtig oder – wenn die Aufstellungsort unter Denkmalschutz steht oder in der engeren Umgebung eines Baudenkmals liegt – denkmalrechtlich erlaubnispflichtig sein. Hierbei besteht kein Ermessen, wohl aber die Notwendigkeit einer Abwägung der für und gegen die Aufstellung streitenden Belange.

Die Befugnis der Gemeinden, eigenverantwortlich darüber zu entscheiden, an welche Personen oder Ereignisse in welcher Form und an welchen Orten im öffentlichen Raum erinnert wird, beinhaltet prinzipiell auch das Recht, vorhandene Gedenkzeichen umzuwidmen, umzugestalten, an einen anderen Ort zu versetzen und – äußerstenfalls – aus dem öffentlichen Raum zu entfernen. Diese Befugnis wird jedoch regelmäßig durch das denkmalrechtliche Schutzregime überlagert, dem zahlreiche Gedenkzeichen im öffentlichen Raum unterstellt sind. Bei Vorliegen der gesetzlichen Merkmale des Denkmalbegriffs besteht nämlich nach § 23 Abs. 1 Satz 1 DSchG NRW eine Rechtspflicht zur Eintragung in die Denkmalliste. Ist diese erfolgt, unterliegt das eingetragene Objekt – unabhängig davon, von wem und zu wessen Ehrung es einst errichtet wurde – einem Veränderungs-, Beseitigungs- und Umsetzungsverbot, das im Einzelfall nur durch gewichtige private oder öffentliche Interessen überwunden werden kann (§ 9 Abs. 3 Satz 1 DSchG NRW).

2. Zuständigkeiten und Verfahren

Die Entscheidung über die Aufstellung von neuen oder die Umgestaltung, Umsetzung oder Entfernung von vorhandenen Gedenkzeichen liegt meist bei der Gemeinde, die – je nach Fallgestaltung – als Straßenbau-, untere Bauaufsichts- oder Untere Denkmalbehörde in Erscheinung tritt. Gemeindeintern fallen Fragen des ortsgebundenen Gedenkens wiederum regelmäßig in die Zuständigkeit des Rates oder ggf. eines seiner Ausschüsse, in kreisfreien Städten in die Zuständigkeit der Bezirksvertretungen (§ 37 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b oder e GO NRW), sofern sich aus den erinnerungspolitischen Konsequenzen des konkreten Vorgangs keine gesamtstädtische Bedeutung ergibt. Der Verwaltung obliegt die konzeptionelle Vorbereitung und praktische Umsetzung der entsprechenden politischen Beschlüsse, wobei kommunale Einrichtungen mit erinnerungskulturellem Aufgabenschwerpunkt (Archive, Mahn- und Gedenkstätten) eine zentrale Rolle spielen.

Eine obligatorische Mitwirkung von Bürgern und/oder zivilgesellschaftlichen Akteuren an erinnerungspolitischen Entscheidungsprozessen ist nur vereinzelt vorgesehen und geht kaum über die Unterbreitung von Vorschlägen für neue Gedenkzeichen hinaus. Speziell bei Entscheidungen im Anwendungsbereich des Denkmalschutzgesetzes findet eine Einbindung der Zivilgesellschaft nur sporadisch statt. Zwingend ist dagegen die Beteiligung der Denkmalfachämter der Landschaftsverbände (§ 24 Abs. 2 DSchG NRW), die nach der Konzeption des Gesetzgebers als „Sachwalter“ des gesamten – auch des „unbequemen“ – materiellen Kulturerbes fungieren.

Den vollständigen Beitrag entnehmen Sie den Nordrhein-Westfälischen Verwaltungsblättern Heft 01/2024, S. 1 ff.

 

Prof. Dr. Dr. Dimitrij Davydov

Professor an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW in Köln
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