16.11.2020

Die Leipziger Corona-Demo, das OVG Bautzen und die Sächsischen Verwaltungsblätter

Wie ein Gerichtsbeschluss und ein Fachaufsatz sächsische Verwaltungsrichter in den Medien zu Corona-Leugnern werden ließen

Die Leipziger Corona-Demo, das OVG Bautzen und die Sächsischen Verwaltungsblätter

Wie ein Gerichtsbeschluss und ein Fachaufsatz sächsische Verwaltungsrichter in den Medien zu Corona-Leugnern werden ließen

Dr. Dirk Tolkmitt: „Ich halte den Zusammenhang zwischen dem Artikel in unserer Zeitschrift und der Entscheidung des OVG für an den Haaren herbeigezogen.“  | © SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT
Dr. Dirk Tolkmitt: „Ich halte den Zusammenhang zwischen dem Artikel in unserer Zeitschrift und der Entscheidung des OVG für an den Haaren herbeigezogen.“  | © SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT

Die kürzlich ergangene OVG-Entscheidung zur Corona-Demonstration in Leipzig schlägt hohe Wellen. Dabei waren sich einige Journalisten nicht zu schade, einem der beteiligten Richter aus einem Aufsatz in einer juristischen Fachzeitschrift einen Strick drehen zu wollen. Der Versuch erscheint bei näherer Betrachtung aber als allzu leichtfertig.

Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) in Bautzen, eine Demonstration von maximal 16.000 Corona-Leugnern am vorvergangenen Wochenende unter Auflagen zuzulassen, dies jedoch in der Leipziger Innenstadt und zu Zeiten des für November ausgerufenen „Lockdown light“, schlägt hohe Wellen – und brachte einen der Richter des OVG in die Bredouille. Nutzer von Twitter & Co. sowie Journalisten der Publikumspresse versuchten, ihm aus einem juristischen Fachbeitrag eines externen Autors einen Strick zu drehen – und  deklarierten ihn zum Corona-Leugner.

Eine umstrittene Entscheidung

Der Beschluss des OVG veranlasste sogar das Justizministerium des Freistaats zur Stellungnahme, dass das höchste sächsische Verwaltungsgericht unabhängig sei; der Landtag in Dresden hat die Demo in Leipzig und den zugrunde liegenden Gerichtsbeschluss letzte Woche auf der Tagesordnung. Und das Gericht hat seit der Demonstration mehrere hundert Zuschriften verärgerter Bürgerinnen und Bürger, aber auch besorgter Mediziner erhalten sowie zahlreiche Presseanfragen abgearbeitet. Begleitende Social-Media-Attacken auf das Gericht haben die Situation weiter aufgeheizt. Neben dem Verdacht der Corona-Leugnung meinen manche Beobachter eine Nähe des Gerichts zu sogenannten Aluhüten und Maskenverweigerern erkennen zu können.


Die Entscheidung des Gerichts, eine Demo in der Leipziger Innenstadt mit maximal 16.000 bekennenden Maskenverweigerern während des aktuellen November-Lockdowns zuzulassen, stieß aber auch in sachlicheren Kreisen auf Erstaunen und Unverständnis. Denn Betreiber von Kulturbetrieben, Fußballstadien und auch von Hotels und Restaurants – allesamt auch mit Grundrechten, aber zudem mit funktionierenden Hygienekonzepten ausgestattet – müssen derzeit mit Betriebsunterbrechungen leben. Eine Versammlung der sogenannten Querdenker-Bewegung wurde unter Berufung auf die Versammlungsfreiheit hingegen gestattet. Und dies, obwohl die Querdenker schon mehrfach bewiesen haben, nicht in der Lage zu sein, eine den Corona-Vorgaben entsprechende ordnungsgemäße Veranstaltung durchzuführen, so auch am letzten Wochenende in Frankfurt am Main. Querdenker-Gründer, der Stuttgarter Michael Ballweg, negiert die Gefahren der Pandemie und tat die Missachtung der Maskenpflicht auf der Leipziger Demo als „Ordnungswidrigkeit“ ab. Sachsen hat nach der Leipziger Demo Versammlungen auf 1.000 Teilnehmer begrenzt.

