15.12.2016

Wirklich alles einfach(er)?

9. SGB II-Änderungsgesetz unter die Lupe genommen

Wirklich alles einfach(er)?

9. SGB II-Änderungsgesetz unter die Lupe genommen

Die Rechtsvereinfachung im SGB II-Leistungsrecht bleibt ein Dauerprojekt. | © Stockfotos-MG - Fotolia
Die Rechtsvereinfachung im SGB II-Leistungsrecht bleibt ein Dauerprojekt. | © Stockfotos-MG - Fotolia

Das 9. SGB II-Änderungsgesetz vom 26. 07. 2016 (BGBl. I S. 1824) ist angetreten für mehr Bürgerfreundlichkeit, die Vermeidung unnötiger Bürokratie und den nachhaltigen Einsatz knapper werdender Ressourcen. Leistungsberechtigte sollten leichter Klarheit über das Bestehen und den Umfang von Rechtsansprüchen erhalten, die von den Mitarbeitern in den Jobcentern anzuwendenden Verfahrensvorschriften sollten vereinfacht werden. Diese Zielsetzung wurde aber nur sehr eingeschränkt erreicht. Die Rechtsvereinfachung wird daher ein Dauerprojekt bleiben.

Entlastung vs. Mehrarbeit

Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung die im Jahr 2014 gemeinsam von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden erarbeiteten Vorschläge zur Vereinfachung des passiven Leistungsrechts sowie des Verfahrensrechts im SGB II in weiten Teilen aufgegriffen und zum 01. 08. 2016 gesetzgeberisch umgesetzt hat. Unbestritten ist, dass die Jobcenter dringend eine Vereinfachung des rechtlichen Rahmens der Leistungsgewährung brauchen, damit letztlich auch die Leistungsberechtigten von vermeidbarer Bürokratie entlastet werden und als Folge einer spürbaren Rechtsvereinfachung auch Ressourcen für eine intensivere Betreuung freigesetzt werden können. Rechtsvereinfachung hat somit neben einer verwaltungsbezogenen auch eine klar personenbezogene Dimension. Die Novelle ist vor diesem Hintergrund ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

Allerdings bleibt das Gesetz hinter den Erwartungen der Jobcenter nach einer deutlichen Rechtsvereinfachung zurück. Unter dem Strich bleibt nur wenig Vereinfachung übrig – ganz im Gegenteil sehen die Jobcenter zusätzlich durch das Gesetz ausgelöste Belastungen. Dies betrifft beispielsweise die schwer zu überblickenden Regelungen zu aufstockenden Leistungen für Auszubildende (§ 7 Abs. 5, 6 SGB II), die relativ komplex ausgefallene Neuregelung zu den vorläufigen Leistungen (§ 41a SGB II) sowie die deutlich ausgeweiteten Beratungspflichten der Jobcenter (§ 14 Abs. 2 SGB II). In Bezug auf diesen neu gefassten Beratungskatalog besteht voraussichtlich sogar ein höheres Risiko von Widersprüchen und Klagen.


Auf der anderen Seite gibt es auch Vorschriften, die den Jobcentern die Arbeit erleichtern dürften: Zu nennen sind beispielsweise die konsequenter gefassten Mechanismen zur Leistungsablehnung bei fehlender Mitwirkung in Bezug auf vorrangig zu beanspruchende Sozialleistungen (§ 5 Abs. 3 SGB II), die Zusicherung des neuen Trägers bei Umzügen in Bezug auf die Einschätzung der angemessenen Wohnkosten (§ 22 Abs. 4 SGB II), der Wegfall der Erbenhaftung (§ 35 SGB II) oder die Verkürzung der Frist für Überprüfungsanträge hinsichtlich der Rücknahme von Verwaltungsakten von 30 auf vier Jahre (§ 40 Abs. 1 SGB II).

Bei der seitens des Bundesgesetzgebers an verschiedener Stelle hervorgehobenen Verlängerung des Bewilligungszeitraumes von sechs auf zwölf Monate (§ 41 Abs. 3 SGB II) fällt die Betrachtung gemischt aus, da bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes gut 40 % der Jobcenter entsprechend lange Zeiträume bewilligt haben. Insofern ist nicht davon auszugehen, dass von dieser Neuregelung ein wirklich spürbarer Effekt zur Arbeitsentlastung der Leistungssachbearbeiter ausgehen wird.

