16.05.2019

Zwischen Anpassung und Differenzmarkierung

Interview mit Bernd Hallenberg zum neuen Migrantenmilieu-Survey

Zwischen Anpassung und Differenzmarkierung

Interview mit Bernd Hallenberg zum neuen Migrantenmilieu-Survey

vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e. V. veröffentlicht „Migrantenmilieu-Survey 2018“ | © Osterland - stock.adobe.com
vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e. V. veröffentlicht „Migrantenmilieu-Survey 2018“ | © Osterland - stock.adobe.com

Das Interesse am ersten Sinus-Migranten-Milieumodell von 2008 war bereits groß, der Einfluss auf die Sozialforschung ebenso. Zehn Jahre später aber schien es dem vhw erforderlich, das Modell der Lebenswelten und Grundorientierungen zu aktualisieren. Die Gründe sind ebenso zahlreich wie naheliegend: Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist seit 2005 um mehr als ein Viertel gewachsen und stellt mit 19 Millionen Menschen 2018 knapp ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Sie umfasst Ausländer, Doppelstaater und deutsche Staatsangehörige mit und ohne eigene Zuwanderungserfahrung. Sie sind als Aus- und Übersiedler, Arbeitsmigranten und Experten oder auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und sozialer Perspektivlosigkeit nach Deutschland gekommen. Frank Jost vom Forum Wohnen und Stadtentwicklung (FWS) sprach mit Bernd Hallenberg über den neuen Survey.

FWS: Herr Hallenberg, ist es heute überhaupt noch sinnvoll, die Bevölkerung mit Migrationshintergrund in einer Befragung abzugrenzen? Dies wird doch häufig auch kritisch gesehen.
Bernd Hallenberg: Die Frage ist berechtigt. Tatsächlich ist die Mehrheit jener Bürger, die ihre Wurzeln in anderen Ländern und Kulturen haben, heute in jeder Hinsicht integriert und selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. Aus dieser Perspektive macht eine solche Abgrenzung also keinen Sinn. Doch bei dieser Fokussierung geht es darum, Unterschiede bei Bedürfnissen, kulturelle Besonderheiten, aber auch fortbestehende Integrationshindernisse oder Benachteiligungen zu ermitteln und abzubauen. Dazu benötigen wir derzeit noch eine solche Abgrenzung. Die Definition stammt im Übrigen nicht von uns, sondern vom Statistischen Bundesamt und der Bundesagentur für Arbeit. Viele Studien beschränken sich inzwischen auf die Befragung von Teilgruppen, etwa Türkei-Stämmige oder Muslime. Ein solches Vorgehen würde für unsere Arbeit aber viel zu kurz greifen.

Wie würden Sie den neuen Survey in der aktuellen Integrationsdebatte einordnen?
Die Arbeit des vhw zielt auf eine bessere und gerechte Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen und eine Stärkung des Zusammenhalts. Um dieses Ziel aktiv zu verfolgen, brauchen wir aktuelle und differenzierte Kenntnisse über die Lebensumstände, Einstellungen und Werte aller Gruppen der Gesellschaft, gerade auch solcher mit Zuwanderungsgeschichte. Zudem konkurrieren unterschiedliche Vorstellungen darüber, was Integration bewirken soll. Wir liefern dazu einen wesentlichen Beitrag: Die Sicht der Betroffenen auf ihr Leben hierzulande.


Welchen Vorteil hat die Milieuforschung im Vergleich zu anderen Ansätzen, Vielfalt abzubilden?
Der vhw hat damit ja bereits 2002 begonnen, aus einer simplen Erkenntnis heraus: Herkömmliche Merkmale, etwa zur sozialen Lage, zum Alter oder zum Haushaltstyp, reichen alleine nicht mehr aus, um Einstellungen oder typische Verhaltensmuster sozialer Gruppen zu erklären und zu verstehen. Gerne haben wir dabei auf die „sozio-demografischen Zwillinge“ verwiesen, die sich nach traditioneller Lesart so ähnlich sind – und am Ende doch ganz anders unterschiedlich handeln. Hier füllt der Milieuansatz eine Lücke – aber als Ergänzung, nicht als Ersatz etwa von Lebenslage oder Lebensphase. Dies gilt natürlich entsprechend für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte.

