15.12.2016

Wanderungsanreize im Recht

Zu den legislativen und administrativen Hintergründen der Asylkrise

Wanderungsanreize im Recht

Zu den legislativen und administrativen Hintergründen der Asylkrise

Wanderungsanreize werden verstärkt, wenn Aufenthalt de facto auch bei abgelehntem Asylanspruch gewährt wird. | © Jonathan Stutz - Fotolia
Wanderungsanreize werden verstärkt, wenn Aufenthalt de facto auch bei abgelehntem Asylanspruch gewährt wird. | © Jonathan Stutz - Fotolia

Nach der visumlosen Einreise von etwa 1 Million asylsuchenden Personen im Jahre 2015 wendet sich die öffentliche Diskussion derzeit (wieder) verstärkt den rechtlichen und verwaltungspraktischen Problemen und Schwierigkeiten bei der Abschiebung solcher Asylbewerber zu, die kein asylverfahrensunabhängiges Aufenthaltsrecht erlangen können. Weitgehend aus dem Blick gerät nach wie vor das Leitprinzip des Asyl- und Aufenthaltsrechts, Wanderungsanreize von vornherein auszuschließen bzw. zu minimieren. Offen bleibt weiterhin, wie eine sachgerechte Zuzugskontrolle – bei prognostiziert wiederum ca. 300.000 bis 500.000 Asylbewerbern im Jahr 2016 – bewerkstelligt werden soll.

Die Vermeidung bzw. Minimierung von Wanderungsanreizen als hervorgehobenes Regelungsziel des Asylkompromisses 1993

Visumgestützte Zuzugsrechte nach Deutschland im Wege der Arbeitsmigration werden nur beruflich qualifizierten Personen eingeräumt. Alle diejenigen, welche die Voraussetzungen für eine legale Arbeitsmigration nach Deutschland nicht erfüllen, waren und sind darauf angewiesen, den Versuch zu unternehmen, mit der Berufung auf eine (angebliche) humanitäre (vorübergehende) Aufenthaltsgestattung in das deutsche Staatsgebiet zu gelangen.

Im Jahr 1992 war insoweit ein Höhepunkt erreicht, als fast 440.000 Personen unter Berufung auf das Asylrecht nach Deutschland einreisten. Daraufhin wurden Art. 16a GG und die entsprechenden Ausführungsbestimmungen im seinerzeitigen AsylVfG (AsylG) geschaffen; später kamen auf EU-Ebene u. a. die sog. Dublin-Verordnungen hinzu. Kern dieser Regelungen ist, dass, soweit ein Asylbewerber aus einem sicheren Drittstaat einreist, er in Deutschland keinen Asylschutz erlangen kann. Da Deutschland nur von sicheren Drittstaaten umgeben ist, konnte es zu einer Asylgewährung in Deutschland im Regelfall nicht mehr kommen. Der Bundesgesetzgeber hatte Vorkehrungen getroffen bzw. beibehalten, die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach visumloser Einreise und Ablehnung des Asylgesuchs möglichst auszuschließen bzw. zu minimieren.


Erfahrungsgemäß können Regelungen, wonach legale und dauerhafte Aufenthaltsrechte trotz visumloser Einreise und Nichtgewährung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nachträglich, im Zielland, erworben werden können, massive Wanderungsanreize auslösen. Um dem Ziel der Minimierung von Wanderungsanreizen gerecht zu werden, hielt der Bundesgesetzgeber bis zum Zuwanderungsgesetz 2004 an dem Regel-Ausnahme-Schema fest, dass es nach bestands- bzw. rechtskräftiger Asylablehnung nicht mehr zur Erteilung eines asylunabhängigen Aufenthaltsrechts kommen darf; nach Asylablehnung sind die betroffenen Ausländer vielmehr vollziehbar ausreisepflichtig und müssen abgeschoben werden, wenn sie nicht freiwillig ausreisen. Als Folge des Asylkompromisses 1993 sanken die Asylbewerberzahlen in den 2000er-Jahren bis auf – bundesweit – nicht einmal 20.000 Erstasylanträge im Jahre 2007.

