15.11.2011

Wahlrechtsreform von Bestand?

Effekt des negativen Stimmgewichts "theoretisch" weiter denkbar

Wahlrechtsreform von Bestand?

Effekt des negativen Stimmgewichts "theoretisch" weiter denkbar

Negatives Stimmgewicht: Zunehmen und gleichzeitig abnehmen – da darf nicht sein, was nicht sein kann. | © Printemps - Fotolia
Negatives Stimmgewicht: Zunehmen und gleichzeitig abnehmen – da darf nicht sein, was nicht sein kann. | © Printemps - Fotolia

Erstmals zur Bundestagswahl 2013 wird ein neues Bundeswahlgesetz zur Anwendung kommen, dessen wichtigste Änderung darin besteht, dass es keine Listenverbindungen (bisher § 7 BWG) mehr geben wird. Mit dem am 29. 09. 2011 vom Deutschen Bundestag beschlossenen und am 14. 10. 2011 vom Bundesrat abgesegneten Gesetz soll das vom Bundesverfassungsgericht beanstandete negative Stimmgewicht beseitigt werden – ein Effekt, der dazu führen konnte, dass ein Verlust an Zweitstimmen für eine Partei zu einem Zuwachs an Sitzen führt oder umgekehrt. Mit Urteil vom 03. 07. 2008 (BVerwG, Urt. v. 03. 07. 2008 – 2 BvC 1/07, 2 BvC 7/07) hatten die Karlsruher Richter Teile des Bundeswahlgesetzes für verfassungswidrig erklärt und den Gesetzgeber verpflichtet, dies bis spätestens 30. 06. 2011 zu beheben. Die Frist wurde um mehrere Monate überschritten; zudem meinen die Oppositionsparteien, dass die Aufgabe, ein verfassungskonformes Wahlrecht zu schaffen, inhaltlich nicht erfüllt wurde.

Tod einer Direktkandidatin 2005 als Auslöser

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betrifft die Bundestagswahl vom 18. 09. 2005, bei der nur in 298 von 299 Wahlkreisen gewählt wurde; ausgeklammert blieb der Wahlkreis Dresden, weil hier die Direktkandidatin der NPD plötzlich verstorben war und es organisatorisch nicht mehr möglich war, die Wahl hier am Tag der Hauptwahl durchzuführen. Stattdessen fand im Wahlkreis Dresden am 02. 10. 2005 eine Nachwahl statt. Das erste vorläufige amtliche Ergebnis der Hauptwahl wurde am 19. 09. 2005 verkündet. Die Zweitstimmenanteile für die einzelnen Parteien und die jeweiligen Mandatszahlen der Landeslisten, einschließlich der Überhangmandate, wurden somit zunächst ohne die Ergebnisse des Wahlbezirks Dresden errechnet. So konnten Berechnungen dazu angestellt werden, welches Zweitstimmenergebnis in Dresden zum Gewinn oder Verlust eines Überhangmandats oder zu Mandatsverschiebungen führen würde, die den Effekt des negativen Stimmgewichts mit sich bringen. Dieser bewirkt paradoxerweise, dass der Gewinn von Zweitstimmen einer Partei zu einem Mandatsverlust bei genau dieser Partei führen kann oder umgekehrt.

Entstehung eines negativen Stimmgewichts

Das Auftreten von negativem Stimmgewicht ist möglich aufgrund der spezifischen Regelungen im bisherigen Bundeswahlgesetz, nach denen die Verteilung der Listenmandate in einem zweistufigen Verfahren zunächst auf die Parteien (Oberverteilung, § 6 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 7 Abs. 2 BWG a. F.) und dann auf die verbundenen Landeslisten derselben Partei (Unterverteilung, § 6 Abs. 2 i.V.m. § 7 Abs. 3 BWG a. F.) erfolgt. Ein negatives Stimmgewicht kann – unter der Voraussetzung der Entstehung von Überhangmandaten – nur im Rahmen der Unterverteilung auftreten; denn nur hier können zusätzliche Stimmen einer Partei in einem Land dazu führen, dass dieser in einem anderen Land weniger Listenmandate zugeteilt werden: Eine niedrigere Anzahl an Zweitstimmen kann bei der Unterverteilung dazu führen, dass eine andere Landesliste vorrangig zum Zuge kommt. Büßt die Partei in dem Land, in dem sie ein auf die Landesliste nicht anrechenbares Direktmandat (Überhangmandat) gewonnen hat, ein Listenmandat in der Unterverteilung ein, so erleidet sie dadurch keinen Nachteil, weil ihre Liste ohnehin nicht zum Zuge kommt und sie die ihr zustehenden Wahlkreismandate nicht verlieren kann. Eine andere Landesliste derselben Partei erhält hingegen einen Sitz mehr. Damit gewinnt die betroffene Partei bundesweit durch den geringeren Stimmenanteil einen Sitz hinzu. Auch umgekehrt ist dieser Effekt denkbar.


Das Wahlergebnis in Dresden ließ darauf schließen, dass die Wähler der CDU ein dementsprechend taktisches Wahlverhalten zeigten: Die CDU gewann das Direktmandat in Dresden, hatte hier jedoch ein ungewöhnlich niedriges Zweitstimmenergebnis. Die CDU hat damit insgesamt ein Überhangmandat mehr in Sachsen gewonnen, ohne (bundesweit, d. h. in der Listenverbindung) ein Listenmandat zu verlieren.

