12.11.2020

Corona-Krise als Motor für sicherheitstechnische Innovationen

Technische Lösungen im Pandemie-Management

Corona-Krise als Motor für sicherheitstechnische Innovationen

Technische Lösungen im Pandemie-Management

Ein Beitrag aus »Publicus – Schwerpunkt Corona« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Publicus – Schwerpunkt Corona« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

In der aktuellen Pandemie fehlen erprobte, wirksame und günstige Lösungen. Die Suche nach Innovationen dauert an. Dadurch fördern Krisen Innovationen. Der „Lockdown“ als hochwirksame, aber sehr teure Maßnahme, hatte erheblichen Nebenwirkungen. Nun wird der Lockdown durch eine Kombination weniger wirksamer Maßnahmen abgelöst. In diesem Artikel werden einige dieser Maßnahmen aus dem Feld der Sicherheitstechnik vorgestellt und bewertet.

Vom Low-Tech Türgriff bis zur smarten High-Tech-Brille finden sich Lösungen, mit deren Hilfe sich aktuelle Herausforderungen meistern lassen. Einige Lösungen sind komplett neu. Viele sind etabliert oder abgewandelte Bestandslösungen. Wie nachhaltig und sinnvoll sind diese Lösungen? Hier ist ein Überblick samt Kurz-Bewertung:

Sinnvolle Lösungen, die i.d.R. nachhaltig genutzt werden können:


  • Kontaktlose Authentifizierungen (RFID, Handvenenscanner, …)
  • Türautomatisation, zum Beispiel durch Drehflügelantriebe, Speedgate, Feststellanlagen, etc.
  • Personenzählung – maximale Gebäude- bzw. Raumnutzung überwachbar machen oder vollständig überwachen
  • Videokonferenzlösungen
  • Multimedia-Brillen (smartglasses) und Hologaphische Brillen (mixed-reality-glasses)

Sinnvolle Lösungen, die temporär genutzt werden können:

  • Türgriff-Adapter (Türgriff mit dem Unterarm bedienen, anstatt mit der Hand)
  • Überwachung von Verhaltensregeln via Videoanalyse (Mindestabstand einhalten, Verpflichtende Nutzung von Handdesinfektionsspendern, …)

Nicht ausgereifte Lösungen:

  • Zutrittsversagung nach automatisiertem Fiebermessen (siehe Details im nachfolgenden Text)

Worin liegt der Nutzen von technischen Lösungen in der Pandemiebewältigung?

Zur aktuellen Empfehlung bei der Handhygiene zählt die grundsätzliche Reduzierung von Handkontakt. Nützlich sind hier Türsysteme, die komplett kontaktlos bedient werden. Einerseits authentisieren sich Berechtigte kontaktlos, andererseits wird die Tür oder der Durchgang ohne Handkontakt geöffnet und geschlossen. Unter den vielfältigen Varianten gibt es eine echte Innovation; Türgriffe können neuerdings durch den Unterarm bedient werden, es braucht nur eine kleine Ergänzung.

Altbekannt sind Vereinzelungsanlagen, hier rückt in den Vordergrund, dass immer noch nicht-motorische-Varianten im Einsatz sind. Hingegen sind berührungslose Drehkreuze motorgetrieben, was sich in der Pandemie als entscheidender Vorteil erweist. Ferner ist zu berücksichtigen, dass es auch Ansammlungen in Form von Rückstauungen zu verhindern gilt. Die Kapazität eines Durchlasses rückt damit in der Vordergrund. Speedgates und deren Varianten sollen hier nicht vertieft werden.

Der Infektionsweg „Luft“

Zur Risikoreduzierung über den Infektionsweg „Luft“ können beispielsweise in Ladenlokalen die jeweiligen Bestimmungen zur maximalen Personenanzahl organisatorisch umgesetzt werden; durch exakt ausgezählte Einkaufswagenanzahl und die Vorgabe, Einlass nur mit Einkaufswagen – pro Person ein Einkaufswagen. Alternativ zu dieser Low-Tech-Lösung stehen ausgefeilte technische Lösungen zur Verfügung; entweder in Form separater Sensoren, als Teil der Zutrittskontrollsysteme oder als Videoanalyse. Diese Lösungen sind seit langem verfügbar. Denn die Anforderungen zur Personenzählung oder -begrenzung gab es schon vor der Pandemie; zum Beispiel bei Veranstaltungen, zur Optimierung der Klimatechnik, zur Evakuierungssteuerung, zur Risikoreduzierung in Denkmalgeschützen Räumen mit suboptimalen Evakuierungswegen, etc.

Reduzieren von Reisetätigkeiten

Videokonferenzlösungen sind etabliert und reduzieren physische Besprechungen in erheblichem Umfang. Der Fokus liegt hier auf Besprechungen. Wie lassen sich weitere Reisetätigkeiten reduzieren; zum Beispiel, wenn im raumen Umfeld oder in Bewegung Audits, Störungsbehebungen oder Wartungsarbeiten vorgenommen werden müssen, ohne dass fachkundiges Personal vor Ort ist? Hier eigenen sich Mulitmedia-Brillen, sogenannte „smart glasses“ oder Hologaphische Brillen, sogenannte „mixed-reality glasses“. In Kombination mit Smartphone oder Laptop nutzt eine Person vor Ort ein Headset mit Kamera und Bild-Einblendung auf dem Brillenglas. Vereinfacht ausgedrückt erhält eine wenig fachkundige Person vor Ort Anweisungen und Assistenz von virtuell zugeschalteten Experten oder Assistenzsystemen. Da viele Reisetätigkeiten auf Service, Störungsbehebungen und Audits zurückgehen ist dieser Lösungsansatz geeignet einen ernstzunehmenden Prozentsatz an empfangenen Gästen und eigenen Dienstreisen zu vermeiden.

