15.10.2012

Bürgerbeteiligung weiterhin im Fokus

Beschlüsse des Deutschen Juristentages 2012

Bürgerbeteiligung weiterhin im Fokus

Beschlüsse des Deutschen Juristentages 2012

Mehr Demokratie durch frühere und stärkere Beteiligung der Bürger? | © Alessandro Capuzzo - Fotolia
Mehr Demokratie durch frühere und stärkere Beteiligung der Bürger? | © Alessandro Capuzzo - Fotolia

Das Thema Bürgerbeteiligung steht weiterhin im Fokus der politischen und juristischen Diskussion. Dem Verhältnis von Staat und Bürger insoweit haben wir uns zuletzt im PUBLICUS, Ausgabe 2012.9, unter verschiedenen Gesichtspunkten gewidmet. Nun hat sich auch der 69. Deutsche Juristentag, der vom 18. bis 21. September in München stattfand, in der Abteilung Öffentliches Recht mit dem Thema befasst – unter der Überschrift „Neue Formen der Bürgerbeteiligung? Planung und Zulassung von Projekten in der parlamentarischen Demokratie”.

Trotz vielfach unterschiedlicher theoretischer Ausgangspunkte wurden zahlreiche Anregungen für eine bessere Bürgerbeteiligung verabschiedet. In Übereinstimmung mit dem Gutachter und den Referenten wurde nahezu einstimmig eine frühzeitige Bürgerbeteiligung gefordert. Sie soll bereits zu einem Zeitpunkt einsetzen, zu dem die wesentlichen Entscheidungen, insbesondere solche über die Auswahl zwischen mehreren Verwirklichungsvarianten, noch nicht getroffen worden sind.

Die frühe Bürgerbeteiligung soll für solche Vorhaben obligatorisch sein, für die eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt werden muss. Daneben waren sich die Teilnehmer darüber einig, dass rechtliche Regeln allein nicht ausreichen, um die Bürgerbeteiligung zu verbessern. Erforderlich sei vielmehr eine neue Planungskultur, die das Zusammenwirken von Bürgern, Politik, Vorhabenträgern, Planungsbehörden und Sachverständigen bei der Lösung von Planungsproblemen fördert.


Sie soll auf eine breite öffentliche Akzeptanz sowie auf Transparenz zielen, so auszugsweise das Schlusswort des Vorsitzenden der Abteilung Öffentliches Recht, Vors. Richter am OVG Prof. Dr. Max-Jürgen Seibert, Münster/Bonn.

Nachfolgend drucken wir die Beschlüsse des Deutschen Juristentages – ohne Stimmverhältnisse – im Einzelnen ab (weitere Informationen unter www.djt.de). Mit Spannung erwartet werden darf, inwieweit die Beschlüsse zur Stärkung und Verbesserung der Bürgerbeteiligung von der Politik und insbesondere vom Gesetzgeber aufgegriffen werden.

Beschlüsse des Deutschen Juristentages 2012 – Abteilung Öffentliches Recht

(Neue Formen der Bürgerbeteiligung? Planung und Zulassung von Projekten in der parlamentarischen Demokratie)

I. Grundsätzliches

1. In Planungs- und Zulassungsverfahren bedeutet Bürgerbeteiligung – unbeschadet der Einführung neuer plebiszitärer Elemente – Teilhabe am Planungsprozess und am Verwaltungsverfahren, nicht Mitentscheidung.

2. Die Planungspraxis sollte neben der Rechtsstaatlichkeit und Sachgerechtigkeit der Entscheidung darauf zielen, eine breite öffentliche Akzeptanz des Verfahrens herzustellen.

3. Erforderlich ist eine Planungskultur, die das Zusammenwirken von Bürgern, Politik, Vorhabenträgern, Planungsbehörden und Sachverständigen bei der Lösung von Planungsproblemen fördert; rechtliche Regeln allein können dies nicht erreichen.

4. Die öffentliche Verwaltung muss auf das Management von Beteiligungsprozessen angemessen vorbereitet werden. Entsprechende Kompetenzen sollten gezielt und systematisch vermittelt werden.

5. Effektive Beteiligung setzt Transparenz voraus. Die Öffentlichkeit sollte umfassend, rechtzeitig und hinreichend verständlich sowie auch unter Einsatz moderner technischer Kommunikationsmittel über das Vorhaben und seine Folgen sowie über alle Verfahrensschritte informiert werden.

