17.01.2022

„Corona-Entschädigungen“ für Lockdown (1)

Vorbehalt des Gesetzes als Barriere – Teil 1

„Corona-Entschädigungen“ für Lockdown (1)

Vorbehalt des Gesetzes als Barriere – Teil 1

Ein Beitrag aus »Bayerische Verwaltungsblätter« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Bayerische Verwaltungsblätter« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Unternehmer, zum Beispiel Gastwirte, Hoteliers, Betreiber von Sport- und Freizeiteinrichtungen, sehen sich als Verlierer des coronabedingten Lockdowns, insbesondere des ersten. Der Wunsch, dafür entschädigt zu werden, ist ungebrochen. Man zeigt sich überzeugt, das Recht der staatlichen Ersatzleistungen in seiner gegenwärtigen Ausprägung vermittle einschlägige Ansprüche. Hält dies einer juristischen Analyse stand? (Teil 1)

I. Suche nach Anspruchsgrundlagen

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Entschädigungsnorm des § 56 Infektionsschutzgesetz (IfSG) nationalen Bekanntheitsgrad erreicht hat.1 Mit ihr verbinden sich in Zeiten von Corona viele Hoffnungen, die jedoch allzu oft enttäuscht werden: Verdienstausfall kann nach § 56Abs. 1 IfSG nur dann entschädigt werden, wenn die Person, die den Verdienstausfall erlitten hat, einen bestimmten infektionsschutzrechtlichen Status als Krankheitsverdächtiger, Ansteckungsverdächtiger et cetera aufweist. Derartige Auffälligkeiten bestehen bei den vom Lockdown betroffenen Unternehmern nicht.2 Maßgebend für deren Nachteil ist nicht ihr gefährdender körperlicher Zustand, sondern die Art ihres Gewerbes, die der Verbreitung des Virus mehr oder weniger Vorschub leistet. Da § 56 IfSG somit als Entschädigungsgrundlage ausfällt, wird nach anderen Rechtsgrundlagen gesucht. Angesichts dessen, dass nur ein geringer Teil der infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen, die den Lockdown bewirkt haben beziehungsweise bewirken, von der Verwaltungsgerichtsbarkeit als rechtswidrig befunden worden ist beziehungsweise befunden werden wird,3 richtet sich das Hauptinteresse auf potenzielle Anspruchsgrundlagen bei rechtmäßigen staatlichenMaßnahmen.4

Diejenigen, die Entschädigung begehren, machen sich insoweit drei unterschiedliche Begründungsansätze zunutze: – analoge Anwendung der Entschädigungsgrundlagen des Infektionsschutzgesetzes (§§ 56, 65 IfSG), – analoge Anwendung der Entschädigungsnormen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts, – allgemeine Anspruchsgrundlagen des Staatshaftungsrechts, die auf das Vorliegen eines Sonderopfers abstellen; im Vordergrund steht der Anspruch aus enteignendem Eingriff (selten wird der allgemeine Aufopferungsanspruch geltend gemacht5). Jede dieser Argumentationslinien sieht sich zahlreichen rechtlichen Einwänden ausgesetzt. Dieser Beitrag greift einen davon heraus, der alle drei betrifft: die Anforderungen, die der Vorbehalt des Gesetzes an eine hinreichende Entschädigungsgrundlage stellt.


