Ist der Mindestlohn verfassungsgemäß?
Eine kritische Betrachtung der gesetzlichen Untergrenze von 8,50 €
Ist der Mindestlohn verfassungsgemäß?
Eine kritische Betrachtung der gesetzlichen Untergrenze von 8,50 €

Der gesetzliche Mindestlohn wirft seine Schatten voraus: In Hannover hat ein Taxiunternehmer kürzlich allen 65 Fahrern zum Jahresende gekündigt. Grund ist die ab dem 1. Januar 2015 geltende verbindliche Lohnuntergrenze in Höhe von 8,50 Euro brutto pro Stunde. Unter diesen Bedingungen sei der Betrieb nicht mehr wirtschaftlich zu führen, so die Begründung. Über Jahre war die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland hoch umstritten. Die Gegner sahen in ihm ein Programm zur Vernichtung von Arbeitsplätzen, die Befürworter ein wirksames Mittel gegen „Armutslöhne”. Kurz vor der Sommerpause hat das Mindestlohngesetz alle parlamentarischen Hürden genommen und die große Koalition aus CDU/CSU und SPD die politische Diskussion damit – vorerst – beendet. Erst die nächsten Monate werden zeigen, ob die Massenkündigung der Taxifahrerinnen und -fahrer prototypisch ist. Eine tragfähige arbeitsmarktpolitische Bewertung der gesetzlichen Lohnuntergrenze wird erst in den nächsten Jahren möglich sein.
Zahlreiche Rechtsprobleme bisher stiefmütterlich behandelt
Der gesetzliche Mindestlohn wirft nicht nur wirtschaftspolitische Fragen auf, sondern birgt auch zahlreiche Rechtsprobleme, die in der bisherigen Diskussion freilich stiefmütterlich behandelt worden sind. Vor allem eine Frage steht im Raum, die nach einer Antwort drängt: Ist das Mindestlohngesetz überhaupt verfassungsgemäß? Im Vorfeld und während der Beratungen des Gesetzes wurde angezweifelt, ob bestimmte Ausnahmeregelungen – Zeitungszusteller haben erst ab 2017 Anspruch auf den Mindestlohn von 8,50 Euro, für Langzeitarbeitslose gilt die Lohnuntergrenze in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung nicht, und für Jugendliche unter 18 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung ist gar keine Lohnuntergrenze vorgesehen – gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz (GG) verstoßen. Doch die verfassungsrechtliche Prüfung des Mindestlohngesetzes darf nicht erst bei den Ausnahmen, sondern muss bereits an der Wurzel des Gesetzes ansetzen: Ist die verbindliche Lohnuntergrenze in Höhe von 8,50 Euro mit dem Grundgesetz vereinbar? Um es vorwegzunehmen: Gute Gründe sprechen dafür, dass diese Regelung gegen das in Art. 9 Abs. 3 GG verankerte Grundrecht der Koalitionsfreiheit verstößt.
Eingriff in die Tarifautonomie
Die Koalitionsfreiheit gewährleistet neben der Freiheit, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände (Koalitionen) zu gründen, auch deren Betätigungsrecht – also das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Tarifverträge auszuhandeln und abzuschließen (Tarifautonomie). Das Grundgesetz geht davon aus, dass die Festsetzung der Löhne „aus Sachgründen am besten von den Tarifvertragsparteien geregelt werden kann, weil sie nach den Vorstellungen des Verfassungsgebers die gegenseitigen Interessen angemessener zum Ausgleich bringen als der Staat” – so das Bundesverfassungsgericht.
Der Staat hat sich deshalb bei der Lohnfindung grundsätzlich jeder Einflussnahme zu enthalten. Ein gesetzlicher Mindestlohn, der abweichende tarifvertragliche Regelungen beseitigt, trifft daher den Nerv der Tarifautonomie. Tarifverträge mit einem Brutto-Stundenlohn unter 8,50 Euro sollen nach dem Gesetz zwar noch für eine Übergangszeit bis Ende 2016 gültig bleiben können – doch danach sind sie Makulatur. Vor diesem Hintergrund zeugt es von einem gewissen Widerspruch, wenn es in der Begründung des Gesetzes heißt, Ziel sei es, „die Tarifautonomie zu stärken”. Befürworter des gesetzlichen Mindestlohns weisen zwar – zutreffend – darauf hin, dass die Tarifbindung insbesondere in den Jahren 1996 bis 2006 deutlich zurückgegangen ist. Dementsprechend gilt für zahlreiche Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnbereich überhaupt kein Tarifvertrag. Das ändert aber nichts daran, dass der gesetzliche Mindestlohn tarifvertragliche Regelungen beseitigt – insoweit diese eben tatsächlich bestehen. Im Übrigen hat die Callcenter-Branche eigene Pläne zum Abschluss eines Tarifvertrages gerade wegen des sich abzeichnenden gesetzlichen Mindestlohns gestoppt; die Regelungsspielräume seien damit entfallen. Deutlich wird: Der gesetzliche Mindestlohn ist und bleibt ein Eingriff in die Tarifautonomie.
