15.12.2016

Grundsätzlich zwingendes Recht

Die Beitragserhebungspflicht im Straßenbaubeitragsrecht

Grundsätzlich zwingendes Recht

Die Beitragserhebungspflicht im Straßenbaubeitragsrecht

In der Regel müssen Gemeinden Beiträge erheben, ob sie wollen oder nicht. | © blas - Fotolia
In der Regel müssen Gemeinden Beiträge erheben, ob sie wollen oder nicht. | © blas - Fotolia

Der Gemeinderat einer Gemeinde in Bayern beschloss die Aufhebung ihrer Straßenbaubeitragssatzung. Die zuständige Rechtsaufsichtsbehörde beanstandete die Aufhebung und forderte die Gemeinde insbesondere auf, den Aufhebungsbeschluss aufzuheben. Die daraufhin erhobene Klage der Gemeinde hatte vor dem Verwaltungsgericht keinen Erfolg. Ihre Berufung hat der BayVGH durch Urteil vom 9. November 2016 (Az. 6 B 15.2732) zurückgewiesen. Im Ergebnis ist der Entscheidung uneingeschränkt zuzustimmen. Gleichwohl bleiben einige Fragen offen.

 

Die Begründung des BayVGH

Die Rechtsaufsichtsbehörde habe die Aufhebung des Aufhebungsbeschlusses verlangen dürfen, weil er rechtswidrig sei. Eine Gemeinde sei gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 3 KAG zur Erhebung von Beiträgen für die Verbesserung oder Erneuerung ihrer Ortsstraßen und beschränkt-öffentlichen Wege grundsätzlich verpflichtet; der Begriff „sollen“ in dieser Vorschrift habe nämlich grundsätzlich verbindlichen Charakter und gestatte eine Ausnahme nur bei Vorliegen besonderer – atypischer – Umstände. Diese Verpflichtung umfasse sämtliche für eine Beitragserhebung erforderlichen Verfahrensschritte, zuvörderst die Pflicht zum Erlass und zur Aufrechterhaltung einer Straßenbaubeitragssatzung als zwingende Voraussetzung für eine Beitragserhebung im engeren Sinne (vgl. Art. 2 Abs. 1 Satz 1 KAG). Für die Einschätzung, ob im Einzelfall atypische Umstände vorliegen, sei der Gemeinde kein Beurteilungsspielraum eingeräumt; vielmehr unterliege ihre Einschätzung in vollem Umfang der Nachprüfung durch die Rechtsaufsichtsbehörden und die Gerichte.

Die Beantwortung der Frage, ob das Vorliegen atypischer Umstände in einem Einzelfall angenommen werden könne, werde vor allem durch die in Art. 62 Abs. 2 und 3 GO geregelten Grundsätze der Einnahmebeschaffung geprägt. Sie legten die Reihenfolge fest, nach der sich die Gemeinden die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Einnahmen zu beschaffen hätten. Primäre Deckungsmittel seien die „sonstigen Einnahmen“. Soweit diese nicht ausreichten, habe eine Gemeinde sich Einnahmen (soweit vertretbar und geboten) aus „besonderen Entgelten“ für die von ihr erbrachten Leistungen (Abs. 2 Satz 1), zu denen u. a. Straßenausbaubeiträge zählten, und „im Übrigen“ – also nachrangig – aus Steuern (Abs. 2 Nr. 2) zu beschaffen. Kredite dürfe die Gemeinde nur aufnehmen, wenn eine andere Finanzierung nicht möglich oder wirtschaftlich unzweckmäßig wäre (Abs. 3). Bei dieser gesetzlich festgelegten Rangfolge der Deckungsmittel handele es sich nicht bloß um einen Programmsatz, sondern um zwingendes Recht, dessen Einhaltung von der Rechtsaufsichtsbehörde nach Art. 109 Abs. 1 GO zu überwachen sei.