II. Der verfassungsrechtliche Vorbehalt des Gesetzes

Auch im öffentlichen Recht muss nicht jegliches Recht unmittelbar gesetzlich fixiert sein. Vielmehr kann Recht auch jenseits geschriebener Normen existieren. Allerdings sind im öffentlichen Recht Spielräume dafür rar. Das liegt an dem weitreichenden verfassungsrechtlichen Vorbehalt des Gesetzes. Einerseits sehen die Freiheitsgrundrechte (manche ungeschrieben) vor, dass Beschränkungen entweder durch oder aufgrund eines Gesetzes erfolgen können (Gesetzesvorbehalte). Zudem ist ein allgemeiner Vorbehalt des Gesetzes in Art. 20Abs. 3 GG (Gesetzmäßigkeit der Verwaltung) verankert. Soweit der Vorbehalt des Gesetzes greift, kann sich kein ungeschriebenes Recht entwickeln. Der Vorbehalt des Gesetzes erschöpft sich nicht darin, es müsse überhaupt ein abstrakt-generelles „Drehbuch“ für die Tätigkeit der Verwaltung geben. Vielmehr folgt aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip – nach hiesiger Ansicht deutlich mehr aus dem Demokratieprinzip – ein Vorbehalt des Gesetzes in FormeinesParlamentsvorbehalts.6 Das besagte „Drehbuch“ muss also von einem ganz bestimmten legitimierten Urheber geschrieben worden sein.

Der Vorbehalt des Gesetzes bezweckt folglich nicht in erster Linie, der Einzelfallbehandlung durch die Verwaltung Struktur, Kontinuität und Verlässlichkeit zu verleihen. In grundlegenden normativen Bereichen muss vielmehr der parlamentarische Gesetzgeber alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen7; das gilt für den auf Art. 20 Abs. 3 GG fußenden allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes und für die Gesetzesvorbehalte der Freiheitsgrundrechte gleichermaßen. Dazu passt, dass „Gesetz“ im Sinn der Diktion des Grundgesetzes immer das vom Parlament beschlossene förmliche Gesetz ist.8 Die prioritäre Stellung desparlamentarischen Gesetzgebers rührt daher, dass das Parlament ein Höchstmaß an demokratischer Legitimation aufweist.9 Was aber ist im Sinn des Vorbehalts des Gesetzes wesentlich?10 Zum einen spielt der Gesichtspunkt der individuellen Betroffenheit, der Intensität des Grundrechtsbezugs eine Rolle.11 Zum andern kommt es auf die Auswirkungen einer Regelung auf das Gemeinwesen an. Insoweit können relevant sein: die Größe des betroffenen Personenkreises, die Akzeptierbarkeit einer Regelung, ihre finanziellen Auswirkungen, die Frage, ob es um Grund- oder Leitentscheidungen für einen bestimmten Sachbereich geht, die Auswirkungen auf das Staatsgefüge, der Zeitfaktor.12 Da das Hauptanliegen des verfassungsrechtlichen Vorbehalts des Gesetzes darin besteht, bei wesentlichen staatlichen Entscheidungen höchste demokratische Legitimation zu gewährleisten, kann ihm prinzipiell nur durch formelles Gesetz entsprochen werden. Rechtsverordnungen als solche vermögen dies nicht; bei ihnen kommt es vielmehr auf die parlamentsgesetzlichen Grundlagen an, auf die sie sich stützen. Die wirklich wesentlichen Entscheidungen darf der parlamentarische Gesetzgeber nicht nach Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG dem Verordnungsgeber überlassen, und soweit er delegiert, muss er die Bestimmtheitsanforderungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2GGwahren.

III. Prüfung der drei Begründungsansätze

Die drei Begründungsansätze haben gemein, dass sie allesamt nicht parlamentsgesetzlich verankert sind. Sie weisen auch keine mediatisierte Anbindung an das Parlament auf, wie es bei Rechtsverordnungen der Fall ist. – Für die analoge Heranziehung gesetzlicher Normen ist charakteristisch, dass der in den Fokus genommene Rechtssatz einen bestimmten als regelungsbedürftig wahrgenommenen Sachverhalt nach den Regeln juristischer Auslegung nicht umfasst. Die Gesetzesanalogie bewegt sich als Rechtsfindungsmethode, die auf die Vergleichbarkeit mit vorhandenen gesetzlichen Normen rekurriert, praeter legem; man agiert außerhalb des gesetzlich geregelten Bereichs. Darin unterscheidet sie sich von der Auslegung von Gesetzen, mit deren Hilfe der Inhalt des positiv Geregelten ermittelt wird. Im Rahmen der Gesetzesanalogie wird nicht gefragt, was der Gesetzgeber geregelt hat, sondern wie er es vermutlich getan hätte, wenn er sich des Regelungsbedarfs bewusst gewesen wäre.13 Dass hier mit §§ 56, 65 IfSG überhaupt legislative Akte des Bundesgesetzgebers vorhanden sind, ist nicht annähernd geeignet, eine hinreichende Anbindung an den Willen des parlamentarischen Gesetzgebers zu erzeugen. Denn die erweiternde Heranziehung von §§ 56, 65 IfSG liegt jenseits der getätigten Willensäußerung des Bundesgesetzgebers.

