27.05.2019

Legal Tech in der Justiz

Kann und darf Software den Richter ersetzen?

Legal Tech in der Justiz

Kann und darf Software den Richter ersetzen?

Computer sind auf dem Vormarsch. | © thodonal - stock.adobe.com
Computer sind auf dem Vormarsch. | © thodonal - stock.adobe.com

Vieles, was früher noch undenkbar schien, ist heute Realität. Die Digitalisierung ist mittlerweile so weit vorangeschritten, dass unter dem Begriff Legal Tech auch in der Justiz ganz selbstverständlich viele Arbeiten von einem Computer übernommen werden. Was spricht also dagegen, dass in Zukunft auch die Rechtsprechung von einem Computer – einem „Robo-Judge“ – übernommen werden könnte? Auf diese Frage möchte der Beitrag einige Antworten liefern.

Legal Tech in der Justiz

Was versteht man überhaupt unter „Legal Tech“? Da es bisher keine einheitliche Definition gibt, lässt sich unter dem Begriff ganz grob jede Informationstechnik zusammenfassen, die im juristischen Bereich zum Einsatz gelangt. Um bei diesem weiten Begriffsverständnis einen besseren Überblick zu bekommen, bietet es sich an, die darunter fallenden verfügbaren Technologien zu kategorisieren. Eine an den Auswirkungen orientierte Einteilung unterscheidet zwischen Legal Tech 1.0, 2.0 und 3.0. „Legal Tech 1.0“ soll den Anwender innerhalb des bestehenden Systems unterstützen – bspw. mit einer computergestützten Recherche (juris, beck-online etc.) oder mit Software zur Büroorganisation und Kommunikation.

„Legal Tech 2.0“ ersetzt bereits einzelne Juristen innerhalb des gegenwärtigen Systems. Dies geschieht durch Software, die standardisierte juristische Arbeiten selbstständig ausführt, z. B. Vertragstexte prüft oder selbst Verträge erstellt. „Legal Tech 3.0“ stellt das gesamte bisherige System in Frage. Die darunter zusammengefasste Technik soll zukünftig in der Lage sein, den Juristen als Person vollständig zu ersetzen und an dessen Stelle selbstständig anspruchsvolle juristische Arbeiten zu erbringen.


Die Einsatzbereiche von Legal Tech im Gerichtswesen sind bereits vielfältig. Neben der selbstverständlichen Nutzung von computergestützten Rechercheplattformen bemüht sich die Justiz, alle Gerichte auf die elektronische Aktenführung und den elektronischen Rechtsverkehr umzustellen. Eine Vorreiterrolle in Deutschland übernimmt auf diesem Gebiet das Arbeitsgericht Stuttgart, das zum 1. Oktober 2018 als erstes deutsches Gericht vollständig auf die elektronische Aktenführung umgestellt hat. Damit soll die Arbeitsökonomie des Gerichts optimiert werden. Durch die Möglichkeit des parallelen Zugriffs mehrerer Mitarbeiter auf die Akte würden interne Aktenlaufzeiten wegfallen und durch den elektronischen Rechtsverkehr zudem Postlaufzeiten eingespart, sodass insgesamt die Verfahrenszeit verkürzt werden könne.

Auch bei der strafprozessualen Beweisaufnahme spielt Legal Tech eine Rolle. Mittlerweile werden mithilfe von 3D-Lasermesssystemen immer mehr Tatorte vermessen, um im Anschluss daran dreidimensionale Modelle zu erstellen, die es erlauben, auch noch Jahre später die Orte in Augenschein zu nehmen. Dies hat den Vorteil, dass nicht nur solche Aufnahmen des Tatorts gemacht werden, die dem Ermittler vor Ort als wichtig erscheinen, sondern dass auch zunächst unscheinbare Details erfasst werden, die evtl. zu einem späteren Zeitpunkt relevant werden könnten.

Ein weiteres Beispiel für den Einsatz von Legal Tech an Gerichten bietet die heute selbstverständliche elektronische Registerführung, z. B. des Handelsregisters (vgl. § 8 HGB) oder des Grundbuchs (§§ 126 ff. GBO). Ein Pilotprojekt in Schweden erprobt bereits, das Grundbuch vollständig auf einer Blockchain abzubilden. Bei der Blockchain handelt es sich um eine dezentral organisierte, in vielfacher Ausführung im Internet gespeicherte und verteilte Datenbank, in der jede Veränderung nachvollziehbar ist. Dieses System würde die Abwicklungszeit für Transaktionen verkürzen und könnte nach teilweise vertretener Ansicht Grundbuchämter und Notare überflüssig machen. Der wohl heikelste denkbare Bereich für die Anwendung von Legal Tech ist die ureigene Aufgabe des Richters – die Rechtsprechung. Dieses Thema ist an deutschen Gerichten zwar bisher noch Zukunftsmusik, jedoch nimmt es immer mehr Platz in der einschlägigen juristischen Literatur ein. Ausgehend von der rechtshistorischen und rechtsphilosophischen Entwicklung des aktuellen Richterbildes möchte dieser Beitrag aufzeigen, wozu eine Software technisch in der Lage sein müsste, um den Richter durch Legal Tech zu ersetzen, und welche verfassungsrechtlichen Vorgaben dem entgegenstehen könnten.