Wanderungsanreize im materiellen Recht

Anfangs der 2000er-Jahre machten sich auf politischer Ebene freilich gegenläufige Tendenzen bemerkbar, mit einer administrativen und legislativen Abkehr von dem grundsätzlichen Politikziel der Vermeidung bzw. Minimierung von Wanderungsanreizen. Einen besonders wirkungsmächtigen Schritt auf dem Weg zur Setzung dezidierter normativer Wanderungsanreize wird man in der materiellen „Hochzonung” von bisherigen Duldungstatbeständen als sog. subsidiäre Schutzrechte bzw. nationale Abschiebungsverbote auf die Rechtsebene der Aufenthaltserlaubnis (§ 25 AufenthG) zu sehen haben (teils bereits im Zuwanderungsgesetz 2004 verfügt, teils später in das AufenthG und AsylG eingefügt als Umsetzung von EU-Richtlinien).

Mit den Regelungen in § 25 Abs. 2, 3 und 5 AufenthG hat der Gesetzgeber weitgehende Verpflichtungen bzw. Möglichkeiten geschaffen, Ausländern mit vorübergehender Schutzgewährung in Deutschland bzw. sogar ausreisepflichtigen Ausländern (§ 25 Abs. 5 AufenthG) eine Aufenthaltserlaubnis zu verleihen. Aus diesen befristeten Aufenthaltsrechten kann bei genügend langem Aufenthalt eine Niederlassungserlaubnis folgen, vgl. § 26 AufenthG. Nach § 26 Abs. 4 AufenthG kommt die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis an subsidiär Schutzberechtigte, nur durch Abschiebeverbote Geschützte und bestimmte Geduldete in Betracht, soweit diese Personen bereits seit sieben Jahren eine Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 22 bis 25 AufenthG besitzen, und die Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 bis 9 AufenthG erfüllt sind. Mit den neuen, hinter den Kulissen des Gesetzgebungsverfahrens umstrittenen §§ 25a, 25b AufenthG hat der Gesetzgeber ferner für neue Gruppen von Geduldeten die Aussicht geschaffen, trotz negativen Ausgangs des Asylverfahrens zu einem asylverfahrensunabhängigen Aufenthaltsrecht zu gelangen (etwa bei sog. „nachhaltiger Integration”, freilich ggfls. auch im Sozialhilfebezug). Daneben wurden (noch im Sommer 2015) die Hürden für den legalen Nachzug von Familienangehörigen zu subsidiär Schutzberechtigten abgesenkt. Der frühere Grundsatz (mit sehr wenigen Ausnahmen), dass aus einem abgelehnten Asylantrag kein asylverfahrensunabhängiges Aufenthaltsrecht folgen darf (§ 5 Abs. 2 AufenthG), dürfte durch diese und viele weitere Rechtsänderungen und Vergünstigungen faktisch in das Gegenteil verkehrt worden sein.

Der Verzicht auf Grenzkontrollen zur Durchsetzung des Konzepts der sicheren Drittstaaten nach Art. 16a Abs. 2 GG, § 18 AsylG und Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO

Ob Deutschland rechtlich in der Lage ist, durch strikte Grenzkontrollen und ggfls. die Anwendung unmittelbaren Zwangs seitens der Bundespolizei dafür zu sorgen, dass potenzielle Asylantragsteller in dem sicheren Drittland ihres Aufenthalts zu verbleiben haben, ist umstritten. Nicht nur der Wortlaut des Art. 16a Abs. 2 GG in der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts und des § 18 AsylG sowie systematische Erwägungen sprechen dafür. Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-VO als Rechtsgrundlage für die Einreiseverweigerung auch hinsichtlich des sog. internationalen Schutzanspruchs ist nicht nur die europarechtlich insoweit einschlägige Vorschrift, die bei Antragstellung an der Grenze eine nicht im Ermessen der deutschen Behörden stehende Verweisung an den Aufenthaltsmitgliedstaat und die Einreiseverweigerung durch deutsche Grenzorgane vorsieht. Die Vorschrift ist vielmehr Ausdruck der verfassungsrechtlichen Vorschrift in Art. 16a Abs. 2 GG, welche von der Bundesregierung auch auf Ebene der europarechtlichen Normgebung durchzusetzen war. Im Ergebnis musste und muss allen Schutzsuchenden ohne Visum an der deutschen Grenze (insbesondere jener zu Österreich) die Einreise verweigert werden. Bundeskanzlerin Merkel höchstpersönlich indes hatte am 4. bzw. 5. September 2015 öffentlichkeitswirksam entschieden, dass keine Grenzkontrollen bzw. Zurückweisungen an den deutschen Grenzen zu erfolgen hätten.

Push and Pull – „Völker, hört die Signale!”

