15.12.2011

Grundzüge der Planung

Zur gerichtlichen Einschränkung einer ausufernden Befreiungspraxis

Grundzüge der Planung

Zur gerichtlichen Einschränkung einer ausufernden Befreiungspraxis

Befreiungen dürfen die städtebauliche Ordnung nicht wesentlich beeinträchtigen. | © ArTo - Fotolia
Befreiungen dürfen die städtebauliche Ordnung nicht wesentlich beeinträchtigen. | © ArTo - Fotolia

Hinter dem Begriff der „Grundzüge der Planung“ verbirgt sich ein wichtiges Steuerungsinstrument im Bauplanungsrecht. In den Fällen, in denen Vorhaben von den Festsetzungen eines Bebauungsplans abweichen und Befreiungen erteilt werden, ist deren Zulässigkeit nicht zuletzt auch an den Grundzügen der Planung zu messen. Das Bundesverwaltungsgericht hat mit mehreren Entscheidungen (BVerwG, Urt. v. 05. 03. 1999 – 4 B 5.99, NVwZ 1999, 1110); v. 19. 05. 2004 – 4 B 35.04, BRS 67 Nr. 83 (2004) und v. 24. 09. 2009 – 4 B 29.09, BRS 74 Nr. 60 (2009)) den Begriff der Grundzüge der Planung im Sinne von § 31 Abs. 2 BauGB näher beleuchtet. Es geht davon aus, dass es sich hierbei um das von dem Plangeber erstellte Grundkonzept handelt. Dies stellt die planerische Abwägung im Sinne einer Saldierung nachbarlicher und öffentlicher Interessen dar und damit den planerischen Interessenausgleich, wie er im Bebauungsplan gefunden wird. Bei der Frage, was die Grundzüge der Planung im Einzelfall sind, muss die jeweilige Planungssituation individuell bewertet werden. Der Begriff der Grundzüge der Planung lässt dabei keine allgemeingültige Definition und klare Umgrenzung zu. Vielmehr muss unter Berücksichtigung der Festsetzungen des Bebauungsplans, seiner Begründung und planerischen Grundkonzeption der „rote Faden“ herausgearbeitet werden, anhand dessen eine Beurteilung der konkreten Maßnahme erfolgen kann.

Aktuelle Entscheidungen zu ausufernder Befreiungspraxis

Die praktische Bedeutung der Grundzüge der Planung zeigt sich nicht zuletzt aufgrund von zwei jüngeren Entscheidungen des VG Frankfurt am Main (VG Frankfurt a.M., Urt. v. 12. 11. 2010 – 8 K 3407/09, NVwZ-RR 2011, 229 sowie v. 16. 05. 2011 – 8 K 3785/10, NVwZ-RR 2011, 810): Schon in den siebziger Jahren wurden in Frankfurt umfangreiche Bauvorhaben und Hochhausbebauungen genehmigt, die an sich den geltenden Bebauungsplänen widersprachen. Es wurde nicht streng auf der Grundlage der Bebauungspläne, sondern im Wege von weitreichenden Befreiungen gearbeitet, um eine möglichst großzügige Grundstücksausnutzung zu ermöglichen. Auch heute noch werden Plangebiete häufig durch eine Vielzahl von Befreiungen so stark verändert, dass von der ursprünglichen Planungsidee nur noch eine leere Hülle übrig bleibt. Da durch diese Befreiungspraxis von den Grundzügen der Planung erheblich abgewichen und unter anderem das Instrument der Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB eklatant missbraucht wurde, hat das VG Frankfurt am Main in den genannten Urteilen Befreiungen für mehrere Vorhaben für nichtig erklärt. Das Gericht hat dabei die Bedeutung der Planungshoheit betont.

Bebauungsplan als Grundlage

Die Planungshoheit ist eine der grundgesetzlich zugesicherten Kernbereiche der Gemeinden. Der Bebauungsplan als Satzung ist damit ein Ausdruck der verfassungsrechtlich garantierten und demokratisch legitimierten Willensäußerung der Gemeinde. Er kann nicht durch anderweitige Entscheidungen der Bauaufsichtsbehörden geändert werden. Die einzige Ausnahme stellt die Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB dar. Hiernach kann in sehr engen Grenzen und bei Vorliegen strenger Voraussetzungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans abgewichen werden.


