09.06.2021

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz

Neue Anforderungen an Produkte und Dienstleistungen

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz

Neue Anforderungen an Produkte und Dienstleistungen

Die Pflichten betreffen die Hersteller, Importeure und Händler der Produkte sowie die Dienstleistungserbringer. ©Fokussiert - stock.adobe.com
Die Pflichten betreffen die Hersteller, Importeure und Händler der Produkte sowie die Dienstleistungserbringer. ©Fokussiert - stock.adobe.com

Trotz fortgeschrittener Digitalisierung und zahlreicher Technologien ist es für Menschen mit Behinderung oft nicht möglich, ganz alltägliche Dinge wie Computer, Bankautomaten oder Online-Shops zu nutzen. Dies soll sich durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz ändern. Wirtschaftsakteure sind ab dem 28. Juni 2025 verpflichtet, sicherzustellen, dass bestimmte Produkte und Dienstleistungen barrierefrei zugänglich und nutzbar sind.

European Accessibility Act

Die Richtlinie (EU) 2019/882 über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen – der sogenannte European Accessibility Act (kurz: EAA) – ist bis zum 28. Juni 2022 in nationale Regelungen umzusetzen. Mit dem EAA ist ein Meilenstein gelegt worden. Erstmals werden umfassende Anforderungen an die Barrierefreiheit von bestimmten Produkten und Dienstleistungen aufgestellt, die private Wirtschaftsakteure in der ganzen EU zukünftig beachten und einhalten müssen. Damit wird das Ziel verfolgt, das Recht auf Teilhabe am Leben in der Gesellschaft für Menschen mit Behinderung zu stärken, Zugangshindernisse abzubauen und der Harmonisierung des Binnenmarktes Rechnung zu tragen. Die EU-Mitgliedstaaten sind verpflichtet, durch die gesetzliche Verankerung der Vorgaben und ihrer effektiven Durchsetzung sicherzustellen, dass die Produkte und Dienstleistungen auf dem europäischen Markt nur noch angeboten werden, wenn sie die Barrierefreiheitsanforderungen erfüllen. Der deutsche Gesetzgeber ist seiner Umsetzungspflicht nun nachgekommen: Mit dem am 20. Mai 2021 vom Bundestag verabschiedeten Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) wird der EAA nahezu eins zu eins in nationales Recht umgesetzt.

Sachlicher Anwendungsbereich

Der Anwendungsbereich des BFSG bezieht sich auf Produkte und Dienstleistungen, die für Menschen mit Behinderung als besonders wichtig und alltagsrelevant eingestuft wurden. Betroffen sind vor allem Produkte der Informations- und Kommunikationstechnologie. So unterfallen Hardware-Systeme für Verbraucher-Universalrechner einschließlich ihrer Betriebssysteme den Barrierefreiheitsanforderungen, wozu insbesondere PCs, Desktops, Notebooks, Smartphones und Tablets gehören. Neben E-Book-Lesegeräten und E-Books findet das BFSG auch ausdrücklich Anwendung auf Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, die für den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten oder für Telekommunikationsdienste verwendet werden. Da unter den Begriff der audiovisuellen Mediendienste, neben den audiovisuellen Angeboten der öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehanstalten, auch die Video-on-Demand-Angebote von Streaming-Diensten fallen, sind jegliche Geräte, deren Hauptzweck es ist, Zugang zu solchen Diensten zu gewähren, wie z.B. Smart-TVs, von dieser Kategorie erfasst. Auch Spielekonsolen oder Streaming-Sticks gehören dazu.


Der Katalog erstreckt sich zudem auf Selbstbedienungsterminals wie Geld-, Fahrausweis- und Check-In-Automaten und erfasst im Bereich der Dienstleistungen unter anderem Telefondienste, Messenger-Dienste, auf Mobilgeräten angebotene Dienstleistungen (Apps), Personenbeförderungsdienste sowie Bankdienstleistungen für Verbraucher. Die Regelungen zur Barrierefreiheit haben auch Auswirkungen auf den gesamten eCommerce. Der gesamte Online-Handel für Verbraucher/-innen soll barrierefrei gestaltet werden. Die Anforderungen gelten für den Online-Verkauf jeglicher Produkte und Dienstleistungen und erfassen jene Dienstleistungen, die über Websites oder Apps im Hinblick auf den Abschluss eines Verbrauchervertrages erbracht werden. Lediglich Kleinstunternehmen, also Unternehmen, die weniger als zehn Beschäftigte und höchstens einen Jahresumsatz oder eine Jahresbilanzsumme von zwei Millionen Euro haben, sind von dieser Verpflichtung ausgenommen.