Videoanalyse

Außerhalb von Europa sind Videoanalyse-Algorithmen, die Verhaltensregeln von Menschen überwachen vergleichsweise häufig im Einsatz. Technisch besteht die Möglichkeit auch bei uns, dass mittels Videoüberwachung automatisiert analysiert wird, ob eine Person ein Waschbecken oder eine Handdesinfektion benutzt, ob eine Maske getragen wird oder ob die Abstandsregeln eingehalten werden. Durch berechtigte Bedenken aus Datenschutzperspektive sind diese Lösungen in Europa kaum nutzbar, siehe Praxishinweis.

Zutrittsversagung nach automatisiertem Fiebermessen

Während sich der positive Nutzen der oben aufgeführten technischen Lösungen schnell erschließt, bedarf das Fiebermess-Thema einer detailliierten Betrachtung.

Relevanteste medizinische Parameter zusammengefasst:

  • Sars-Cov2-Infizierte zeigten zu einem bestimmten, kleinen Prozentsatz kein Fieber als Symptom. Aktuelle Daten deuten an, dass 12% oder mehr Infizierte kein Fieber als Symptom zeigen.
  • Studien konnten nachweisen, dass Infizierte bis zu 3 Tage vor dem Auftreten der Symptome, wie Fieber, infektiös sind.
  • Einige Studien weisen darauf hin, dass tendenziell mehr als 50% der Infektionen auf die beiden oben aufgeführten Phänomene zurückgehen dürften.
  • Bei einem milden Krankheitsverlauf zeigt sich Fieber oft in geringer Höhe, was eine geringe Fehlertoleranz in der Fiebermesslösung erfordert.
  • Erhöhte Stirn-Haut-Temperatur ist ein Symptom vieler Erkrankungen, sportlicher Aktivität oder heißer Umgebungsluft.

Relevante technische Parameter zusammengefasst:

  • Das zentrale Qualitätskriterium bei thermischen Kameralösungen ist für diesen Anwendungsfall, mit wie viel Genauigkeit die Stirntemperatur von Personen bzw. Personengruppen erfasst wird. Erfahrungswerte zeigen, dass Fehlertoleranzen unter 0,5 Grad aufwendige Technik im mittleren 4-stelligen Budgetbereich erfordert und die Lösungen bis auf ca. 0,3 Grad optimiert werden können. Hingegen sind Fehlertoleranzen im Bereich 1 bis 2 Grad für „out of the box“ Lösungen zu erwarten.

Fazit: Beim Fiebermessen kann nur ein Teil der infektiösen Personen erkannt werden. Hingegen sind die meisten Personen mit Fieber nicht mit Cov-19 infektiös. Demzufolge ist Fiebermessen nur als Vorauswahl geeignet, um Personen für eine genauere Diagnostik auszuwählen. Vollautomatisierte Lösungen, dass beispielsweise Personen mit Fieber automatisiert an einer Tür abgewiesen werden, erfordern Personal vor Ort, um die häufige Zahl der technischen und medizinischen Fehler oder deren Interpretation manuell zu bearbeiten.

Praxishinweise:

  • Einige Lösungen zeigen hohe Kosten und geringen Nutzen
  • Neue Lösungen sind neben Kosten/Nutzen Betrachtungen auch hinsichtlich Akzeptanz, Datenschutz und Informationssicherheit zu bewerten und in vielen Unternehmen Mitbestimmungspflichtig. Erste Lösungen wurden bereits von Gerichten untersagt: Ein Supermarkt in Deutschland musste die beschaffte automatisierte Fibermesslösung außer Betrieb setzen, weil die Verarbeitung von Gesundheitsdaten Dritter aus Datenschutzsicht unvertretbar war. Der französischen Polizei wurde die Nutzung von Drohnen zur Überwachung der Abstandsregeln untersagt, da die Personen auch identifiziert werden können. (Beispiele sind verkürzt dargestellt.)
  • Wenn im Krisenmodus Ad-Hock Technik beschafft wird, ist ein besonderes Augenmerk auf die Compliance Perspektive zu richten. Schnellschüsse umgehen nicht selten übliche Entscheidungs- und Einkaufsprozesse, dies öffnet ein Fenster für Korruption.

 

Dieser Artikel hat nur den Anspruch einen Überblick zu bieten. Eine ausdifferenzierte Darstellung und Bewertung von allen Details, Anwendungsfällen und Sonderfällen würde den Rahmen sprengen. Die Bewertungen spiegeln die Meinung des Autors.

 

Christoph Öxle

Senior Expert Physical Security, Personnel Security & Crisis Management bei ZF Friedrichshafen AG
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