15.12.2011

Wenige Gelegenheiten – hohe Hürden

Volksabstimmungen in Deutschland auf Länderebene

Wenige Gelegenheiten – hohe Hürden

Volksabstimmungen in Deutschland auf Länderebene

Hohe institutionelle Hürden: Etwa alle 30  Jahre findet ein Volksentscheid pro Bundesland statt. | © arahan - Fotolia
Hohe institutionelle Hürden: Etwa alle 30 Jahre findet ein Volksentscheid pro Bundesland statt. | © arahan - Fotolia

Die Staatsgewalt, die nach Artikel 20 Absatz 2 Grundgesetz vom Volk „in Wahlen und Abstimmungen“ ausgeübt wird, stellt Volksabstimmungen auf Landes- und Bundesebene grundsätzlich auf die gleiche Stufe mit Wahlen.

Allerdings stellt der faktische Aufbau des politisch-repräsentativen Systems Deutschlands besonders in der Gesetzgebung die vom Volk zu wählenden Parlamente in den Mittelpunkt.

Historische Entwicklungen

Obwohl die politischen Entscheidungsträger nach dem Zweiten Weltkrieg von einem tiefen Misstrauen gegenüber der demokratischen Reife des Volkes erfüllt waren, wurden in allen 1946/47 verabschiedeten Landes(voll)verfassungen direktdemokratische Partizipationsinstrumente eingeführt. Anders agierte der Parlamentarische Rat 1948/49, der sich bei der Schaffung des Grundgesetzes, nicht zuletzt durch die Kritik an der Ausgestaltung zahlreicher Elemente direkter Demokratie in der Weimarer Verfassungsordnung bewogen, gegen Formen direkter Demokratie entschied.


Als betonte Ausnahme gilt Artikel 29 Grundgesetz im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Neugliederung des Bundesgebietes. Der Bevölkerung wurde jedoch in den Ländern die Möglichkeit eingeräumt, unmittelbar an der Gesetzgebung teilnehmen zu können.

Für die Verfassungspraxis der Länder war auch bedeutend, dass Volksbegehren und Volksentscheid an hervorgehobenen Stellen in den Artikeln verankert wurden.

Institutionelle Voraussetzungen von Volksbegehren und Volksentscheid

Der thematische Gegenstand eines Volksbegehrens muss immer der Erlass, die Änderung oder Aufhebung eines förmlichen Gesetzes sein, für welches das jeweilige Land die Gesetzgebungszuständigkeit besitzt. Ausgeschlossen sind Volksbegehren in den meisten Ländern über Abgaben (Gebühren, Steuern), Besoldungsordnungen, Finanzfragen sowie über Staatsverträge. Ausgangspunkt eines initiierten Volksbegehrens muss ein ausgearbeiteter und mit Gründen versehener Gesetzentwurf sein. Einzelheiten über die Verfahren bei Volksbegehren und Volksentscheiden sind in dazu ergangenen Durchführungsverordnungen und in entsprechend anzuwendenden Vorschriften der Landeswahlgesetze enthalten.

Das Volksbegehren bedarf der Unterstützung zwischen ca. 4 Prozent (Brandenburg) und 20 Prozent (Hessen, Saarland) der Stimmberechtigten in den Bundesländern. Wird das jeweilige Quorum nicht erreicht, ist das Volksbegehren gescheitert. Die Landtage sind im Übrigen wirklicher Adressat des Volksbegehrens; dabei haben sie sich sachlich mit dem Volksbegehren zu befassen. Führen die Landtage keinen Beschluss herbei, gilt das Volksbegehren als abgelehnt. Entsprechen die Landtage wiederum dem Begehren ohne sachliche Änderungen, kommt ein Landesgesetz wie jedes andere durch Ausfertigung und Verkündung zustande.

Ein Volksentscheid wird nur durchgeführt, wenn der zuständige Landtag einem zulässigen Volksbegehren nicht entsprochen hat. Der Volksentscheid hat das Ziel, einen Gesetzesbeschluss der Bürgerinnen und Bürger anstelle des Landtags treten zu lassen.