Vor diesem Hintergrund verbleibe nur ein sehr eng begrenzter Bereich für die Annahme atypischer Umstände, aufgrund derer ausnahmsweise auf eine Straßenausbaubeitragssatzung verzichtet werden könne. Ihr Vorliegen sei jedenfalls grundsätzlich zu verneinen, wenn eine Gemeinde zur Erfüllung ihrer Aufgaben – im Verhältnis zur Straßenausbaubeiträgen – nachrangige Einnahmequellen einsetze, also Steuern einnehme oder gar Kredite aufnehme. Eine „defizitäre“ Beitragserhebung könne allenfalls im Einzelfall den Verzicht auf die Abrechnung einer bestimmten, wenig kostenintensiven Baumaßnahme bei besonders hohem Verwaltungsaufwand, nicht aber das vollständige Verschließen der Einnahmequelle „Beiträge“ durch das Absehen von einer Beitragssatzung rechtfertigen.

Gemessen an diesem Maßstab könne sich die Klägerin nicht auf besondere – atypische – Umstände berufen; ihre Haushaltssituation lasse unter Berücksichtigung der gesetzlich vorgegebenen Einnahmebeschaffungsgrundsätze keine solchen Umstände erkennen.

Der BayVGH fasst seine Rechtsprechung eindrucksvoll zusammen…

Dem vorgestellten Urteil ist im Ergebnis uneingeschränkt zuzustimmen. Unklar bleibt jedoch, ob die in Art. 62 Abs. 2 und 3 GO verbindlich vorgegebene Rangfolge der gemeindlichen Einnahmen – was sich aufdrängen dürfte – eine eigenständige, mit Blick auf Ortsstraßen und beschränkt-öffentliche Wege neben Art. 5 Abs. 1 Satz 3 KAG tretende Grundlage für eine Beitragserhebungspflicht schafft, oder ob die Einnahmebeschaffungsgrundsätze – wozu möglicherweise das Gericht neigt – lediglich im Zusammenhang mit dem Merkmal „(besondere) atypische Umstände“ zu sehen sind, deren Vorliegen eine Ausnahme von der durch Art. 5 Abs. 1 Satz 3 KAG angeordneten Beitragserhebungspflicht rechtfertigt.

Mit diesem Vorbehalt ist dem BayVGH auch in der Gedankenführung und weitgehend selbst in seinen Formulierungen zu folgen. Beizupflichten ist ihm vor allem in der Auffassung, dass einzig das Vorliegen besonderer – atypischer – Umstände einen Verzicht auf den Erlass einer Straßenbaubeitragssatzung bzw. deren Aufhebung und dadurch die Verlagerung der Finanzierung beitragsfähiger Straßenbaumaßnahmen von den Begünstigten vollständig auf die Allgemeinheit erlaubt, ferner in der Herleitung des Maßstabs für die Beurteilung des Vorliegens solcher Umstände aus den Einnahmebeschaffungsgrundsätzen sowie überdies in der Ansicht, dass die diesbezügliche Einschätzung einer Gemeinde in vollem Umfang einer rechtsaufsichtlichen und gerichtlichen Überprüfung unterliegt. In der überzeugenden Herausarbeitung und Begründung dieser drei Punkte liegt die besondere Bedeutung der Entscheidung des BayVGH. Denn im Übrigen sind seine Ausführungen – ohne dass er dies im Einzelnen zu erkennen gibt – weitgehend eine Bestätigung seiner bisherigen Rechtsprechung:

Gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 3 KAG sind die Gemeinden für Ortsstraßen und beschränkt-öffentliche Wege „grundsätzlich zur Beitragserhebung verpflichtet“ (u. a. Urt. v. 15. 10. 2009 – 6 B 08.1431); aus dieser Verpflichtung folgt (in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 Satz 1 KAG) die Pflicht zum Erlass einer Straßenausbaubeitragssatzung (so schon Beschl. v. 09. 07. 1986 – 6 N 86.01521 – BayVBl 1987,49); bei den in Art. 62 Abs. 2 und 3 GO enthaltenen Einnahmebeschaffungsgrundsätzen handelt es sich um zwingendes Recht und nicht nur um einen Programmsatz (Beschl. v. 01. 02. 2007 – 4 ZB 06.2567). Wie auch immer: Es ist verdienstvoll, dass der BayVGH seine bisherige Rechtsprechung in seinem Urteil vom 9. November 2016 eindrucksvoll zusammengefasst und fortentwickelt hat.