Richterbild und Legal Tech

Im 19. Jahrhundert betrachteten Vertreter der sog. Begriffsjurisprudenz das Recht als ein geschlossenes System aus Begriffen im Sinne einer „Begriffspyramide“. An deren Spitze stünde ein allgemeinster Begriff, unter dem alle darunter liegenden Begriffe subsumiert werden könnten. So könnten aus bestehenden Begriffen jeweils neue logisch abgeleitet werden. Damit ließen sich unter diese Begrifflichkeiten alle Rechtsfälle subsumieren und damit entscheiden. Es entstand das Dogma von der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung. Der Richter sei umfassend an das positive Recht gebunden und seine Aufgabe bestehe ausschließlich in der Deduktion aus vorformulierten oder „rein logisch“ zu gewinnenden Rechtssätzen. Seine Aufgabe sei die eines „(…) Rechtsautomaten, in welchen man oben den Tatbestand nebst Kosten einwirft, auf dass er unten das Urteil nebst Gründen ausspeie (…)“ (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Auflage 1956, 2. Halbband, S. 507).

Dieses „Primat der Logik“ wurde verdrängt durch ein „Primat der Lebensforschung und Lebenswertung“ der sog. Interessenjurisprudenz. Sie betrachtete das Recht als eine Zweckordnung bzw. ein Arrangement von Interessen. Der Ursprung von Normen liege in den konkurrierenden materiellen, geistigen und religiösen Wertvorstellungen gesellschaftlicher Gruppen. Die Aufgabe des Richters sei es, diese Interessen zu erforschen und die im Gesetz enthaltenen Konfliktentscheidung zu konkretisieren. Recht entstehe durch Abwägung widerstreitender Interessen und nicht, wie noch in der Begriffsjurisprudenz, aus wissenschaftlichen Begriffen.

Die Interessenjurisprudenz sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, die Interessen, die der Richter beachten sollte, nicht deutlich zu benennen. Sie unterscheide nicht ausreichend zwischen real konkurrierenden Interessen und gesetzlich normierten Werturteilen. Dies führte zur Entwicklung der heute herrschenden Lehre von der sog. Wertungsjurisprudenz. Sie trennt faktische Begehrungsvorstellungen von den Maßstäben, nach denen die Interessen vom Gesetz bewertet werden. Der Richter bestimmt nunmehr die Interessen nicht einseitig, sondern anhand der Wertungen des Gesetzes. Wo das Gesetz keine Vorgabe macht, ist das Verfassungsrecht als Werteordnung der Maßstab.

Der Richter muss also Sachverhalte anhand des Gesetzes bewerten und divergierende Interessen gegeneinander abwägen können. Genau dazu müsste, soweit man den Richter durch Legal Tech ersetzen wollte, ein Computer technisch in der Lage sein. Dieser nutzt für die Ergebnisfindung Algorithmen, die einen sog. Binärcode (1/0; wahr/falsch) verwenden. Mit ihm ist ein Algorithmus stets berechenbar und niemals kontingent, die Ergebnisse sind immer eindeutig. Die Ergebnisse von Wertungs- und Abwägungsvorgängen können hingegen von Natur aus, aufgrund der teilweise erheblichen Bewertungsspielräume, grundsätzlich nicht als eindeutig richtig oder eindeutig falsch eingestuft werden – das macht bereits die umfangreiche Kommentarliteratur deutlich. Auch Rechtsnormen, die zunächst in einen Algorithmus transformiert werden müssten, kommt ein solcher Wahrheitswert nicht zu. Sie beschreiben lediglich „Soll-Sätze“ und können weder wahr noch falsch sein. Unter diesen Voraussetzungen kann ein Computer, der ausschließlich eine formale – d. h. eine vollständig definierte und in ihrer Interpretation eindeutige – Sprache nutzt, nicht arbeiten.