Das Gesetz kann durch die Annahme des Entwurfs mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen realisiert werden; allerdings nur unter der Voraussetzung, dass diese Mehrheit zwischen 15 Prozent (Nordrhein-Westfalen) und 50 Prozent (Saarland) der Stimmberechtigten beträgt. Ausnahmen sind Bayern, Hessen und Sachsen, wo bei einfachen Gesetzen kein Zustimmungsquorum existiert.

Ein solches Quorum soll eine gewisse Repräsentativität gewährleisten, steht aber im Hinblick auf seine Angemessenheit im politischen Streit. Über den Gegenstand des Volksbegehrens kann beim Volksentscheid geheim nur mit „Ja“ oder „Nein“ abgestimmt werden. Entscheidend ist die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen. Bei Erreichen der notwendigen Mehrheit ist das Gesetz von den Landesregierungen auszufertigen und zu verkünden.

Häufigkeit und Relevanz

In den deutschen Ländern fanden im Zeitraum von 1946 bis 2011 bislang 76 konkrete Versuche unmittelbarer Gesetzgebung, sprich Volksbegehren statt, die von der Bevölkerung selbst initiiert wurden. Thematisch dominieren Sachverhalte zu Bildung und Kultur sowie Demokratie und Innenpolitik. Die Themenpalette wird dabei durch die Gesetzgebungskompetenz der Bundesländer vorgegeben. Bayern hat mit 18 Volksbegehren und sechs Volksentscheiden vor Hamburg mit 13 Volksbegehren und mittlerweile auch schon sechs Volksentscheiden die meisten direkten Bürgerbeteiligungsverfahren auf Landesebene vorzuweisen. Hinsichtlich der Häufigkeit pro Jahr liegt allerdings Hamburg bundesweit mit 1,2 Volksbegehren vorne, da im nördlichen Stadtstaat erst seit 1996 Volksbegehren zugelassen sind, in Bayern jedoch schon seit 1946.

Die geringe Zahl von 76 Volksbegehren und 20 Volksentscheiden seit 1946 hat einerseits weder vermeintliche Befürchtungen einer Schwächung der repräsentativen Demokratie hinsichtlich einer Überforderung der Bürgerinnen und Bürger bei komplexen Entscheidungen bestätigt sowie andererseits die Hoffnungen der Befürworter direkter Demokratie wohl enttäuscht, dass sich die Zahl der unmittelbar Beteiligten an der Landespolitik durch dieses Partizipationsinstrument signifikant erhöhen ließe. Statistisch gesehen findet damit lediglich alle etwas über 30 Jahre ein Volksentscheid pro Bundesland statt.

Gründe für die geringe Umsetzungsquote sind durchaus zu identifizieren: Die Unterschriftenquoren bei den Volksbegehren sind in vielen Flächenländern immer noch recht hoch. Für ein Volksbegehren müssen große Stimmenanteile zusammengetragen werden – dies erfordert eine erhebliche Organisationsfähigkeit der Initiatoren, weil zusätzlich die Eintragungsfristen zu beachten sind. Gleichwohl haben einige Länder diese Eintragungsfristen mittlerweile doch schon auf mehrere Monate ausgedehnt. Auch beim Volksentscheid müssen Hürden genommen werden: Die Zustimmungsquoren für einen Entscheid bei einfachen Gesetzen existieren im Idealfall für die Initiatoren nicht (siehe Bayern, Hessen, Sachsen und modifiziert Hamburg) oder betragen gar 50 Prozent wie im Saarland und immerhin noch 33,3 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern und Baden-Württemberg.

Bei der aktuellen Volksabstimmung in Baden-Württemberg zu „Stuttgart 21“ scheiterten die Initiatoren dieses Entscheids nicht nur daran, dass 58,8 Prozent der Abstimmenden gegen einen Ausstieg aus dem Bahnprojekt votierten, sondern auch daran, dass das Zustimmungsquorum von 33,3 Prozent verfehlt wurde. Dabei lag die Wahlbeteiligung bei respektablen 48,3 Prozent von insgesamt 7,6 Mio. Wahlberechtigten.