Befreiungen möglich, wenn Grundzüge der Planung gewahrt bleiben

Bei Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB ist zu prüfen, ob die Grundzüge der Planung berührt sind. Dies beurteilt sich grundsätzlich – sofern im Bebauungsplan nicht ein Baugebiet nach den Regelungen der §§ 2 bis 11 BauNVO festgesetzt wurde – nach dem im Bebauungsplan zum Ausdruck gebrachten planerischen Willen. Die Befreiung darf keine derartige Bedeutung haben, dass die mit dem Bebauungsplan verfolgte städtebauliche Ordnung in beachtlicher Weise beeinträchtigt wird. Die Abweichung von dem Bebauungsplan muss letztlich noch im Bereich dessen liegen, was der Planer wollte oder gewollt hätte, wenn er die weitere Entwicklung, einschließlich des nun aufgetretenen Grundes für die Erteilung einer Befreiung, gekannt hätte. Randkorrekturen von minderem Gewicht berühren die Grundzüge der Planung nicht. Die Grundkonzeption des Bebauungsplans muss aber erhalten bleiben. Die Befreiung darf nicht das Verfahren der Planänderung umgehen oder gar ersetzen.

Ebenfalls ist zu berücksichtigen, wie sich eine Befreiung künftig auf das Plangebiet auswirken kann. Problematisch ist dies, wenn von der konkreten Befreiung eine Art Vorbildwirkung ausgeht, die das Plangefüge bei identischer Entscheidung in ähnlichen Fällen erschüttern würde. Daher kann sich eine Planabweichung in der Regel auch nur auf einzelne Grundstücke beziehen; sie darf nicht die Konzeption und Austarierung der Planung im gesamten Plangebiet ändern.

Konsequenzen

In den eingangs zitierten Urteilen hat das VG Frankfurt am Main festgestellt, dass die Baugenehmigungen, die auf einer nichtigen Befreiung fußen, gleichfalls nichtig sind. Die jeweils zugrundeliegenden Befreiungen (hier: Neubau von 12 Doppelhaushälften statt festgesetzter Grünfläche in dem einen Fall bzw. Errichtung von 22 Vollgeschossen bei GFZ 8,5 statt festgesetzten fünf Vollgeschossen bei GFZ 2,0 in dem anderen Fall) verstoßen so eklatant gegen die Grundzüge der Planung, dass sie im Einzelfall sogar als Akt der Willkür angesehen werden können. Soll weitreichend von den Grundzügen der Planung abgewichen werden, ist eine neue Planung oder eine Planänderung erforderlich. Gerade Hochhausprojekte bedürfen wegen ihrer mannigfaltigen und gravierenden Auswirkungen eines exakten Bebauungsplans, der bereits planerisch diese Auswirkungen im Rahmen der Abwägung berücksichtigt und angemessen gewürdigt hat. Erhebliche Abweichungen können daher nicht im Wege von Befreiungen erfolgen. Aber auch bei Vorhaben unterhalb der Hochhausgrenze darf das Projekt dem planerischen Grundkonzept nicht diametral entgegenstehen. Sollen Bestandsimmobilien umgebaut, revitalisiert oder Nutzungsänderungen unterzogen werden, die ihrerseits genehmigungspflichtig wären, wird der gesamte Genehmigungsvorgang überprüft. Um die Gefahr einer vollständigen Baurechtswidrigkeit ihrer Immobilien zu vermeiden, sehen viele Eigentümer von Bestandsimmobilien und Projektentwickler derzeit von entsprechenden Maßnahmen ab.

Fazit: Grundzüge der Planung als scharfes Schwert des Baurechts

Die Grundzüge der Planung bilden damit neben dem eigentlichen Bebauungsplan das Fundament der rechtlich zulässigen Bebaubarkeit. Abweichungen sind an diesem strengen Maßstab zu prüfen. Da im Verfahren zur Erteilung neuer Baugenehmigungen auch die Genehmigungshistorie Beachtung findet, haben Verstöße gegen die Grundzüge der Planung eine immense Bedeutung für die bauliche Veränderung, Revitalisierung und die Projektentwicklung von Bestandsimmobilien. Es ist daher notwendig, eine rechtlich nicht angreifbare Baugenehmigung zu erlangen. Hierfür kann sich bereits im Genehmigungsverfahren eine juristische Begleitung des Projekts anbieten. Andernfalls können sich auch Jahre später noch weitreichende Konsequenzen für den Wert und die Nutzbarkeit des Grundstücks ergeben.

 

Dr. Bastian Hirsch

Fachbereichsleiter der Bauaufsicht einschließlich der Unteren Denkmalschutzbehörde sowie der Unteren Immissionsschutzbehörde des Hochtaunuskreises
 

Prof. Dr. Stefan Pützenbacher, Notar

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Kanzlei Kapellmann und Partner, Frankfurt am Main; Honorarprofessor für Baurecht an der Frankfurt University of Applied Sciences
n/a