15.11.2011

Seveso II und die Angst vor der Abwägung

Steht das Bauplanungsrecht vor einer Strukturrevolution?

Seveso II und die Angst vor der Abwägung

Steht das Bauplanungsrecht vor einer Strukturrevolution?

Zwischen Störfallbetrieben und öffentlich genutzten Gebäuden muss ausreichender Sicherheitsabstand sein. | © Andre Bonn - Fotolia
Zwischen Störfallbetrieben und öffentlich genutzten Gebäuden muss ausreichender Sicherheitsabstand sein. | © Andre Bonn - Fotolia

Von Henning Jäde

Mit Beschluss vom 03. 12. 2009 hatte das BVerwG (BVerwG, Beschl. v. 03. 12. 2009 – 4 C 5.09) dem EuGH die Frage vorgelegt, ob Art. 12 Abs. 1 der Seveso II-Richtlinie sich nicht nur an Planungsträger, sondern ggf. auch an rechtlich gebundene Entscheidungen treffende Genehmigungs-behörden richte. Diese Frage hat der EuGH in seinem Urteil (EuGH, Urt. v. 15. 09. 2011 – C-53/10) bejaht (Rn. 18 ff.). Zu den weiteren Vorlagefragen hat er geantwortet, dass die in Art. 12 Abs. 1 vorgesehene Verpflichtung, langfristig dem Erfordernis der Wahrung angemessener Abstände Rechnung zu tragen, den zuständigen nationalen Behörden nicht vorschreibe, die Ansiedlung eines öffentlich genutzten Gebäudes auch dann zu verbieten, wenn es durch das streitige Bauvorhaben zu keiner Verschlechterung der Situation kommt. Dagegen stehe diese Verpflichtung nationalen Rechtsvorschriften entgegen, nach denen eine Genehmigung für die Ansiedlung eines solchen Gebäudes zwingend zu erteilen ist, ohne dass die Risiken der Ansiedlung innerhalb der genannten Abstandsgrenzen im Stadium der Planung oder der individuellen Entscheidung gebührend gewürdigt worden wären (zusammenfassend Rn. 53).

Prozeduraler statt materialer Ansatz

Der Lösungsansatz des EuGH ist prozedural, nicht material: Die „Berücksichtigung“ der angemessenen Abstände verlange, dass diese bei der Risikobewertung neben anderen Faktoren auch tatsächlich berücksichtigt würden, mangels einer Planung insbesondere bei der Entscheidung über Baugenehmigungen (Rn. 50). Damit zielt der EuGH der Sache nach auf einen prinzipiell ergebnisoffenen Abwägungsvorgang. Das unterstreicht der Hinweis darauf, dass Art. 12 Abs. 1 Satz 3 nur verlange, dass dem Gebot der Abstandswahrung Rechnung getragen werde (Rn. 41). Der allein sub specie dieses Gebots wünschenswerte Abstand muss in Beziehung zu den Umständen der Gefahrsituation und ihrer möglichen Bewältigung im konkreten Einzelfall gesetzt werden. Zudem „kommt die Berücksichtigung sozioökonomischer“ Faktoren in Betracht (Rn. 44). Unter diesen Umständen ermögliche es allein die Zuerkennung eines Wertungsspielraums, die volle praktische Wirksamkeit des Erfordernisses des Gebots der Wahrung angemessener Abstände sicherzustellen (Rn. 45).


Umsetzung in das Bauplanungsrecht

Der EuGH fordert eine seinen Vorgaben entsprechende Auslegung des – für sich genommen unbeanstandet bleibenden – nationalen Rechts. Diese Auslegung hat nunmehr das BVerwG in dem bei ihm anhängigen Ausgangsverfahren vorzunehmen. Der Ruf nach dem (Bundes-)Gesetzgeber ist vor diesem Hintergrund mindestens verfrüht. Von vornherein nicht gefordert sind die Länder als Bauordnungsgesetzgeber: Die bauaufsichtlichen Prüfprogramme decken unabhängig von der Einordnung der jeweiligen Bauvorhaben stets die Prüfung der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeitstatbestände der §§ 29 bis 38 BauGB ab; bei möglicherweise im Einzelfall betroffenen Bauvorhaben in beplanten Bereichen fehlt es an der für die Genehmigungsfreistellung erforderlichen Plankonformität.

Auf den ersten Blick lassen sich die Maßstäbe des Art. 12 Abs. 1 ohne Weiteres in das geltende Bauplanungsrecht integrieren. Sie können im nicht überplanten Innenbereich dem Einfügungsgebot des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB in der Weise zugeordnet werden, dass sie europarechtlich den Grad der „harmonischen“ Spannung konkretisieren, der zwischen vorhandenem Betrieb und Neuansiedlung bestehen darf. Des Rückgriffs auf die nahe der sicherheitsrechtlichen Gefahrenschwelle verorteten (vgl. zuletzt BVerwG, Urt. v. 06. 06. 2002 – 4 CN 4.01) und deshalb vorliegend als Maßstab nicht unproblematischen gesunden Wohn- und Arbeitsverhältnisse des § 34 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 BauGB bedarf es daher nicht. Im bauplanungsrechtlichen Außenbereich bietet sich als Scharnier § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB an, jedenfalls aber ein ungeschriebener öffentlicher Belang im Rahmen des § 35 Abs. 3 Satz 1 BauGB. Im beplanten Bereich (§ 30 BauGB) lassen sich Lösungen über § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO finden.