… lässt aber einige Fragen offen

Gleichwohl bleiben nach diesem Urteil zumindest drei Fragen offen, die der BayVGH – weil in dem von ihm zu beurteilenden Fall nicht entscheidungserheblich – nicht bzw. nicht umfassend behandelt hat: War die Rechtsaufsichtsbehörde – erstens – nicht nur zum Einschreiten berechtigt, sondern sogar verpflichtet? Beschränkt sich eine Beitragserhebungspflicht – zweitens – auf Ortsstraßen und beschränkt-öffentliche Wege (Art. 5 Abs. 1 Satz 3 KAG) oder besteht eine Beitragserhebungspflicht auch für sonstige gemeindliche öffentliche Straßen (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 KAG) wie z. B. Außenbereichsstraßen? Welche Umstände rechtfertigen – drittens – überhaupt die Annahme, sie könnten als besonders und deshalb atypisch qualifiziert werden? Da eine eingehende Behandlung dieser drei Fragen den vorgegebenen Rahmen sprengen würde, ist eine Beschränkung auf eine kurze Skizzierung geboten.

Pflicht zur rechtsaufsichtlichen Beanstandung

Gemäß Art. 109 Abs. 1 GO erstreckt sich die Rechtsaufsicht auf die Überwachung u. a. des gemeindlichen Handelns. Zwar steht ein rechtsaufsichtliches Einschreiten grundsätzlich im Ermessen der Rechtsaufsichtsbehörden. Doch kann sich dieses Ermessen im Einzelfall auf Null reduzieren und dann eine Verpflichtung zum Einschreiten begründen. Eine solche Ermessensreduzierung dürfte u. a. anzunehmen sein, wenn ein für die Rechtsaufsichtsbehörde eindeutig erkennbarer Rechtsverstoß vorliegt (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 15. 08. 2007 – 10 LA 271/05 – NST-N 2008,39). Denn eine Rechtsaufsichtsbehörde hat sicherzustellen, dass die Gemeinden die geltenden Gesetze beachten (Art. 20 Abs. 3 GG). Dieses Verfassungsgebot erfordert bei eindeutigen Rechtsverstößen ein rechtsaufsichtliches Einschreiten (vgl. Driehaus in Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 17a m.w.N.). Die insoweit beachtliche Eindeutigkeit eines Rechtsverstoßes bei einem Verzicht auf den Erlass einer Straßenbaubeitragssatzung für Ortsstraßen und beschränkt-öffentliche Wege oder bei der Aufhebung einer solchen Satzung dürfte spätestens nach dem Urteil des BayVGH vom 9. November 2016 ohne Weiteres gegeben sein.