Unterdessen hat der Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher  sich dafür ausgesprochen, während der Pandemie große Demonstrationen in Innenstädten nicht zu gestatten. „Demonstrationen mit Tausenden Teilnehmern, die auf engen Straßen und Plätzen zusammenkommen, sollten unter den derzeit schwierigen Pandemiebedingungen nicht genehmigt werden“, so Tschentscher gegenüber der „Rheinischen Post“

Dass das OVG Bautzen entgegen der Entscheidung der Vorinstanz (VG Leipzig, Az.: 1 L 782/20) nicht die Neue Messe in Leipzig für den  geeigneten Veranstaltungsort hielt, wie von der Stadt Leipzig vorgeschlagen,  sondern den innerstädtischen Leipziger Augustusplatz, wie von den Veranstaltern beantragt, überraschte. Das OVG ging von einer Veranstaltungsfläche von rund 111.400 Quadratmetern aus, der für die zugelassenen 16.000 Teilnehmer als ausreichend erachtet wurde, legt man die sich aus 1,5 Metern Abstandsfläche ergebenden sechs Quadratmeter Fläche pro Teilnehmer als notwendigen abstandswahrenden Platz zugrunde.

OVG-Beschluss: Eher pragmatische Begründung

Die Begründung des Gerichts – es handelte sich um eine Eilentscheidung, die binnen weniger Stunden getroffen werden musste – vermochte zwar nicht wirklich zu überzeugen. Kritiker verweisen vor allem darauf, dass die Fläche um den Augustusplatz nicht ausreichend groß sei. Auch gebe es Mängel an der Argumentation: Werde die Demo „ortsfest auf der angemeldeten Fläche durchgeführt“, so der 6. Senat in seiner Begründung, bestehe „zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich die ohnehin anreisenden Teilnehmer dort überwiegend aufhalten“ und sich nicht ungeordnet auf weitere innerstädtische Flächen verteilen. Dies sind aber an sich nachvollziehbare, eher pragmatische Erwägungen, die das Gericht in seinen Beschluss einfließen ließ. Sie lassen sich mit anderen Worten so interpretieren: Weil sich die sogenannten Querdenker ohnehin nicht an die Vorgaben halten und sich nicht auf dem vom VG Leipzig vorgesehenen Veranstaltungsort einfänden, kann man die Veranstaltung auch gleich am beantragten Ort abhalten. Für den Fall, dass die Auflagen nicht beachtet werden, verwies das OVG auf Maßnahmen des Versammlungsrechts bzw. auf eine Erweiterung der Veranstaltungsfläche auf den benachbarten Innenstadtring. Zwar blieb die versammlungsrechtliche Erlaubnis aus, dennoch wichen die Demonstranten, deren Zahl die 16.000 gerichtlich gestatteten Teilnehmer weit überschritt, auf den Innenstadtring aus – und die rund 3.200 Polizeibeamten hinderten sie nicht daran. Die vom Gericht angenommene ortsfeste Demonstration war damit hinfällig. Aus diesem Vorgang jedoch  nun ein besonderes Wohlwollen des Gerichts  gegenüber Corona-Leugnern abzuleiten, mag für die Boulevardpresse wie den Focus („Richter verantwortet Corona-Verharmlosung in Zeitung“ „Fake News in juristischer Fachzeitschrift“) auf der Hand liegen, trifft aber nicht den Geschehensablauf. Der Bautzener Beschluss beachtet streng die Gewaltenteilung und legt für die Entscheidungsfindung eine nachvollziehbare sachliche Berechnung zugrunde. Angreifbare Äußerungen zu Corona enthält er nicht.

