13.05.2019

Das Wahlrecht wird inklusiv

BVerfG kippt Wahlrechtsausschlüsse für Menschen mit Behinderungen

Das Wahlrecht wird inklusiv

BVerfG kippt Wahlrechtsausschlüsse für Menschen mit Behinderungen

Nun ist der Gesetzgeber am Zug: Menschen mit Behinderungen müssen zu Wahlen zuglassen werden. | © Christian Schwier - Fotolia
Nun ist der Gesetzgeber am Zug: Menschen mit Behinderungen müssen zu Wahlen zuglassen werden. | © Christian Schwier - Fotolia

„Die politischen, religiösen und bürgerlichen Freiheiten lassen sich wohl nur dann auf angemessene Weise sichern, wenn sie für alle gleich gesichert sind. Gibt man manchen Gruppen ein ungleiches Wahlrecht …, so zwingt man sie in eine Position der Unterordnung und Erniedrigung, und das ist eine Missachtung ihrer gleichen Menschenwürde“ (Martha C. Nussbaum. Die Grenzen der Gerechtigkeit, 2010, S. 401).

Für die Demokratie ist die Möglichkeit gleichberechtigter Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung unverzichtbar. Der frühere Präsident des Deutschen Bundestages, Norbert Lammert, bezeichnete daher das Wahlrecht wegen dieser hohen Bedeutung zu Recht als „demokratisches Königsrecht”. So betrachtet hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit seiner neuen Entscheidung vom 29.01.2019 (Az. 2 BvC 62/14) der Königskrone des Wahlrechts einen neuen Zacken hinzugefügt.

Karlsruhe erklärt den Ausschluss vollumfänglich gesetzlich Betreuter und schuldunfähiger Straftäter in psychiatrischen Krankenhäusern zu den Wahlen des Deutschen Bundestages 2013 für verfassungswidrig bzw. letzteren sogar für nichtig. § 13 des Bundeswahlgesetzes (BWahlG) weist bislang beide Gruppen als wahlrechtsunfähig aus. Dieser pauschale Ausschluss verstoße gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 GG) und das Benachteiligungsverbot wegen einer Behinderung aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Betroffen sind etwa 85.000 Menschen in Deutschland.


Die Allgemeinheit der Wahl sichert jedem Staatsbürger das gleiche Maß an politischer Selbstbestimmung zu. Es beinhaltet das Recht zu wählen und gewählt zu werden (aktives und passives Wahlrecht). Ein Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen von der Ausübung des Wahlrechts aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen ist unzulässig. Auch darf die Teilnahme an der Wahl nicht von besonderen, d.h. nicht von jedermann erfüllbaren Voraussetzungen (z.B. Vermögen, Einkommen, Steuerentrichtung, Bildung, Lebensstellung) abhängig gemacht werden.

Kehrtwende der Großen Koalition

Die für die Inklusion behinderter Menschen und die Demokratie wegweisende Entscheidung ist eine kalte Dusche für die Große Koalition. Noch im Februar 2019 wies sie Anträge der Oppositionsparteien auf Aufhebung der Wahlrechtsauschlüsse zurück, obgleich im Koalitionsvertrag vereinbart worden war, Ausschlüsse von Menschen, die sich durch eine Vollbetreuung unterstützen lassen, zu beseitigen. Die Entscheidung des BVerfG hat der Legislative nun Beine gemacht.

Auf gemeinsamen Antrag der Koalition wird ein Gesetz erarbeitet, das am 01.07.2019 in Kraft treten und weitere Regelungen insbesondere zur Bereitstellung von Wahlassistenz enthalten soll. Dies ist allerdings zu spät für die am 26.05.2019 stattfindende Europawahl, die gleichlautende Ausschlussbestimmungen enthält. Union und SPD verwiesen insoweit auf eine Festlegung der Europäischen Kommission für Demokratie und Recht, wonach Änderungen am Wahlrechtssystem mindestens ein Jahr vor einer Wahl erfolgen sollen.

Der von den Bundestagfraktionen der Grünen, FDP und Linken gegen diese fehlende Einbeziehung der Europawahl eingelegte Eilantrag beim BVerfG war erfolgreich. Das Verfassungsgericht als „Ersatzgesetzgeber“ setzte in diesem „Spiel über Bande“ die betreffenden Regelungen des Europawahlgesetzes für die Wahl am 26. Mai mit einem sog. Stuhlurteil am 15.04.2019 mit der Maßgabe außer Kraft, dass unter vom Wahlrecht ausgeschlossene Menschen mit Behinderungen, die eine Aufnahme ins Wählerverzeichnis beantragen haben oder noch beantragen (dies ist bis 21 Tage vor der Wahl möglich) oder gegen ihre Ablehnung Beschwerde eingelegt haben, nun doch an der Wahl zum Europäischen Parlament teilnehmen dürfen. Eine erneute gerichtliche Verbeugung vor der „Königskrone“ des Wahlrechts, die angesichts der Normidentität der betroffenen Wahlgesetze nahe lag.

Fähigkeit zur Kommunikation im demokratischen Prozess als Messlatte

Nicht nur die Politik, sondern auch das BVerfG hat den Kurs gewechselt. In früheren Entscheidungen hatte es den Ausschluss von Betreuten noch pauschal mit dem Hinweis auf ihr angebliches Unvermögen gestützt (vgl. BVerfG, Beschl. vom 23.10.1973, Az. 2 BvC 3/73, BVerfGE 36, 139, 141 f.). Nun hat es die verfassungsrechtliche Messlatte höher gehängt. Ein Eingriff in dieses „vornehmste Recht in der Demokratie“ sei gerechtfertigt, wenn nur durch einen Ausschluss der Charakter einer Wahl als eines „Integrationsvorganges bei der politischen Willensbildung des Volkes“ gesichert werden könne. Dies sei aber nur dann der Fall, wenn bei bestimmten Personengruppen typischerweise davon auszugehen sei, dass die „Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße“ bestehe.