Regelungsziel konsequent(er) durchhalten

Ohnehin ging der Gesetzentwurf mit 39 Mio. € pro Jahr von einer lediglich marginalen Reduktion der Verwaltungskosten im SGB II aus, zumal im Verlauf des Verfahrens eine Reihe weiterer Pflichten der Jobcenter aufgenommen worden sind, die inhaltlich durchaus als vertretbar angesehen werden können. In der Gesamtschau führen sie aber dazu, dass die Rechtsvereinfachung als Regelungsziel immer mehr in den Hintergrund getreten ist. Beispiele sind die vielfältigen Erweiterungen im Bereich der aktiven Leistungen (z. B. in den §§ 16e, 16g, 16h, 18d SGB II), die zwar sozialpolitisch sinnvoll sind, aber mit Rechtsvereinfachung nichts zu tun haben. Gerade bei komplexen Gesetzgebungsvorhaben sollten Sinn und Zweck der Novellierung sorgfältig ausgearbeitet und diese Regelungsmotivation von Anfang bis Ende durchgehalten werden. Daran sollten im Verfahren eingebrachte Vorschläge – zumindest zu einem maßgeblichen Teil – gemessen werden, um das eigentliche Ziel der Veränderung nicht in den Hintergrund treten zu lassen.

Weitere Vereinfachung im Bereich der passiven Leistungen und des Verfahrensrechts könnte freilich in diesem Sinne gelingen, wenn Einzelfallprüfungen konsequent durch Pauschalierungen ersetzt würden. Problematisch daran ist aber neben Restriktionen im Haushaltsrecht, dass die Pauschale stets am oberen Rand der Bedarfe angesiedelt sein müsste. Dadurch wäre der Sozialstaat noch ein Stück weit teurer und ginge in sehr vielen Fällen über das Bedarfsdeckungsprinzip hinaus. Insofern ist dieser Weg eher mit erheblichen systemischen Schwierigkeiten verbunden.

Kurzfristig weiterverfolgt werden sollten aber unbedingt die verschiedenen sinnvollen Vorschläge aus dem Gesetzgebungsverfahren – beispielsweise des Bundesrates und auch des Deutschen Landkreistages –, die der Bundestag aber nicht aufgegriffen hat. Dies gilt etwa für den Wegfall des Eigenanteils von 1 € bei Teilnahme an einer gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung oder eine deutlich nach oben zu setzende Bagatellgrenze im Zusammenhang mit der Geltendmachung von Erstattungsforderungen seitens der Jobcenter.

Es bleibt noch viel zu tun

Insgesamt kann daher festgehalten werden, dass am SGB II-Leistungsrecht sowie am Verfahrensrecht kontinuierlich weiterzuarbeiten sein wird. Das Gesetz bringt keine Zielerreichung – die Rechtsvereinfachung bleibt ein Dauerprojekt.

Sehr bedauerlich ist, dass keine Überarbeitung des Sanktionsrechts erfolgt ist. Dies betrifft vor allem die auch vom Deutschen Landkreistag befürwortete Streichung der Sonderregelungen für Leistungsberechtigte unter 25 Jahren. Die beabsichtigte Neugestaltung war in der Regierungskoalition derart umstritten, dass eine Herausnahme die einzige Möglichkeit war, die Novelle nicht scheitern zu lassen. Dieses Vorhaben muss bei nächster Gelegenheit nachgeholt werden.

Gleiches gilt für die Vereinfachung des Leistungsrechts für in verschiedenen Haushalten lebende minderjährige Kinder („temporäre Bedarfsgemeinschaften”). Diese bleibt ebenfalls auf der Tagesordnung. Es sollte erwogen werden, eine dauerhafte prozentuale Zuordnung von Aufenthaltsanteilen des Kindes bezogen auf den jeweiligen elterlichen Haushalt rechtssicher vorzusehen. Dadurch könnte eine spürbare Verwaltungsvereinfachung erreicht werden.

 

Dr. Markus Mempel

Deutscher Landkreistag, Berlin
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