Strukturproblem Abwägung

Auf den zweiten Blick zeigt sich freilich, dass der prozedurale, ins nationale Recht transformiert auf das Abwägungsgebot des § 1 Abs. 7 BauGB zielende Ansatz des EuGH in den bauplanungsrechtlichen Zulässigkeitstatbeständen nicht ohne Weiteres „aufgeht“. In ihrem Rahmen soll herkömmlich nur eine nachvollziehende Abwägung möglich sein (vgl. schon BVerwG, Urt. v. 16. 02. 1973 – IV“C 63.70). Die Berücksichtigung sozioökonomischer Faktoren in einem solchen statischen Gefüge unbestimmter Rechtsbegriffe mit verwaltungsgerichtlicher Vollkontrolle wäre eine wirklichkeitsfremde Fiktion. Zwar ist inzwischen außer Streit, dass § 38 Satz 1 BauGB der rechtlich gebundenen immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsentscheidung (§ 6 Abs. 1 BImSchG) ein Moment aktiver städtebaulicher Abwägung hinzugefügt hat (ThürOVG, Beschl. v. 22. 02. 2006 – 1 EO 707/05; NdsOVG, Urt. v. 22. 01. 2009 – 12 KS 288/07). Auch hat das BVerwG in seiner Terrorismusgefahr-Entscheidung (BVerwG, Urt. v. 25. 01. 2007 – 4 C 1.06) § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB prognostische Elemente implantiert. Dem Umstand, dass die gestaltende Abwägung der gemeindlichen Planungshoheit zugeordnet ist, ließe sich im Rahmen des gemeindlichen Einvernehmens (§ 36 Abs. 1 BauGB) dadurch Rechnung tragen, dass die zur gemeindlichen hinzutretende bauaufsichtliche Entscheidung auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt würde. Im beplanten Bereich indessen böte § 15 Abs. 1 BauNVO kein adäquates Instrument (vgl. BVerwG, Beschl. v. 29. 07. 1991 – 4 B 40.91), sodass unmittelbar auf die Planungspflicht aus § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB zurückgegriffen werden müsste. Gleichwohl dürfte kaum damit zu rechnen sein, dass das BVerwG die EuGH-Entscheidung zum Anlass einer Strukturrevolution nehmen wird. Dafür, dass europäisch in dieser Richtung gedacht wird, sprechen freilich auch die auf eine umfassende Öffentlichkeitsbeteiligung gerichteten Reformvorschläge der Kommission bei allen von Art. 12 Abs. 1 Satz 2 Buchst. c erfassten „neuen Bauprojekten“ (vgl. KOM(2010)781 v. 21. 12. 2010; BT-Drs. 17/5891 v. 24. 05. 2011).

Konservativer und systemkonform wäre demgegenüber, an die Entscheidung zum FOC Zweibrücken (BVerwG, Urt. v. 01. 08. 2002 – 4 C 5.01) anzuknüpfen. Können die bauplanungsrechtlichen Zulässigkeitstatbestände der §§ 34 f. BauGB die durch Art. 12 Abs. 1 ermöglichte und geforderte Abwägung nicht leisten, stößt damit die Problemlösungskompetenz ihrer Konditionalprogramme an Grenzen und löst die Planungspflicht des § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB aus. Den Anforderungen des EuGH an die Ausgestaltung des Verfahrens wäre bei diesem Ansatz freilich nur genügt, wenn die nationalen Abstandsanforderungen auf der Ebene der rechtlich gebundenen Entscheidung so hoch angesetzt würden, dass stets das Berücksichtigungs- in Gestalt des Abstandswahrungsgebots des Art. 12 Abs. 1 erfüllt wäre.

Keine Angst vor der Abwägung

Die Forderung, der Gesetzgeber dürfe nun die Bauaufsichtsbehörden nicht alleinlassen, ist ambivalent. Sie darf nicht dazu führen, dass auf das neue Orientierungsbedürfnis im Genehmigungsverfahren mit einem auf möglichste Perfektion gerichteten Regelwerk reagiert wird, dessen Anwendung unter umfassender verwaltungsgerichtlicher Überprüfung nicht notwendig zu mehr Rechts- und Investitionssicherheit führen muss. In den Abwägungs-, Wertungs- und Entscheidungsspielräumen, die der EuGH dem nationalen Recht eröffnet und zugleich von ihm verlangt, liegen nicht nur Herausforderungen, sondern auch Chancen. Neue Wege sollten daher erst sorgfältig auf ihre Gangbarkeit geprüft werden, statt sie vorschnell zu versperren.

n/a