„Vergleichen heißt nicht gleichsetzen“

Auslöser der gegen das Gericht gerichteten Behauptungen ist nun die aktuelle November-Ausgabe der im Richard Boorberg Verlag erscheinenden Sächsischen Verwaltungsblätter, die Findige als Basis ihrer Argumentation heranziehen. Heft 11/2020 enthält einen Aufsatz des Offenbacher Rechtsanwalts Dirk Wüstenberg unter dem Titel „Nächste Epidemie Grippe? Zum Ausstieg aus der Corona-Pandemie“. Titel und Vorspann, nicht optimal gewählt, sowie einige im Hinblick auf medizinische Aussagen unglückliche oder inzwischen durch die Wissenschaft widerlegte Annahmen und Formulierungen in der Abhandlung haben den seit 1999 als Anwalt zugelassenen Juristen nun ebenfalls in die Nähe von Corona-Leugnern rücken lassen. „Mir ging es ausschließlich um die rechtliche Würdigung und Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen im Sommer, als ich den Beitrag verfasst habe“, so Wüstenberg gegenüber dem PUBLICUS. Damals ging es nicht um eine zweite Welle, sondern um eine Bestandsaufnahme des Geschehenen.

Um seine juristische Argumentation zu unterfüttern, habe er Krankheitsdaten von Corona und Grippe miteinander verglichen und RKI-Statistiken interpretiert. „Vergleichen heißt aber nicht gleichsetzen“, erläutert Wüstenberg seine Lesart gegenüber dem PUBLICUS. Verharmlosen wollen habe er die Pandemie keinesfalls.

Meinungsstreite abbilden, heißt nicht, sich mit einer Meinung gemein zu machen

Unglücklich sei der zeitliche Zusammenhang seines Beitrags, der keine Relativierung für eine zweite Corona-Welle enthält, mit den aktuellen Infektionszahlen und der Leipziger Demo. Im Übrigen sei er unpolitisch, so Wüstenberg, und kein Corona-Leugner. Der Autor hat rund 150 juristische Fachartikel veröffentlicht, u.a. auch im Gewerbearchiv, der Zeitschrift DÖV sowie in den Niedersächsischen Verwaltungsblättern und den Thüringer Verwaltungsblättern, die ebenfalls im Richard Boorberg Verlag erscheinen.

Dr. Dirk Tolkmitt, für die Abhandlungen in den SächsVBl zuständig und Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Leipzig, sagte dem MDR: „Ich halte den Zusammenhang zwischen dem Artikel in unserer Zeitschrift und der Entscheidung des OVG für an den Haaren herbeigezogen.“ Der Redaktionsleiter der Sächsischen Verwaltungsblätter und Vorsitzende Richter am OVG Bautzen, Jürgen Meng, teilt die Risikoeinschätzung des Autors Wüstenberg zwar nicht, verweist aber gegenüber dem PUBLICUS darauf, dass Beiträge mit Verfasserangaben die Meinung des jeweiligen Autors wiedergeben. „Juristische Fachzeitschriften leben vom Diskurs und Meinungsstreiten. Es ist also nicht unüblich, kritische Abhandlungen zu publizieren, auch wenn man persönlich anderer Meinung ist“, so die Juristin und Lektorin der SächsVBl Christine Class.

Fertig ist das Narrativ

Zwei der drei Mitglieder der Schriftleitung der Sächsischen Verwaltungsblätter sind Richter am OVG Bautzen, der OVG-Beschluss zur Leipzig-Demo und das Erscheinen des im Hinblick auf die teilweise fragwürdigen medizinischen Aussagen Wüstenberg-Aufsatzes stehen in engem zeitlichen Zusammenhang dazu – fertig ist bei oberflächlicher Betrachtung das Narrativ. Oder anders ausgedrückt: Die Verschwörungstheorie. Mit der Realität indes hat das nichts zu tun.

 

Marcus Preu

Ltg. Lektorat und Redaktion, Rechtsanwalt
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