Auswirkungen für Hersteller

Die Pflichten betreffen die Hersteller, Importeure und Händler der Produkte sowie die Dienstleistungserbringer. Anders als die Richtlinie bezieht das Gesetz explizit den „Quasi-Hersteller“ in den persönlichen Anwendungsbereich mit ein. So werden die für Hersteller geltenden Pflichten auch auf Personen, die sich als Hersteller ausgeben, indem sie ein Produkt unter ihrem eigenen Namen oder ihrer eigenen Marke in den Verkehr bringen, erstreckt. Es ist damit zu rechnen, dass durch die barrierefreie Gestaltung teils erhebliche Änderungen an Produkten erforderlich werden. Das Gesetz wird daher vor allem auf Hersteller von Elektronikprodukten Auswirkungen haben. Bereits in der Entwicklungsphase müssen sie die Vorgaben berücksichtigen, Prozesse anpassen und Maßnahmen für die Konformität treffen. Neben diesen materiellen Anforderungen müssen Hersteller auch nach außen dokumentieren, dass das Produkt die öffentlich-rechtlichen Anforderungen erfüllt. Sie dürfen ihre Produkte nur noch dann in Verkehr bringen, wenn die Konformität in einem Konformitätsbewertungsverfahren nachgewiesen, eine EU-Konformitätserklärung ausgestellt sowie die CE-Kennzeichnung angebracht wurde.

Konkretisierung durch Rechtsverordnung

Auf die Frage, welche genauen Kriterien hierfür einzuhalten sind, gibt das BFSG keine Antworten. Die konkret einzuhaltenden Anforderungen für die digitale Barrierefreiheit sind dort nicht festgelegt, sondern müssen in einer Rechtsverordnung konkretisiert werden. Das BFSG enthält lediglich eine allgemeine, für die praktische Anwendung wenig hilfreiche Definition, nach der Produkte und Dienstleistungen barrierefrei sind, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Es bleibt daher abzuwarten, wie die konkreten Vorgaben der Rechtsverordnung lauten werden. Auch wird die Frage, wie diese technisch umzusetzen sind, von der Ausarbeitung entsprechender technischer Standards abhängen. Die europäischen Normungsorganisationen sind bereits mit der Ausarbeitung von harmonisierten europäischen Normen beauftragt.

Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit gilt die Pflicht zur Barrierefreiheit nicht uneingeschränkt. Das Gesetz zieht eine Grenze, wenn die barrierefreie Gestaltung wesentliche Änderungen an Produkten/Diensten notwendig machen, die sich erheblich auf deren Wesensmerkmale auswirken und diese grundlegend verändern würden. Auch können sich Wirtschaftsakteure im Einzelfall auf den Ausnahmetatbestand der unverhältnismäßigen Belastung berufen. Den Barrierefreiheitsanforderungen kommt nämlich nur insoweit Geltung zu, als ihre Einhaltung zu keiner unverhältnismäßigen finanziellen Belastung des betroffenen Wirtschaftsakteurs führen würde. Indem diese Ausnahmefälle alternativ vorgesehen sind, weicht das BFSG von dem strengeren Maßstab des EAA ab. Der EAA erkennt einen Ausnahmefall nur bei kumulativem Vorliegen der genannten Tatbestände an.

Die zu konkretisierenden Barrierefreiheitsanforderungen sind – von bestimmten Ausnahmen abgesehen – ab dem 28. Juni 2025 anzuwenden. Produkte und Dienstleistungen dürfen nach diesem Tag nur noch in Verkehr gebracht beziehungsweise erbracht werden, wenn sie die genannten Anforderungen erfüllen. Die Einhaltung wird von den Marktüberwachungsbehörden kontrolliert. Bei Verstößen können sie den jeweiligen Wirtschaftsakteur zur Durchführung von Korrekturmaßnahmen verpflichten oder die Bereitstellung des Produktes beziehungsweise das Angebot oder die Erbringung der Dienstleistung auf dem deutschen Markt einschränken oder untersagen. Ein vorsätzlicher oder fahrlässiger Verstoß stellt zudem eine bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit dar.

Um eine effektive Durchsetzung von Verbraucherrechten sicherzustellen, etabliert das Gesetz ein eigenes Klagerecht für betroffene Verbraucher und ein Verbandsklagerecht für Verbände und qualifizierte Einrichtungen. Identifizieren Verbraucher Verstöße gegen die gesetzlichen Anforderungen, können sie direkt bei der zuständigen Landesbehörde der Marktüberwachung Maßnahmen zur Beseitigung des Verstoßes beantragen. Bei Ablehnung ist der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet.

Fazit

Die neuen Anforderungen des BFSG sind zu begrüßen, da sie das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft für Menschen mit Behinderung stärken. Auch wenn die genauen Kriterien für die digitale Barrierefreiheit noch nicht feststehen, sollten sich betroffene Unternehmen schon jetzt mit den kommenden Regelungen befassen und erforderliche Anpassungen rechtzeitig in die Wege leiten.

 

Franziska Wenzler

Rechtsanwältin bei CMS Deutschland, spezialisiert auf Produkthaftung, Produktsicherheit und Product Compliance
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