07.06.2021

Beherbergungsverbot zur Eindämmung des Corona-Virus (1)

NdsOVG, Beschl. v. 15.10.2020 – 13 MN 371/20 – Teil 1

Beherbergungsverbot zur Eindämmung des Corona-Virus (1)

NdsOVG, Beschl. v. 15.10.2020 – 13 MN 371/20 – Teil 1

Ein Beitrag aus »Niedersächsische Verwaltungsblätter« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Niedersächsische Verwaltungsblätter« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Der Antragsteller begehrte die vorläufige Außervollzugsetzung einer infektionsschutzrechtlichen Verordnung, die ihm die Beherbergung von Personen aus Corona-Risikogebieten zu touristischen Zwecken untersagt. Im ersten Teil der Reihe wird der Sachverhalt und die Urteilsbegründung besprochen.

Der Sachverhalt

Der Antragsteller begehrte die vorläufige Außervollzugsetzung einer infektionsschutzrechtlichen Verordnung, die ihm die Beherbergung von Personen aus Corona-Risikogebieten zu touristischen Zwecken untersagt.

Der Antragsteller betreibt einen Ferienpark in A-Stadt. Dort bietet er Ferienhäuser, Wanderurlaub und Mountainbike-Touren an. Am 9. Oktober erließ das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, handelnd durch die Ministerin, die Niedersächsische Verordnung über Beherbergungsverbote zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Beherbergungs-Verordnung) mit unter anderem folgendem Inhalt:


§ 1 Beherbergungsverbot

(1) 1In Hotels, Pensionen, Jugendherbergen und ähnlichen Beherbergungsbetrieben sind Übernachtungen zu touristischen Zwecken untersagt für Personen aus einem vom Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung festgelegten und veröffentlichten Gebiet oder einer Einrichtung, in dem oder in der die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung 50 oder mehr Fälle je 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen beträgt, die nicht über ein ärztliches Zeugnis in Papierform oder digitaler Form verfügen, das bestätigt, dass keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Infektion mit dem Corona-Virus SARS-CoV-2 vorhanden sind.

2Ein aus einem fachärztlichen Labor stammender Befund ist ein ärztliches Zeugnis. 3Das ärztliche Zeugnis muss sich auf eine molekularbiologische Testung stützen, die höchstens 48 Stunden vor der Anreise vorgenommen worden ist. 4Maßgeblich für den Beginn der 48-Stunden-Frist ist der Zeitpunkt der Feststellung des Testergebnisses. 5Das Unterbringungsverbot nach Satz 1 gilt nicht für Gäste,

  1. die zwingend notwendig und unaufschiebbar beruflich oder medizinisch veranlasst anreisen,
  2. die einen sonstigen triftigen Reisegrund haben, insbesondere einen Besuch einer oder eines Familienangehörigen, einer Lebenspartnerin, eines Lebenspartners oder einer Partnerin oder eines Partners einer nicht ehelichen Lebensgemeinschaft, die Wahrnehmung eines Sorge- oder Umgangsrechts oder den Beistand oder die Pflege schutzbedürftiger Personen, oder
  3. für die das für den Beherbergungsbetrieb zuständige Gesundheitsamt in begründeten Einzelfällen auf Antrag eine Ausnahme zugelassen hat.

(2) 1Für Übernachtungen in Ferienwohnungen, Ferienhäusern und auf Campingplätzen zu touristischen Zwecken gilt Absatz 1 entsprechend. 2Die Untersagung nach Satz 1 gilt nicht für die Nutzung von dauerhaft angemieteten oder im Eigentum befindlichen Immobilien und von dauerhaft abgestellten Wohnwagen, Wohnmobilen und ähnlichen Einrichtungen ausschließlich durch die Nutzungsberechtigten.

(3) 1Die Untersagung nach Absatz 1, auch in Verbindung mit Absatz 2, gilt nur für Personen, die nach dem Zeitpunkt der Veröffentlichung nach Absatz 1 Satz 1 nach Niedersachsen eingereist sind. 2Liegt das nach Absatz 1 Satz 1 veröffentlichte Gebiet oder die nach Absatz 1 Satz 1 veröffentlichte Einrichtung in Niedersachsen, so tritt an die Stelle des Zeitpunkts der Einreise der Zeitpunkt des Beginns der Beherbergung. Auf den Antrag des Antragstellers setzte das erstinstanzlich zuständige OVG § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung vorläufig außer Vollzug gesetzt.