6. Die Rechtsvorschriften über die Bürgerbeteiligung sollten sich auf die Festlegung eines Minimalbestandes allgemeiner Verfahrensgrundsätze und -regelungen beschränken. Die darüber hinausgehende Ausgestaltung und Anwendung sowie die Entwicklung von Verfahren zur Erfolgskontrolle bedürfen keiner detaillierten rechtlichen Normierung, sondern sollten sich in der Beteiligungspraxis entwickeln.

7. Die derzeit über eine Vielzahl von Fachgesetzen verstreuten Rechtsvorschriften über die Bürgerbeteiligung sollten möglichst einheitlichen Regelungen (z. B. Auslegungs- und Einwendungsfristen, Erörterungstermin) folgen.

8. Diese Regelungen sollten im Interesse der – gerade für die Bürgerbeteiligung – wichtigen Normenklarheit im allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht zusammengeführt werden.

9. Bei der Entscheidung über eine Erweiterung der Bürgerbeteiligung sollte der Gesetzgeber auch berücksichtigen, dass diese zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer und zu einer Erhöhung der Kosten führen kann.

II. Frühe Bürgerbeteiligung

10. Die Bürgerbeteiligung sollte bereits zu einem Zeitpunkt einsetzen, zu dem die wesentlichen Entscheidungen, insbesondere solche über die Auswahl zwischen mehreren Verwirklichungsvarianten, noch nicht getroffen worden sind (frühzeitige Bürgerbeteiligung).

11. Eine frühzeitige Bürgerbeteiligung sollte gesetzlich für Vorhaben vorgesehen werden,
a) die der UVP-Pflicht unterliegen
b) die raumbedeutsam sind und sich auf eine größere Zahl von Betroffenen auswirken können
– abgelehnt –
c) für die ein Raumordnungsverfahren durchgeführt wird
d) für die ein Linienbestimmungsverfahren durchgeführt wird.
– abgelehnt –

12. Soweit für ein Vorhaben ein Scoping, ein Raumordungsverfahren oder ein Linienbestimmungsverfahren durchgeführt wird, sollte die projektbezogene frühzeitige Bürgerbeteiligung in einem dieser Verfahren als Trägerverfahren durchgeführt werden.

13. Die Durchführung eines frühzeitigen Beteiligungsverfahrens sollte obligatorisch sein.

14. Der mit der frühzeitigen Bürgerbeteiligung begonnene Diskurs sollte – als Teil einer neuen Planungskultur – für die Dauer des Planungs- oder Genehmigungsverfahrens fortgeführt und auch zwischen gesetzlich ausdrücklich vorgesehenen Beteiligungsschritten als vertrauensbildende Maßnahme aufrechterhalten werden.

III. Durchführung der Bürgerbeteiligung

15.
a) Zuständig für die Durchführung der frühzeitigen Bürgerbeteiligung und das weitere Beteiligungsverfahren ist eine weisungsfreie Beteiligungsbehörde, die von der entscheidenden Behörde verschieden ist.
– abgelehnt –
b) Die Trennung von Anhörungs- und Entscheidungsbehörde über die bestehenden gesetzlichen Regelungen hinaus ist nicht zu empfehlen.

16. Es ist anzustreben, dass die Öffentlichkeitsbeteiligung für alle parallelen Genehmigungsverfahren, die dasselbe Projekt betreffen, gemeinsam stattfindet.

17. Die lokale oder regionale Bekanntmachung in örtlichen Tageszeitungen sollte durch die Einrichtung eines bundesweiten, über das Internet zugänglichen Zentralregisters ergänzt werden.

18. Die Frist zwischen Bekanntmachung der Auslegung und Beginn der Auslegung sollte mindestens 2 Wochen und die Auslegungs- und die Einwendungsfrist mindestens 2 Monate betragen.

19. Die Antragsunterlagen sollten zusätzlich mindestens für die Dauer der Auslegungs- und Einwendungsfrist von der Zulassungsbehörde ins Internet gestellt werden.

20. Zentrale Unterlagen sollten auch außerhalb der für die Öffentlichkeitsbeteiligung vorgesehenen besonderen Einsichtszeiträume über das Internet effektiv zugänglich gemacht und dort fortlaufend aktualisiert werden.