Das gilt nicht minder für die analoge Anwendung der allgemeinen polizeirechtlichen Entschädigungsnorm (z. B. § 51 BPolG); soweit diesbezüglich Vorschriften des Landesrechts aktiviert werden, stellt sich zusätzlich ein Kompetenzproblem. – Noch ungünstiger sieht die Befundlage für den Anspruch aus enteignendem Eingriff und den allgemeinen Aufopferungsanspruch aus. Nach ständiger BGH-Rechtsprechung geht die Haftungsfigur des enteignenden Eingriffs auf den allgemeinen Aufopferungsgrundsatz der §§ 74, 75 Einl. ALR in seiner richterrechtlichen Ausprägung zurück.14 Im Zusammenhang mit dem allgemeinen Aufopferungsanspruch spricht der BGH – neben der Nennung von §§ 74, 75 Einl. ALR – von Gewohnheitsrecht,15 was auch auf den Anspruch aus enteignendem Eingriff zutrifft. Diese beiden Anspruchsgrundlagen knüpfen nicht einmal mittelbar an einen legislativen Akt des zuständigen Gesetzgebers an; sie beruhen allein auf tradierter Rechtsüberzeugung. Sowohl die analoge Anwendung bestehender Entschädigungsregelungen als auch die allgemeinen Anspruchsgrundlagen des Staatshaftungsrechts bei rechtmäßigem Staatsverhalten lassen somit eine Anbindung an eine parlamentsgesetzliche Grundlage vermissen. Vor diesem Hintergrund können beide Wege nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn die Materie der Entschädigungsgewährung eben nicht parlamentsgesetzlich zu regeln wäre. Genau das ist aber, wie die folgenden Ausführungen zeigen, der Fall. Allein schon die quantitativen Dimensionen der entstandenen Schäden erfordern eine parlamentsgesetzliche Regelung (dazu unten 1.). Hinzu kommt, dass die geltend gemachten Schäden gerade auf staatliche Regelungen – und nicht auf Realakte – zurückgehen (dazu unten 2.).

1. Tragweite der Entschädigung als solche

Allein schon Art und Umfang der präsumtiven Entschädigungen für den ersten Lockdown würden eine Regelung per Parlamentsgesetz erfordern – und zwar nicht nur zum „Ob“ einer Entschädigung, sondern auch zu Umfang und Modus.16 Diese Erkenntnis vermittelt bereits die isolierte Betrachtung der Entschädigungen. Der sicherheitsrechtliche Kontext, in dessen Rahmen die Entschädigungen verlangt werden, muss dazu gar nicht erst argumentativ verwertet werden. Der erste Lockdown hat in unzähligen Einzelfällen mehr oder weniger starke Einkommenseinbußen bewirkt. Neben der schieren Anzahl an betroffenen Individuen erfordern die exorbitanten Auswirkungen auf die Staatsfinanzen eine parlamentsgesetzliche Regelung. Dabei handelt es sich keineswegs um eine „revolutionäre“ Erkenntnis. Vielmehr spiegelt die hier vertretene Meinung voll und ganz die Linie des BGH wider.