Verstoß gegen Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl

Ein Wahlsystem, das es zulässt, dass ein Zuwachs an Stimmen zu Mandatsverlusten führt oder umgekehrt, führt zu willkürlichen Ergebnissen. Es widerspricht Sinn und Zweck einer demokratischen Wahl, wenn ein Berechnungsverfahren dazu führt, dass eine Wählerstimme für eine Partei eine Wirkung gegen diese Partei hat. Das Bundesverfassungsgericht hat daher § 7 Abs. 3 Satz 2 BWG i. V. m. § 6 Abs. 4 und 5 BWG in der bisherigen Fassung für verfassungswidrig erklärt, soweit hierdurch ermöglicht wird, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten führen kann bzw. umgekehrt.

Das Bundesverfassungsgericht sieht den Wahlgrundsatz der Stimmengleichheit in eklatanter Weise beeinträchtigt, da der Effekt des negativen Stimmgewichts nicht nur dazu führt, dass Wählerstimmen bei der Zuteilung der Mandate unterschiedlich gewichtet werden, sondern außerdem bewirkt, dass der Wählerwille in sein Gegenteil verkehrt wird, indem sich eine Stimmabgabe zu Lasten der gewählten Partei auswirkt. Ebenfalls beeinträchtigt sieht das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, da der Wähler nicht erkennen kann, ob sich seine Stimme stets für die zu wählende Partei positiv auswirkt, oder ob er durch seine Stimme den Misserfolg eines Kandidaten seiner eigenen Partei verursacht.

Die Reaktion des Gesetzgebers

Das Problem des negativen Stimmgewichts will das neue Bundeswahlgesetz lösen, indem unter Beibehaltung des Wahlsystems der personalisierten Verhältniswahl die Möglichkeit der Verbindung von Landeslisten (bisheriger § 7 BWG) abgeschafft wird, ergänzt um eine Sitzverteilung aus Sitzkontingenten der Länder nach Wählerzahl (neuer § 6 Abs. 1 Satz 1 BWG).

Der Gesetzgeber geht davon aus, dass mit der Abschaffung des § 7 BWG – also mit dem Verzicht auf Listenverbindungen – die Häufigkeit des negativen Stimmgewichts „erheblich reduziert“ wird: Ohne die Möglichkeit der Listenverbindung nach § 7 BWG konkurrieren nämlich die Landeslisten aller Parteien um die Verteilung der Sitze nach § 6 Abs. 2 BWG und nicht nur die Listen derselben Partei im Rahmen der Unterverteilung nach § 7 Abs. 3 BWG. Damit wird sich ein Zuwachs (oder Verlust) an Zweitstimmen bei einer Partei bei der Sitzverteilung nun nicht mehr notwendig immer auf eine andere Landesliste derselben Partei auswirken.

Allerdings hat der Gesetzgeber erkannt, dass es trotz Abschaffung der Listenverbindung weiterhin auch möglich ist, dass ein durch einen Verlust an Zweitstimmen einer Landesliste verlorener Sitz nach dem in § 6 Abs. 2 BWG geregelten Verfahren auf eine andere Landesliste derselben Partei entfällt – dies deshalb, weil ohne Listenverbindungen alle Landeslisten aller Parteien bei der Sitzverteilung miteinander konkurrieren. Solche Fälle negativen Stimmgewichts sind zwar wesentlich seltener, wenn ein verlorenes Listenmandat auch den Landeslisten aller anderen Parteien zugute kommen kann. Solange auch Landeslisten derselben Partei um Sitze konkurrieren, ist es aber nicht ausgeschlossen, dass Zweitstimmenverluste einer Partei im Ergebnis zu einem Sitzgewinn dieser Partei (bzw. umgekehrt), also zu negativem Stimmgewicht führen. Um dies auszuschließen, muss darum die Konkurrenz von Landeslisten derselben Partei ausgeschlossen werden. Dies soll erreicht werden, indem Sitzkontingente der Länder nach Wahlbeteiligung eingeführt werden.

In der amtlichen Begründung wird eingeräumt, dass bei dem nunmehr geschaffenen Wahlsystem der personalisierten Verhältniswahl ohne Listenverbindungen mit Sitzkontingenten nach Wahlbeteiligung der Effekt des negativen Stimmgewichts theoretisch weiter auftreten kann, dies aber nur, wenn kumulativ eine Vielzahl von Bedingungen zufällig eintritt. Eine solche unwahrscheinliche Verkettung kumulativer Bedingungen hält der Gesetzgeber für eine abstrakt konstruierte Fallgestaltung und nicht an der politischen Wirklichkeit orientiert. Da der Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seine Einschätzung und Bewertung aber gerade nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit orientieren muss, hält er den Effekt des negativen Stimmgewichts bei einer an der politischen Wirklichkeit orientierten Betrachtung für „komplett beseitigt.“

Ob das Bundesverfassungsgericht dies genauso sieht, wird sich zeigen. Die Oppositionsparteien haben jedenfalls bereits den Gang nach Karlsruhe angekündigt.

 

Dr. Alfred Scheidler

Regierungsdirektor, Stv. Landrat des Landkreises Tirschenreuth, Landratsamt Neustadt an der Waldnaab
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