21. Die Befugnis zur Abgabe von Einwendungen und Stellungnahmen sollte jedermann zustehen.

22. Die frühzeitige Beteiligung (z. B. im Rahmen des Scoping) sollte nicht mit einer Präklusion verbunden sein.

23.
a) Auf die Präklusion sollte insgesamt verzichtet werden.
– abgelehnt –
b) Die Präklusion sollte erst mit Abschluss des Verwaltungsverfahrens eintreten.

24. Eine öffentliche und mündliche Erörterung sollte
a) obligatorisch sein,
– abgelehnt –
b) nur dann entfallen können, wenn wegen der geringen Zahl an Einwendungen die Durchführung eines förmlichen Erörterungstermins zu aufwendig oder aus sonstigen Gründen eine andere Form des Dialogs vorzugswürdig erscheint.

25. Projektträger und entscheidende Behörde
a) sind zur Teilnahme an öffentlichen mündlichen Erörterungen verpflichtet
b) und haben sich – mit dem Ziel eines Dialogs – den erhobenen Einwendungen und Fragen zu stellen.

26. Eine Übertragung der Erörterung über Rundfunk, Fernsehen oder Internet sollte nur im Einzelfall nach Entscheidung des Verhandlungsleiters möglich sein. Sie kommt insbesondere für Großvorhaben in Betracht, die eine Vielzahl von Betroffenen und Interessierten berühren und in denen eine solche Berichterstattung einen kommunikativen und/oder verwaltungspraktischen Mehrwert verspricht. Jeder Einwender muss die Möglichkeit haben, sich ohne diese Übertragung zu äußern.

27. Die Behörde sollte Anregungen der Betroffenen und der Umweltverbände zur Beauftragung weiteren technischen Sachverstands angemessen berücksichtigen.

28. Durch die erweiterte Bürgerbeteiligung entstehende Mehrkosten sollen angemessen zwischen der öffentlichen Hand und dem Projektträger durch Änderung des Verwaltungskostenrechts aufgeteilt werden.

IV. Mitentscheidung der Bürger

29.
a) Über raumbedeutsame Projekte der öffentlichen Hand, die sich auf eine größere Zahl von Betroffenen auswirken können, sollte durch Volksbegehren/Volksentscheid beschlossen werden können.
– abgelehnt –
b) Über die (auch teilweise) öffentliche Finanzierung von raumbedeutsamen Vorhaben, die sich auf eine größere Zahl von Betroffenen auswirken können, sollte durch Volksbegehren/Volksentscheid
aa) auf Bundesebene,
bb) auf Landesebene,
cc) auf kommunaler Ebene
beschlossen werden können. abgelehnt

30.
a) Es sollte bundesrechtlich die Möglichkeit geschaffen werden, über Bebauungspläne durch Bürgerentscheid zu beschließen. Dabei muss sichergestellt sein, dass alle zur Entscheidung gestellten Alternativen, einschließlich der Ablehnung der Planung insgesamt und etwaiger Varianten, zuvor das Planungsverfahren durchlaufen und von der Planungsbehörde fehlerfrei abgewogen worden sind. Die Entscheidung über die Einführung und Ausgestaltung des Bürgerentscheids sollte den Ländern überlassen werden.
– abgelehnt –
b) Die Bauleitplanung (insbesondere Einleitung und Einstellung eines solchen Verfahrens) sollte Gegenstand eines Bürgerentscheids nach den Gemeindeordnungen sein können; weder kann ein bereits beschlossener Bauleitplan durch Bürgerentscheid aufgehoben noch ein Bauleitplan durch Bürgerentscheid beschlossen werden.

31. Zur Beschleunigung der Planung und Zulassung von Großprojekten werden bei Vorliegen zwingender Gründe des Gemeinwohls auch Investitionsmaßnahme-Gesetze empfohlen. Wegen des damit verbundenen Verlustes an Bürgerbeteiligungs- und Rechtsschutzmöglichkeiten sind allerdings zur Gewährleistung der erforderlichen demokratischen Akzeptanz folgende Kompensationen geboten:
(1) Eine EDV-gestützte Bürgerbeteiligung im Gesetzgebungsverfahren und
(2) ein fakultatives Gesetzgebungs-Referendum.
– abgelehnt –

 
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