Verfassungsrechtliche Probleme

Nach Art. 92 Hs. 1 GG ist die rechtsprechende Gewalt „den Richtern“ anvertraut. Dieser Begriff des Richters umfasst sämtliche Personen, die Rechtsprechung ausüben. Nur ihnen als Individuen und nicht abstrakten, anonymen Institutionen der Justiz wird die Rechtsprechung anvertraut. Die verbindliche Entscheidung streitiger Sachverhalte soll demzufolge nur dazu legitimierten, natürlichen Personen vorbehalten sein. In Konkretisierung dieser verfassungsrechtlichen Wertung verlangt § 9 Nr. 4 DRiG darüber hinaus „soziale Kompetenz“. Diese umfasst Fähigkeiten bzw. Eigenschaften (z. B. Zuhören, Verhandeln, soziales Verständnis), die genuin menschlich sind und sich (aktuell) nicht in einem Computerprogramm darstellen lassen. Problematisch im Hinblick auf eine rechtsprechende Software wäre außerdem Art. 103 I GG. Danach hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Das heißt, „[d]er Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können( )“ (BVerfGE 107, 395 (409), Rn. 38). Dies beinhaltet neben dem Recht auf Information und dem Äußerungsrecht insbesondere das Recht auf Berücksichtigung; d. h., das Gericht muss die Äußerungen zur Kenntnis nehmen und in seine Erwägungen einbeziehen. Es muss dabei innerlich bereit sein, die Ausführungen der Beteiligten zu rezipieren und es muss sie in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht auf Erheblichkeit und Richtigkeit überprüfen. Gegenwärtig ist unwahrscheinlich, dass eine Software dazu in absehbarer Zeit in der Lage sein wird. Die Komplexität von Lebenssachverhalten und der daraus resultierenden Äußerungen würde voraussetzen, dass ein Computersystem diese umfassend erfassen, qualitativ bewerten und gegeneinander abwägen kann. Dazu ist jedoch (bisher) nur der Mensch in der Lage. Nur er kann die Ausführungen der Beteiligten in den richtigen Kontext einfügen, reflektieren, inwiefern sie für das Verfahren von Bedeutung sind, gewichten und gegebenenfalls gegeneinander abwägen.

Damit der Betroffene nachvollziehen kann, ob sein Parteivorbringen hinreichend berücksichtigt wurde, folgt aus Art. 103 I GG zudem eine Begründungspflicht. Diese erfüllt das Gericht dann, wenn es in seiner Begründung auf alle Tatsachen eingeht, die für die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung wesentlich sind. Einer solchen Pflicht kann eine softwarebasierte Rechtsprechung nur schwer nachkommen. Sie verspricht zwar, aufgrund von mathematisch-logischen Prozessen, Objektivität – und damit Nachvollziehbarkeit –, jedoch können die in Programmcode gefassten Entscheidungsmaßstäbe vom Nutzer der Software regelmäßig nicht nachvollzogen werden. Damit wäre auch einer Begründungspflicht aus Art. 103 I GG nicht hinreichend Genüge getan.

Verfassungsrechtlich problematisch erscheint zudem die Frage, wer zur Programmierung einer Software, die den Richter ersetzen soll, legitimiert ist. Aufgrund der Unbestimmtheit und Kontextabhängigkeit der natürlichen Sprache ist es insbesondere fraglich, ob nicht bereits die Transformation einer Rechtsnorm in einen Algorithmus eine Wertung derselben darstellt. Zu solch einer gesetzlichen Wertung wäre grundsätzlich nur der Gesetzgeber befugt. Es wäre nicht mit dem Demokratieprinzip (Art. 20 I GG) vereinbar, wenn ein Dritter (Programmierer) diese Wertungen vornehmen würde.

Geht man davon aus, dass mit Umwandlung einer Norm in einen Algorithmus bereits eine gesetzgeberische Wertung erfolgt, so ist auch das rechtstaatliche Prinzip der Gewaltenteilung (Art. 20 II 2 GG) betroffen. Es dient zur Mäßigung und zur Verhütung des Missbrauchs staatlicher Gewalt und soll eine gegenseitige Kontrolle der drei Staatsgewalten ermöglichen (System der sog. checks and balances). Welche Möglichkeiten der richterlichen Kontrolle der Gesetzgebung verblieben aber, wenn der Gesetzgeber mithilfe von Algorithmen gesetzliche Wertungen und damit wohl auch die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe abschließend vorschreiben würde? Würde damit eine unabhängige Rechtsprechung (Art. 97 GG) nicht obsolet werden und würden nicht sogar in letzter Konsequenz Legislative und Judikative faktisch verschmelzen?

Fazit

Legal Tech wird schon in beachtlichem Umfang an den Gerichten genutzt. Ob es irgendwann einmal dazu kommt, dass ein „Robo-Judge“ die letztverbindliche Entscheidung streitiger Rechtsfälle übernimmt, hängt zum einen von den technischen Voraussetzungen und zum anderen von der Lösung der verfassungsrechtlichen Probleme ab. Auf jeden Fall dürfte es noch ein langer Weg dahin sein.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag entstammt der aktuellen Ausgabe »Der Wirtschaftsführer für junge Juristen«.

Um den Wirtschaftsführer auch unterwegs bequem lesen zu können, finden Sie hier unsere »Wirtschaftsführer-App«.

 

Prof. Dr. Martin Schulte

Institut für Geistiges Eigentum, Technik- und Medienrecht, Technische Universität Dresden
 

Robby Walkstein

Wissenschaftliche Hilfskraft, Technische Universität Dresden

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