Begründung des Urteils

2. Ein in der Hauptsache noch zu stellender Normenkontrollantrag des Antragstellers wäre voraussichtlich begründet (a.). Zudem überwiegen die gewichtigen Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und der Allgemeinheit die für den weiteren Vollzug der Verordnung bis zu einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren sprechenden Gründe (b.).

a. Ein vom Antragsteller in der Hauptsache noch zulässigerweise zu stellender Normenkontrollantrag hat voraussichtlich Erfolg. Nach der derzeit nur gebotenen summarischen Prüfung spricht Überwiegendes dafür, dass § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung rechtswidrig sind und wegen der damit einhergehenden Verletzung des Antragstellers in seinem Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit gemäß § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO für unwirksam zu erklären sein werden … Die in § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung getroffenen Regelungen sind … voraussichtlich materiell rechtswidrig.

(a) Die Verordnungsregelungen sind bereits nicht hinreichend bestimmt (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: BVerfG, Beschl. v. 13.07.2018 – 1 BvR 1474/12 – BVerfGE 149, 160, 203 – juris Rn. 120; Senatsbeschl. v. 29.04.2020 – 13 MN 120/20 – juris Rn. 18 m. w. N.) … § 1 Abs. 1 Satz 1 (auch i. V. m. § 1 Abs. 2 Satz 1) der Verordnung bestimmt … nicht hinreichend klar, welche „Personen“ von dem Beherbergungsverbot betroffen sein sollen. Die Anordnung des Beherbergungsverbots „für Personen aus einem vom Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung festgelegten und veröffentlichten Gebiet oder einer Einrichtung“ lässt nicht erkennen, welcher konkrete Bezug der Personen zu dem festgelegten und veröffentlichten Gebiet oder der festgelegten und veröffentlichten Einrichtung gefordert wird. Es bleibt offen, ob die Personen in dem Gebiet ihren melderechtlichen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben müssen oder ob bereits ein kurzzeitiger vorübergehender Aufenthalt in dem Gebiet oder der Einrichtung genügt und bejahendenfalls welche konkrete Dauer dieser aufweisen muss. Diese Lücke vermag der Senat auch nicht unter Anwendung herkömmlicher Auslegungsmethoden zu füllen.

(b) Darüber hinaus genügen § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung den sich aus § 32 Satz 1 und 2 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG ergebenden materiellen Anforderungen nicht. Der Senat zieht dabei nicht in Zweifel, dass auch beim derzeitigen Stand der Corona-Pandemie die Voraussetzungen für ein staatliches Einschreiten weiterhin vorliegen (aa). Es bestehen aber durchgreifende Zweifel daran, dass das in § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung angeordnete Beherbergungsverbot in seiner konkreten Ausgestaltung eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG ist (bb).

(aa) Die Voraussetzungen des § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG sind mit Blick auf das „Ob“ eines staatlichen Handelns gegeben. Nach § 32 Satz 1 IfSG dürfen unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnung entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten erlassen werden. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind erfüllt …

(bb) Nach summarischer Prüfung erweist sich das in § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung angeordnete Beherbergungsverbot in seiner konkreten Ausgestaltung aber nicht als eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG. § 28 Abs. 1 IfSG liegt die Erwägung zugrunde, dass sich die Bandbreite der Schutzmaßnahmen, die bei Auftreten einer übertragbaren Krankheit infrage kommen können, nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Der Gesetzgeber hat § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG daher als Generalklausel ausgestaltet (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.03.2012 –BVerwG 3 C 16.11 – BVerwGE 142, 205, 213 – juris Rn. 26 unter Hinweis auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BT-Drs. 8/2468, S. 27 f.). Der Begriff der „Schutzmaßnahmen“ ist folglich umfassend und eröffnet der Infektionsschutzbehörde ein möglichst breites Spektrum geeigneter Maßnahmen (vgl. Senatsbeschl. v. 26.05.2020 – 13MN 182/20 – juris Rn. 37; OVG Schl.-H., NdsVBl. Heft 1/2021 Rechtsprechung — 23 Beschl. v. 02.04.2020 – 3 MB 8/20 – juris Rn. 35).

Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten

„Schutzmaßnahmen“ im Sinne des § 28Abs. 1 IfSG können daher auch Untersagungen oder Beschränkungen von unternehmerischen Tätigkeiten in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen sein (vgl. mit zahlreichen Beispielen und weiteren Nachweisen: Senatsbeschl. v. 29.05.2020 – 13 MN 185/20 – juris Rn. 27), wie sie in § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung gegenüber den Betreibern von Hotels, Pensionen, Jugendherbergen und ähnlichen Beherbergungsbetrieben sowie Ferienwohnungen, Ferienhäusern und Campingplätzen getroffen worden sind (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 05.05.2020 – OVG 11 S 38/20 – juris Rn. 26).