Dieses Ergebnis ist aufgrund mancher zu beobachtender verzerrter Wahrnehmung über institutionelle Hürden bei Volksabstimmungen wohl erläuterungsbedürftig. Um den Volksentscheid aus Sicht der Gegner zu einem Erfolg zu führen, hätten bei einer fiktiven Beteiligung von 33,3 Prozent, also dem erforderlichen Quorum, 100 Prozent der Wahlberechtigten gegen das Projekt stimmen müssen. Bei der tatsächlichen Wahlbeteiligung von 48,3 Prozent wäre immer noch eine Quote von ca. 70 Prozent dagegen erforderlich gewesen. Erst bei einer Beteiligung von rund 67 Prozent aller Wahlberechtigten hätte die einfache Mehrheit gegen „Stuttgart 21“ genügt, um das Projekt zu verhindern. Eine Größenordnung, die für eine Abstimmung über einen einzelnen Sachverhalt schwerlich erreichbar sein dürfte.

Bei Verfassungsänderungen sind in den meisten Ländern 50 Prozent (plus 2/3-Mehrheit) erforderlich oder in Hessen und im Saarland überhaupt nicht möglich. Aufgrund dieser Zulassungsbeschränkungen scheinen Volksbegehren und Volksentscheide nur in Ausnahmefällen realisierbar zu sein.

In einem materiellen Sinne könnte im Hinblick auf eine erweiterte Bürgermitwirkung auch das Fehlen von obligatorischen Volksabstimmungen über Verfassungsänderungen (Ausnahmen Bayern, Hessen und sehr eingeschränkt Berlin) sowie der überwiegende Ausschluss von Volksbegehren zu Finanzthemen (Ausnahmen Berlin und Sachsen) bemängelt werden. So wäre nicht auszuschließen, dass solche Kernbereiche demokratisch zu führender Entscheidungen das Interesse und das Verantwortungsgefühl der Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Landespolitik in einem gewissen Maße stärken könnten. Zweifellos wäre eine erweiterte Einbindung der Bürgerinnen und Bürger durch unmittelbare Entscheidungen kein Allheilmittel gegen Politiker- und Parteienverdrossenheit, aber genauso wenig wäre es eine Gefahr für die Funktionsfähigkeit der Demokratie.

Fazit

Prinzipiell hat die Anwendung dieser Partizipationsinstrumente die politische Szene in den deutschen Ländern belebt. Die Möglichkeiten, zu landespolitischen Einzelthemen durch Volksbegehren und Volksentscheid direkte Entscheidungen zu treffen, stellen durchaus eine wirksame Form unmittelbarer Demokratie dar. So haben die Partizipationsinstrumente zu einer Stärkung direktdemokratischer Politik geführt, ohne jedoch wirklich ein starkes Gegengewicht zu den Landtagen bilden zu können und eine systematische Machtkontrolle durch die Bürgerinnen und Bürger auszuüben. Das Repräsentationsprinzip der parlamentarischen Demokratie blieb im Grundsatz unangetastet. Die doch recht überschaubare Praxis von 76 Volksbegehren seit Gründung der Länder bestätigt den Ausnahmecharakter dieses Partizipationsinstruments, wobei insbesondere die institutionell-strukturellen Zulässigkeitsbeschränkungen sowie die sachliche Beschränkung auf bestimmte Themengebiete zu dieser geringen Anzahl geführt haben. Zumindest tragen Volksbegehren und Volksentscheid, trotz bisher spärlicher Anwendungszahl, indirekt dazu bei, die Politik etwas mehr zu kontrollieren und transparenter zu gestalten.

 

Prof. Dr. Andreas Kost

Dozent für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und stellvertretender Leiter Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf
n/a