Die Debatte über die Integration von Zugewanderten im Allgemeinen und von Geflüchteten im Besonderen ist sehr heftig geworden und hat die Gesellschaft polarisiert. Was sagt der Survey zum Stand der Integration von Zugewanderten in Deutschland?
Eingangs habe ich erwähnt, dass die Integration insgesamt weit fortgeschritten ist, gerade auch im Vergleich zur ersten Migranten-Milieustudie 2008. Doch es bleiben auch aus Sicht der Befragten durchaus unterschiedliche Vorstellungen darüber, was Integration bedeutet. Einige, vor allem die Milieus der Mitte, wollen sich umfassend anpassen; die Soziologie nennt dies Assimilation. Ein breiterer Teil orientiert sich ganz selbstverständlich bi-kulturell. Die Allermeisten wollen sich an Deutschland und die Einheimischen anpassen, aber zugleich unbedingt ihre kulturellen Wurzeln und Gepflogenheiten bewahren. Ein kleiner Teil der Befragten ist in eine Abwärtsspirale aus Abwendung, Rückzug, Ausgrenzung und sozialer Benachteiligung und geraten. Besonders interessant ist die Entwicklung, die sich am besten im Statusbewussten Milieu zeigt: Man ist aufstiegsorientiert, hält sich an Regeln, Gesetze und Gepflogenheiten und markiert zugleich offensiv das – kulturelle – Anderssein. Ähnliches haben renommierte Soziologen festgestellt; Heinz Bude hat etwa von „prononcierter Differenzmarkierung“ gesprochen. Die Geflüchteten wollen sich unbedingt anpassen und ankommen, befinden sich aber meist noch in einer Übergangsphase.

Wie nehmen die Menschen mit Zuwanderungshintergrund die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre wahr? Welche Sorgen und Probleme treiben sie um?
Bemerkenswert ist die Ähnlichkeit oder weitgehende Übereinstimmung mit vielen Ansichten der Herkunfts-Deutschen. Gerade hierin zeigt sich das breite und längst erfolgte Angekommen-Sein und die Verankerung in der Gesellschaft. Diese Übereinstimmungen zeigen sich in der Kritik an vielen gesellschaftlichen Zuständen, Politikern oder etlichen globalen Entwicklungen. Auch Medienkritik ist weit verbreitet. Sorgen bereitet vielen natürlich der zugespitzte Diskurs und das Aufkommen des Rechtspopulismus – und nicht zuletzt der Fortbestand von Benachteiligungen aller Art, ob bei der Wohnungssuche oder im Umgang mit Behörden. Dies ist ja in der #MeTwo-Debatte noch einmal sehr deutlich geworden. Und ähnlich wie in der Gesamtgesellschaft wird der sorgenvolle Blick in Land und Welt bei den meisten Befragten von einem optimistischen Blick in die eigene oder familiäre Zukunft begleitet – außer bei den „abgehängten“ Milieus.

Welche Rolle spielen Religion und Religiosität für die Identität der Menschen? Haben sich die Be-funde, die in den letzten Jahren ermittelt wurden – etwa durch das Exzellenz-Cluster der Uni Münster oder das Zentrum für Türkeistudien – auch in dieser Befragung bestätigt?
Teils, teils. Insgesamt hat die Religion nicht an Bedeutung zugenommen. Doch dieses Bild geht lebensweltlich auseinander. Manche Milieus haben sich, durchaus mit unterschiedlichen Motiven, stärker der Religion zugewandt – als Identitätsanker oder zur Markierung des kulturellen Unterschieds, manchmal ohne sie konkret zu praktizieren, wie etwa bei den Prekären oder Hedonisten. Am „modernen Ende“ des Milieuspektrums verläuft die Entwicklung entgegengesetzt, die Religion verliert dort an Gewicht. Dies gilt auch innerhalb der einzelnen Religionen, etwa bei Muslimen oder orthodoxen Christen. Gerade hier zeigt sich der fatale Fehler undifferenzierter Zuschreibungen, die dann diskursleitend werden. Religion bleibt ein wichtiger Anker oder sogar Rückzugsraum für manche, verliert aber mit neuen lebensweltlichen Orientierungen sichtbar an Be-deutung.

Das Aufkommen des Rechtspopulismus und die Fluchtzuwanderung der letzten Jahre haben die Stimmung im Lande geprägt. Wie bewerten die Befragten auch vor diesem Hintergrund das Zu-sammenleben im Land?
Bemerkenswert gut, aber nicht sorgenfrei. Zwei Drittel bezeichnen das Zusammenleben als „sehr“ oder „eher“ gut, ein gutes Viertel als „eher“ oder „sehr“ schlecht; letzteres allerdings nur mit 2%. Die relative Mehrheit meint zudem, es habe sich in den letzten Jahren nicht verändert. Doch immerhin 30% finden, es sei schlechter geworden und nur 22%, es habe sich verbessert. Interessant sind zwei Aspekte: Zum einen wird eine Verschlechterung sowohl bei den ins Abseits geratenen Milieus als auch bei den gesellschaftskritischen Kosmopolitisch-Intellektuellen besonders häufig gesehen, also in ganz unterschiedlichen Milieus. Zum anderen zeigt sich gerade bei dieser Frage die enorme Bedeutung von vielfältigen Kontakten in die Gesamtgesellschaft. Je häufiger die persönlichen Kontakte zu Einheimischen sind, desto besser wird das Zusammenleben bewertet – und umgekehrt.