Die Botschaft, welche die EU und Deutschland in die (vorwiegend islamisch geprägte) Welt senden, ist unmissverständlich: „Wenn ihr die Schleuserkosten bezahlen könnt und die Lebensgefahren, die mit einer illegalen Einreise über tausende von Kilometern verbunden sein können, zu tragen bereit seid, dann habt ihr auch ohne Visum die besten Aussichten, unkontrolliert nach Deutschland einreisen und dauerhaft in Deutschland bleiben zu können”. Angesichts der vielen Millionen wanderungswilliger und durch Smartphones gut unterrichteter Menschen, die, menschlich verständlich, in ihren Heimatländern auf „gepackten Koffern” sitzen, konnte es nicht verwundern, dass die Asylbewerberzahlen seit 2008 ansteigen. Überraschend und für viele schockierend war freilich der explosive Anstieg der Zugangszahlen ab dem Frühjahr 2015, bis auf ca. 17.000 Personen pro Woche allein in Nordrhein-Westfalen im September/Oktober 2015, und auf ca. 1 Mio. Asylbewerber bundesweit im Jahre 2015. Seit Schließung der sog. Balkanroute durch Österreich und andere Staaten im Februar 2016 sind die Asylbewerberzahlen in NRW zwar auf ca. 1.000 bis 1.600 Personen pro Woche zurückgegangen. Hochgerechnet ergibt dies jedoch für Deutschland und das Jahr 2016 wiederum eine Gesamtzahl von ca. 300.000 bis 500.000 Personen, also so hoch oder sogar höher noch als die Zugangszahl im Jahr 1992, vor dem Asylkompromiss.

Gegenwärtig erkennbare Auswirkungen des Paradigmenwechsels

In den letzten Jahren wurden – und werden – Millionen fremder Personen ins Land gelassen, die den öffentlichen Haushalten Zusatzkosten von vielen Milliarden Euro bescheren werden, von den sicherheits- und integrationspolitischen Folgen gar nicht zu sprechen. Ein Großteil der asylbegehrenden Personen wird zu dauerhaften Aufenthalts- bzw. Niederlassungstiteln in Deutschland gelangen, auch ggfls. im Sozialhilfebezug und bei fehlenden Integrationsleistungen. Von denjenigen Personen, die keine Aufenthaltserlaubnis erhalten, werden die meisten zumindest eine Duldung als zeitweilige (jahrelange) Aussetzung der Vollstreckung erhalten (müssen), weil sie – aus unterschiedlichen Gründen – dauerhaft nicht abgeschoben werden können.

Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, als sei die Ausländerverwaltung – es handelt sich um kommunale Behörden – rechtlich bzw. tatsächlich in der Lage, die durch die Nichtbeachtung des Konzepts der sicheren Drittstaaten nach Art. 16a Abs. 2 GG entstandene Situation im Wege „entschlossener” Abschiebungen substanziell zu korrigieren. Weder wird es gelingen, eine nennenswerte Zahl visumslos eingereister und ausreisepflichtiger Personen abzuschieben, noch wird man derzeit davon ausgehen können, dass Abschiebungen noch (wie früher) ein erwähnenswertes Abschreckungspotenzial in Bezug auf viele Millionen Wanderungswillige entfalten können. Abgesehen davon, dass es Länder bzw. Kommunen geben soll, in denen Abschiebungen „politisch” nicht gewollt sind und in denen daher die Verwaltungsweichen so gestellt werden mögen, dass die zuständigen Ausländerbehörden erst gar nicht in die Nähe der notwendigen Ressourcen zur Durchführung der äußerst arbeitsintensiven Abschiebevorgänge geraten können: Es steht nicht im Belieben der Ausländerbehörden, alle Ausreisepflichtigen kurzfristig und mit wenig Aufwand abzuschieben. Allein durch die notwendige Mitwirkung der ausreisepflichtigen Ausländer und der (häufig angesichts eigener Geburtenüberschüsse nicht rücknahmebereiten) Herkunftsstaaten sind die Handlungsmöglichkeiten der deutschen Behörden sehr überschaubar.

Hinweise der Redaktion: Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Verfassers wieder. Eine ausführliche Abhandlung zu diesem Thema erscheint in Heft 12/2016 der Nordrhein-Westfälischen Verwaltungsblätter auf S. 492.

Ministerialrat Dr. jur. Klaus Schönenbroicher

Dr. Klaus Schönenbroicher

Leitender Ministerialrat, Gruppenleiter im Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen, Honorarprofessor an der Ruhr-Universität Bochum
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