Im Urteil vom 10. Dezember 1987 – III ZR 220/8617 hat der BGH zu Entschädigungsansprüchen von Forstwirten aufgrund des damaligen Waldsterbens entschieden, die möglichen weitreichenden Folgen einer Zubilligung von Entschädigungs- oder Ausgleichsansprüchen für die Staatsfinanzen geböten es, dem Gesetzgeber die Entscheidung hierüber vorzubehalten. Der enteignende Eingriff sei keine geeignete Grundlage, um massenhaft auftretende Schäden, wie sie durch das Waldsterben ausgelöst würden, auszugleichen. Zur Bewältigung eines derartigen „Globalphänomens“, so der BGH, sei das Haftungsinstitut des enteignenden Eingriffs nicht entwickelt worden. Die Lösung der durch die neuartigen Waldschäden aufgeworfenen Entschädigungs- und Ausgleichsprobleme könne nicht einem richterrechtlichen Haftungsinstitut, wie es der enteignende Eingriff darstelle, überlassen bleiben.

 

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag wird fortgesetzt.

Besprochen in BayVBl. 12/2021.

 

1 Vgl. dazu Vießmann, Entschädigungen nach § 56 des Infektionsschutzgesetzes, KommP BY 2020, 299 ff.

2 Vgl. Struß/Fabi, DÖV 2020, 665/668; Papier, APuZ 35-37/2020, 04/07; Shirvani, NVwZ 2020, 1457/1457 f.; Bethge/Dombert, NordÖR 2020, 329/331.

3 Vgl. Reschke, DÖV 2020, 423/424; Bethge/Dombert, NordÖR 2020, 329.

4 Bei Rechtswidrigkeit kommen Ansprüche aus Amtshaftung und enteignungsgleichem Eingriff in Betracht.

5 Grund dafür: Nach der BGH-Rechtsprechung beschränkt sich der allgemeine Aufopferungsanspruch auf die Rechtsgüter Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit (vgl. dazu BGH NJW 1994, 1468: keine Anwendung auf Rechtsgüter des Art. 12 Abs. 1 GG; vgl. auch Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Aufl. 2013, S. 138; Rinze/Schwab, NJW 2020, 1905/1910).

6 Vgl. BVerfG NJW 1979, 359/360; BVerfG NJW 1999, 3253/3254; BVerfG NJW 2002, 2626/2629; BVerfG NJW 2003, 3111/3116.

7 Vgl. BVerfG NJW 1977, 1723/1724; stRspr.

8 So Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 30. Aufl. 2014, Rn. 273.

9 Vgl. BVerfG NJW 1972, 1504/1506; BVerfG NJW 1997, 383.

10 Vgl. dazu Eberle, DÖV 1984, 485/490 ff.; Ossenbühl, DVBl. 1999, 1/3.

11 Vgl. dazu grundlegend BVerfG NJW 2003, 3111/3116.

12 Vgl. Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, 2001, S. 30; Busch, Das Verhältnis des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG zum Gesetzes- und Parlamentsvorbehalt, 1992, S. 51 ff.

13 Deswegen können keine belastenden hoheitlichen Eingriffe auf Gesetzesanalogien gestützt werden; vgl. BVerfG NJW 1996, 3146.

14 Vgl. BGH NJW 1984, 1876/1877.

15 Vgl. BGH NJW 2017, 3384/3386; BGH NJW 1956, 629/630.

16 Auch Papier, APuZ 35-37/2020, 04/07 f. sieht den Gesetzgeber in der Pflicht, selbst Art und Ausmaß der Entschädigungen oder des sonstigen finanziellen Ausgleichs zu regeln; ebenso Shirvani, NVwZ 2020, 1457.

17 BayVBl. 1988, 186 = NJW 1988, 478. Für den allgemeinen Aufopferungsanspruch hat der BGH dies im Urteil NJW 2016, 3656 bestätigt. 

 

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Dr. Thomas Vießmann

Ministerialrat, Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege
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