In einer kürzlich veröffentlichten Studie und in vielen einzelnen Beiträgen ist vor allem von einer „sichtbaren Diskriminierung“ die Rede, die an das äußere Erscheinungsbild der Betroffenen an-knüpft. Gibt es dazu entsprechende Befunde in dem Survey?
Ja, und diese sind sehr eindeutig. Viele derjenigen, die sich diskriminiert fühlen, berichten zudem von Kontaktablehnung durch die Herkunftsdeutschen. Die stärksten Diskriminierungswahrnehmungen sind bei Befragten mit Wurzeln in Nordafrika, dem nahöstlichen Raum oder der Türkei zu finden, gefolgt von Afrikanern. Interessant ist, dass sich das Empfinden von Benachteiligungen vor allem auf die nicht-persönlichen Felder wie Wohnungsmarkt, Behörden oder Arbeitsmarkt verlagert hat. Diskriminierungen am Arbeitsplatz, in Uni oder Schule sind dagegen leicht rückläufig. Im Übrigen gilt auch in diesem Feld: Je kontaktärmer die Befragten sind, desto stärker werden Benachteiligungen wahrgenommen.

Welche Rolle spielen typische Muster von Mediennutzung und Kommunikation für das Thema „soziale Teilhabe“ in den Städten? Wie informieren sich die Befragten?
Das ist ein breites Feld. Zum einen ist das generelle Interesse an Vorgängen im Wohnquartier oder auch in der Gesamtstadt zwischen den Milieus durchaus unterschiedlich ausgeprägt. Gerade die abgehängten Milieus zeigen oft weniger Interesse. Die dominierende Rolle fällt weiterhin den Informationen aus der Familie oder dem Freundeskreis zu. Auch die Lokalzeitung ist für einige, gerade die modernen Milieus, relevant. Wesentlich weniger bedeutend für Informationen über das Quartier oder die Stadt sind Internet und soziale Medien, was durchaus überraschen kann. Wichtig wird sein, die Kontaktvielfalt auch für die Randgruppen zu stärken, da bei ihnen ansonsten Informationen nur durch wenige Kanäle ankommen. Dies gilt auch für die Hinwendung einiger Milieus zu Herkunfts-homogenen Vereinen, denn Intermediäre spielen eine wichtige Rolle für Information und Meinungsbildung.

Die Wohnungsknappheit wird in vielen Städten zu einem immer mehr drängenden Problem. Wie sehen die Befragten ihre Situation? Wollen und können sie etwas an ihrer derzeitigen Lage ändern?
Viele sind – gerade auch unter den Bedingungen des Wohnungsmangels in vielen Städten – unzufrieden mit ihrer Wohnsituation, knapp die Hälfte möchte ihre Situation verbessern – und zwar in den meisten Milieus. Denn die Wohnsituation ist nur einer Minderheit eher gleichgültig. Ein bemerkenswerter, bereits zweistelliger Teil der Befragten strebt in den nächsten Jahren Wohneigentum an, besonders ausgeprägt bei den jüngeren oder statusorientierten Milieus. Das deckt sich mit den Erkenntnissen aus dem Mikrozensus und anderen Studien. Wichtig sind den Befragten – neben Mieten und Preisen – bei einem möglichen Umzug die Sicherheitslage, Einrichtungen für Kinder und Jugendliche und auch eine gute Anbindung. Nur ein Viertel möchte in ethnisch homogenen Nachbarschaften leben, die allermeisten wollen in gemischten Quartieren wohnen.

Welche Fragen ergeben sich daraus für die Stadtentwicklung, etwa im Zusammenhang mit ge-mischt zusammengesetzten Quartieren?
Ein Problem entsteht daraus, dass sich gerade solche Milieus, die sich selbst als Kulturmittler oder Brückenbauer verstehen, eine Verbesserung der Wohnsituation oder die Wohneigentumsbildung vorstellen können. Sie könnten dann in jenen Quartieren fehlen, wo solche Funktionen besonders wichtig sind. Hier sollte versucht werden, die Ansprüche der aufstrebenden Milieus mit den Bridging-Zielen in Einklang zu bringen, etwa durch neue Angebote vor Ort.