An dieser Hürde mussten die bisherigen Ausschlüsse vom aktiven Wahlrecht scheitern. Der Ausschluss nach § 13 Nr. 2 BWahlG von sog. Vollbetreuten ist danach gleichheitswidrig und lückenhaft, die mögliche typisierende Beschreibung dieser Personengruppe fehlerhaft. Als vollbetreut ist ein Volljähriger anzusehen, der nach § 1896 BGB wegen einer psychischen Erkrankung, körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen sämtliche seiner eigenen Angelegenheiten nicht mehr selbst regeln kann (Vermögenssorge, Aufenthaltsbestimmung, Wohnungsangelegenheiten usw.). Dies sagt indes nichts aus über seine kognitiven Fähigkeiten, die notwendig sind, um eine freie und selbstbestimmte Wahl zu treffen. Wer unter Vollbetreuung stehe, kann durchaus fähig sein, an der Kommunikation zwischen Volk und Staatsorganen teilzuhaben.

Die im Detail komplexen Zusammenhänge aus Recht, Wirtschaft und Kultur, die auch vielen nicht behinderten Erwachsenen zu oft verschlossen bleiben, können für Menschen mit kognitiven Einschränkungen auf einfachere Fragen heruntergebrochen werden. Zudem hat das Gericht zu Recht angemerkt, dass Menschen mit Behinderungen insofern gleichheitswidrig das Wahlrecht eingeräumt wird, wenn die Betreuung erlaubterweise ersatzweise durch Bevollmächtigte oder durch andere Hilfen erfolgt.

Noch klarer spießt das Verfassungsgericht den Ausschluss psychisch kranker Straftäter auf (§ 13 Nr. 3 BWahlG): Dieser Ausschluss sei nicht geeignet, Personen zu erfassen, die typischerweise nicht über die Fähigkeit zur Teilnahme am demokratischen Diskurs verfügen. Die für eine Einweisung in den sog. Maßregelvollzug erforderliche Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB beruhe auf psychischen Erkrankungen, z.B. Schizophrenie oder Persönlichkeitsstörungen, welche primär die Steuerungs-, nicht die intellektuelle Einsichtsfähigkeit beeinträchtigten. Ferner sei die Schuldunfähigkeit bei der Begehung der Straftat maßgeblich, sie müsse nicht während der ganzen Dauer der Unterbringung vorliegen.

Absolutes Verbot vom Tisch

Einen großen Wermutstropfen enthält das Urteil des BVerfG bei allem rechtlichen Wandel jedoch: Die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) begründe als „Auslegungshilfe“ auch für das Grundgesetz kein absolutes Verbot von Wahlrechtsausschlüssen. Art. 29 lit. a BRK, welche die Vertragsstaaten verpflichtet, sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben, damit auch wählen und gewählt werden dürfen, könne kein Verbot „behinderungsspezifischer Wahlrechtsausschlüsse entnommen werden“. Die Regelung sei auf diskriminierungsfreie Entfaltung des freien Wählerwillens gerichtet, setze aber die kognitiven Fähigkeiten voraus, um eine freie und selbstbestimmte Teilhabe zu treffen.

Das BVerfG stellt dabei auch auf den Einsatz von Assistenzleistungen ab, die entsprechende Beeinträchtigungen ausgleichen können. Es folgt damit dem populären Slogan der Behindertenverbände, man „sei nicht behindert, sondern werde behindert“. Der Gesetzgeber ist deshalb verpflichtet, Menschen mit Behinderungen, wirksam zu helfen, damit sie ihr Wahlrecht tatsächlich – und gemäß ihrer eigenen Willensbildung – ausüben können. Hilfen, die unter missbräuchlicher Einflussnahme erfolgen, sollen unzulässig bleiben. Wie kann eine Wahlrechtsassistenz aussehen? Es dürfte um Fragen körperlicher Hilfe, der Begleitung und der Assistenz auch bei der Briefwahl gehen.

Weitere Zacken für die Krone der Demokratie

Es bleibt spannend, wie der Gesetzgeber die Reform des Wahlrechts für Menschen mit Behinderungen inklusiv ausgestalten wird: Es sollte der Schutz der Integrität der Wahl vor Missbrauchs- und Manipulationsgefahren mit in die Waagschale geworfen werden. Das Urteil des BVerfG könnte weitblickend dazu führen, der „Krone der Demokratie“ einen weiteren Zacken hinzufügen: Einige Länder senkten das Wahlalter bereits auf 16 Jahre ab, der Bund könnte folgen.

Hinreichende Verstandesreife ist Voraussetzung des aktiven Stimmrechts, denn Demokratie lebt vom Austausch sachlicher Argumente auf rationaler Ebene (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.06.2018, Az. 10 C 8.17, juris). Den heutigen Jugendlichen ist die ausreichende intellektuelle Reife zu unterstellen, am argumentativen Diskurs teilzunehmen. An der erforderlichen Einsichts- und Kommunikationsfähigkeit junger Menschen dürfte angesichts ihrer erfreulichen Politisierung und profunden Kenntnisse zu Klimaschutz und Urheberrecht kaum zu zweifeln sein. Ihnen und einer inklusiven Gesellschaft gehört die Zukunft.

 

 

Franz Dillmann

Leiter des Bürgeramtes Köln-Rodenkirchen
 

Marco Schütz

Leiter Stabsstelle Recht bei der Arbeiterwohlfahrt Bezirksverband Mittelrhein e.V.

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