Beitragserhebungspflicht für sonstige gemeindliche öffentliche Straßen

Zwar stellt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 KAG eine Beitragserhebung für nicht von Art. 5 Abs. 1 Satz 3 KAG erfasste gemeindliche öffentliche Straßen nach seinem Wortlaut („können“) in das Ermessen der Gemeinde. Doch dürfte sich diese Befugnis zur Erhebung von Straßenbaubeiträgen unter dem Eindruck der zwingenden Einnahmebeschaffungsgrundsätze des Art. 62 Abs. 2 und 3 GO zu einer grundsätzlichen Beitragserhebungspflicht verdichten. Denn auch für die Ausbaukosten beispielsweise von Außenbereichsstraßen gilt die gesetzlich festgelegte Rangfolge der Deckungsmittel mit der Folge, dass die Gemeinden grundsätzlich Beiträge erheben müssen, bevor sie sich die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Einnahmen aus Steuern beschaffen (Art 62 Abs. 2 Satz 2 GO) oder gar Kredite (Art. 62 Abs. 3 GO) aufnehmen dürfen. Die Einnahmebeschaffungsgrundsätze dürften mithin – wie bereits oben angedeutet – eine eigenständige Grundlage für die Begründung einer grundsätzlichen Verpflichtung zur Erhebung von Straßenbaubeiträgen darstellen (vgl. in diesem Zusammenhang u. a. Manssen, BayVBl 2008,613, und Bulla, BayVBl 2014,225), von der ebenfalls nur bei Vorliegen atypischer Umstände eine Ausnahme gerechtfertigt ist.

Die atypischen Umstände

Zur dritten, vom BayVGH schon weitgehend beantworteten Frage schließlich ist zu bemerken: Zutreffend hat der BayVGH den Kreis der Umstände, die als besondere – atypische – qualifiziert werden können, unter Inanspruchnahme des Art. 62 Abs. 2 und 3 GO ganz stark eingeschränkt. Für die Annahme einer atypischen Situation genügt mit dem BayVGH nicht, dass die Gemeinde „haushaltsmäßig“ mehr oder weniger gut dasteht und sich den Beitragsausfall „leisten“ kann. Ferner können atypische Umstände sowohl mit Blick auf eine aus Art. 5 Abs. 1 Satz 3 KAG als auch mit Blick auf eine aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 KAG in Verbindung mit Art. 62 Abs. 2 und 3 GO hergeleitete Beitragserhebungspflicht nicht in einem relativ geringen Beitragsaufkommen bei relativ hohem Verwaltungsaufwand, in sozialen oder vertrauensschutzrechtlichen Gründen gesehen werden, sie können überdies nicht in der Größe oder dem Status einer Gemeinde als kreisfreie Stadt, als Bezirk- oder Landeshauptstadt, sondern ausschließlich in der konkreten Haushaltsituation der jeweiligen Gemeinde liegen. Unter Beachtung der Einnahmebeschaffungsgrundsätze kann eine atypische Situation lediglich angenommen werden, sofern eine Gemeinde – wie es der BayVGH erfreulich deutlich formuliert – „die in Art. 62 Abs. 2 festgelegte Rangfolge der Deckungsmittel einhält und trotz des Beitragsverzichts sowohl die stetige Aufgabenerfüllung gesichert (Art. 61 Abs. 1 Satz 1 GO) als auch die dauernde Leistungsfähigkeit sichergestellt ist (Art. 61 Abs. 1 Satz 2 GO)“. Ein rechtmäßiges Absehen von einer Beitragssatzung und dadurch eine vollständige Abwälzung des Aufwands für beitragsfähige Straßenbaumaßnahmen auf die Allgemeinheit kann angesichts dessen einzig bei Gemeinden in Betracht kommen, die in ihren Haushalt ausschließlich oder jedenfalls nahezu ausschließlich primäre, den Straßenbaubeiträgen vorrangige Deckungsmittel einsetzen, also „sonstige Einnahmen“ im Sinne des Art. 62 Abs. 2 GO, zu denen insbesondere die Gemeindeanteile an der Einkommen- und Umsatzsteuer, die allgemeinen Finanzzuweisungen sowie staatliche Zuwendungen für bestimmte Maßnahmen und die Erträge aus dem Gemeindevermögen zählen. Ob es derartige Gemeinden tatsächlich gibt, dürfte eher zweifelhaft sein, auf jeden Fall dürfte ihre Anzahl sehr überschaubar sein.

Prof. Dr. Hans-Joachim Driehaus

Prof. Dr. Hans-Joachim Driehaus

Rechtsanwalt und Wirtschaftsmediator, vormals Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht, Berlin
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