Der vhw will unter anderem die Kommunen dabei unterstützen, mit der größer werdenden Vielfalt der Gesellschaft umzugehen. Welchen Beitrag kann der Survey dazu leisten?
In der Tat ist die Vielfalt in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen größer geworden, vom Wertespektrum bis zur Gestaltung des Alltagslebens. Wer unter den Bedingungen von Vielfalt handeln will, den Zusammenhalt stärken und Maßnahmen bedürfnisnah zuschneiden will, muss diese zunehmende Vielfalt kennen und verstehen. Deshalb haben wir ein dreistufiges Projekt durchgeführt, an dessen Ende die von uns seit langem genutzte mikrogeografische Abbildung der neuen Milieus steht. Damit können Kommunen feststellen, welche Gruppen stark oder weniger stark vertreten sind und damit sehr viel gezielter auf deren Bedürfnisse und Einstellungen eingehen, als mit herkömmlichen Daten. Die Befragung liefert Anhaltspunkte für konkretes Handeln in vielen Feldern, von Wohnwünschen über die Ansprüche an den öffentlichen Raum, die Rolle von Vereinen und Initiativen bis zu den Hürden für eine breitere Partizipation vor Ort. Hier kann angesetzt werden.

Alles in allem: Wenn Sie die aktuellen Ergebnisse der Befragung mit jenen von 2008 vergleichen, was sind die wichtigsten Änderungen?
Das Werte- und Einstellungsspektrum ist erneut breiter geworden, die Vielfalt in diesem Sinne größer. Die deutliche Mehrheit der Befragten ist besser integriert als 2008. Doch zu den ausgegrenzten und sich zurückziehenden Milieus an den sozialen und lebensweltlichen „Rändern“ ist die Kluft etwas gewachsen. Dies gilt insbesondere für das weiterhin kleine religiös-verwurzelte Milieu, aber auch für die prekären Milieus. Überdeutlich ist der Zusammenhang zwischen Sprachkompetenz, Kontaktvielfalt und den Folgen für das Zusammenleben. Hier muss weiter und intensiv gearbeitet werden, gerade auch bei den Geflüchteten. Interessant ist die Kombination aus Aufstiegsorientierung und Tradition, wie sie sich bei den Statusbewussten herausgebildet hat. Dieses Muster darf nicht zu gesellschaftlichen Abwehrreaktionen führen, sondern sollte als Normalität Anerkennung finden. Relativ langsam zeigen sich neue Orientierungen bei traditionellen Familien- und Rollenbildern, in diesem Feld bleiben die Geschwindigkeiten unterschiedlich. Gerade hinsichtlich der Bedeutung von Familienbindung sehen die meisten Befragten den größten Unterschied zur Gesamtgesellschaft. Die jüngeren Milieus entfernen sich allerdings zunehmend von den traditionellen Rollenbildern ihrer Eltern oder Großeltern – da ist einiges in Bewegung geraten.

Was bedeutet diese Entwicklung für das Milieumodell der Gesamtgesellschaft?
Der moderne, teilweise auch der bürgerliche Teil der neuen Milieulandschaft ist praktisch nicht mehr vom gesamtgesellschaftlichen Modell der Sinus-Milieus© zu unterscheiden. Dies schlägt sich übrigens auch in der Angleichung der Milieubezeichnungen nieder. Beide Modelle wachsen lebensweltlich zusammen – bis auf den traditionellen Rand.

Wie will der vhw die Ergebnisse für seine vielfältige Arbeit für und mit den Kommunen künftig nutzen?
Der vhw beschäftigt sich eingehend mit Themen der lokalen Integration und arbeitet aktiv mit vielen Kommunen zusammen. Damit eng verbunden sind Fragen des Zugangs zu allen gesellschaftlichen Gruppen, der Partizipation vor Ort und damit letztlich des sozialen Zusammenhalts. Wie können wir Menschen mit Migrationshintergrund besser einbinden und gerecht teilhaben lassen? Wie können wir kommunale Integration resilient, also belastungsfest machen? Gerade hier haben wir wichtige Hinweise gewonnen, die es in den kommenden Jahren im Zusammenspiel mit anderen Akteuren zu nutzen gilt.

Herr Hallenberg, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

 

Hinweis der Redaktion: Den vollständigen vhw-Migrantenmilieu-Survey 2018 finden Sie unter folgendem Link.

 

vhw

Der vhw ist ein gemeinnütziger Verband. Er engagiert sich durch Fortbildung und Forschung in den Handlungsfeldern Wohnen und Stadtentwicklung für die Leistungsfähigkeit der Kommunen, eine vielfältige Bürgergesellschaft und die Stärkung der lokalen Demokratie.

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