Dem steht nicht entgegen, dass § 31 IfSG eine Regelung für die Untersagung beruflicher Tätigkeiten gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen, Ausscheidern und sonstigen Personen trifft. Denn diese Regelung ist gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG („insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten“) nicht abschließend. Auch die mangelnde Erwähnung der Grundrechte nach Art. 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG in § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG steht der dargestellten Auslegung nicht entgegen. Denn das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG, welches § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG zu erfüllen sucht, besteht nur, soweit im Sinne des Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG „ein Grundrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann“. Von derartigen Grundrechtseinschränkungen sind andersartige grundrechtsrelevante Regelungen zu unterscheiden, die der Gesetzgeber in Ausführung der ihm obliegenden, im Grundrecht vorgesehenen Regelungsaufträge, Inhaltsbestimmungen oder Schrankenziehungen vornimmt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.05.1970 – 1 BvR 657/68 – BVerfGE 28, 282, 289 – juris Rn. 26 ff. (zu Art. 5 Abs. 2 GG); Beschl. v. 12.01.1967 – 1 BvR 168/64 – BVerfGE 21, 92, 93 – juris Rn. 4 (zu Art. 14 GG); Urt. v. 29.07.1959 – 1 BvR 394/58 – BVerfGE 10, 89, 99 – juris Rn. 41 (zu Art. 2 Abs. 1 GG)). Hierzu zählen auch die Grundrechte der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG und des Eigentumsschutzes nach Art. 14 Abs. 1 GG.

Schutzmaßnahme muss im konkreten Einzelfall „notwendig“ sein

Der weite Kreis möglicher Schutzmaßnahmen wird durch § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG aber dahin begrenzt, dass die Schutzmaßnahme im konkreten Einzelfall „notwendig“ sein muss. Der Staat darf mithin nicht alle Maßnahmen und auch nicht solche Maßnahmen anordnen, die von Einzelnen in Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber sich selbst und Dritten bloß als nützlich angesehen werden. Vielmehr dürfen staatliche Behörden nur solche Maßnahmen verbindlich anordnen, die zur Erreichung infektionsschutzrechtlich legitimer Ziele objektiv notwendig sind (vgl. Senatsbeschl. v. 26.05.2020 – 13 MN 182/20 – juris Rn. 38). Diese Notwendigkeit ist während der Dauer einer angeordneten Maßnahme von der zuständigen Behörde fortlaufend zu überprüfen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.04.2020 – 1 BvQ 31/20 – juris Rn. 16). Diese objektive Notwendigkeit ist bei summarischer Prüfung für das in § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung angeordnete Beherbergungsverbot nicht gegeben.

(α) Der Senat hat bereits erhebliche Zweifel an der Eignung und Erforderlichkeit des Beherbergungsverbots zur Erreichung des legitimen Ziels der Verhinderung der weiteren Ausbreitung von COVID-19. Das in § 1 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 2 Satz 1 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung angeordnete Beherbergungsverbot bewirkt unmittelbar nur, dass Personen aus vom Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung festgelegten und veröffentlichten Risikogebieten in niedersächsischen Hotels, Pensionen, Jugendherbergen und ähnlichen Beherbergungsbetrieben sowie Ferienwohnungen, Ferienhäusern und Campingplätzen zu touristischen Zwecken grundsätzlich nicht mehr übernachten dürfen.

Mittelbare Folge dieses Verbots soll zudem sein, dass die genannten Personen von Einreisen zu touristischen Zwecken in das Land Niedersachsen absehen. Ob und in welchem Umfang diese mittelbare Folge wirklich erreicht wird, ist angesichts nicht unwahrscheinlicher tagestouristischer Aktivitäten von Personen aus einem Risikogebiet, das in Niedersachsen selbst oder in einem der an Niedersachsen angrenzenden neun Bundesländer belegen ist, offen. Von dem Verbot des § 1 Abs. 1 Satz 1 (i. V. m. § 1 Abs. 2 Satz 1) der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung ausgenommen sind zudem Beherbergungen durch Private (oder besser: Übernachtungen bei Privaten, vgl. Nds. Landesregierung, Reisen & Tourismus – Antworten auf häufig gestellte Fragen, veröffentlicht unter: https://www.niedersachsen.de/Coronavirus/antworten_auf_haufig_gestellte_fragen_faq/reisen-und-tourismus-antworten-auf-haufig-gestellte-fragen-186671.html, Stand: 14.10.2020 „Wichtig: Übernachtungen im privaten Bereich, also bei Freunden und Familienangehörigen etc. fallen nicht unter das Beherbergungsverbot!“), Beherbergungen zu anderen als touristischen Zwecken, Personen, die durch ein auf eine höchstens 48 Stunden vor der Anreise vorgenommene molekularbiologische Testung gestütztes ärztliches Zeugnis ihre Infektionsfreiheit nachweisen, und Personen, die einen der in § 1 Abs. 1 Satz 5 Nr. 1 bis 3 der Niedersächsischen Corona-Beherbergungs-Verordnung genannten Ausnahmetatbestände verwirklichen.

 

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag wird fortgesetzt

VBlNds 1/2021

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