Rechtfertigung des gesetzlichen Eingriffs …
Nach seinem Wortlaut gewährleistet das Grundgesetz die Koalitionsfreiheit vorbehaltlos. Dennoch können gesetzliche Eingriffe in die Tarifautonomie durchaus gerechtfertigt sein, wie bereits die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Arbeitsrecht zeigt (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG). Zur Rechtfertigung konkreter Grundrechtseingriffe taugt diese allgemeine Zuständigkeitsregelung freilich nicht – anderenfalls liefe das Grundrecht der Koalitionsfreiheit praktisch weitgehend leer. So sind Eingriffe in vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur zum Schutz von kollidierenden Grundrechten Dritter oder zur Wahrung anderer konkret umrissener Verfassungsgüter zulässig.
In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es, der gesetzliche Mindestlohn solle „verhindern, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Arbeitsentgelten beschäftigt werden, die jedenfalls unangemessen sind und den in Artikel 2 Abs. 1 und Artikel 20 Abs. 1 des Grundgesetzes zum Ausdruck kommenden elementaren Gerechtigkeitsforderungen nicht genügen”. Selbstverständlich sind angemessene Löhne erstrebenswert, nur: Verfassungsrang kommt diesem Ziel nicht zu. Im Unterschied zu den Verfassungen einiger Bundesländer werden Arbeitsentgelte im Grundgesetz nicht thematisiert. Auch bloße Verweise auf Art. 2 Abs. 1 GG oder auf Art. 20 Abs. 1 GG – insoweit dürfte das dort verankerte Sozialstaatsprinzip gemeint sein – taugen nicht als Eingriffsrechtfertigung. So kann das Sozialstaatsprinzip aufgrund seiner Vagheit nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur in Verbindung mit anderen einschlägigen kollidierenden Grundrechten grundrechtsbegrenzend wirken.
… nach Art. 1 Abs. 1 GG
Das alles bedeutet freilich noch keineswegs, dass ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn von vornherein verfassungswidrig wäre. Eine gesetzliche Lohnuntergrenze könnte durchaus auf die in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Menschenwürdegarantie gestützt werden. Die Mindestlohnregelung müsste sich mit Blick auf die Höhe des Lohns und auf die Kriterien seiner Festlegung allerdings dann in den von der Menschwürdegarantie vorgegebenen Grenzen bewegen.
„Den” gesetzlichen Mindestlohn gibt es nicht; zwischen einer Lohnuntergrenze von 11 Euro pro Stunde (so in Luxemburg) und einem Euro pro Stunde (Bulgarien) liegen Welten. Welche Höhe muss ein gesetzlicher Mindestlohn haben, um menschenwürdig zu sein? Aus der Menschenwürdegarantie kann ein staatlicher Schutzauftrag zur Sicherung des Existenzminimums abgeleitet werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zu den Hartz IV-Sätzen betont, dass der aus Art. 1 Abs. 1 GG folgende Anspruch nur die zur Sicherung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlichen Mittel umfasst. In der Praxis bedeutete dies letztlich, dass sich die Höhe eines gesetzlichen Mindestlohns mehr oder weniger an der Höhe der ihrerseits verfassungskonform auszugestaltenden sozialrechtlichen Fürsorgeleistungen für Alleinstehende orientieren müsste. Auf einen Brutto-Stundenlohn umgerechnet, wäre das jedenfalls deutlich weniger als 8,50 Euro. Hinzu kommt: Das Mindestlohngesetz unterlässt es, den Regelungsspielraum der Mindestlohnkommission, die zweijährlich über Anpassungen der Höhe des Mindestlohns beschließen soll, an dem Kriterium der Existenzsicherung auszurichten. Stattdessen ist im Gesetz sogar von „angemessenen” Löhnen die Rede. In der Menschenwürdegarantie findet eine solche Regelung keine Stütze.