04.05.2020

Von Mephisto zu Esra bis Strauß

Zur Bedeutung der Kunstfreiheit in der Rechtsprechung des BVerfG

Von Mephisto zu Esra bis Strauß

Zur Bedeutung der Kunstfreiheit in der Rechtsprechung des BVerfG

Das BVerfG in Karlsruhe wacht über die Einhaltung des Grundgesetzes und die Durchsetzung
der Grundrechte.
 | © Klaus Eppele - stock.adobe.com
Das BVerfG in Karlsruhe wacht über die Einhaltung des Grundgesetzes und die Durchsetzung der Grundrechte.  | © Klaus Eppele - stock.adobe.com

Die Kunstfreiheit ist ein sehr hohes Gut und in der Verfassung schrankenlos formuliert. Der Autor gibt einen allgemeinen Überblick über Bedeutung und Auslegung von Art. 5 Abs. 3 GG und wagt einen Ausblick im Hinblick auf die anstehende „Böhmermann-Entscheidung“ des BVerfG.

Grundlage: Art. 5 Abs. 3 GG

Vor 70 Jahren haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes – als Reaktion auf den Kunstdirigismus der Nationalsozialisten – das Recht auf Kunstfreiheit von allen Schranken, die den übrigen Grundrechtsnormen gesetzt sind, befreit. Seither wird der berühmte Art. 5 Abs. 3 GG als „Rocher de Bronze der Freiheitsrechte“ oder als „Konstituens“ einer freiheitsverpflichteten Demokratie gefeiert.

Obwohl Art. 5 Abs. 1 GG die Meinungs- und Pressefreiheit als hohes Grundrecht schützt, setzt Absatz 2 diesen Freiheitsrechten Schranken, die gebildet werden aus den „allgemeinen Gesetzen und den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre“. Mit anderen Worten: Niemand kann sich auf das Recht der Rede-, Meinungs- und Pressefreiheit berufen, wenn er dadurch Gesetze verletzt, Bestimmungen des Jugendschutzes missachtet oder in das Recht der persönlichen Ehre Dritter eingreift.


Alle Grundrechte sind von der Verfassung vorgegebenen Schranken unterworfen, das gilt nur nicht für das Grundrecht in Art. 5 Abs. 3 GG, der postuliert „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung“. Während Absatz 3 selbst die Freiheit der Lehre nicht von der Treue zur Verfassung entbindet, ist die Kunstfreiheit schrankenlos formuliert: „Die Kunst ist frei“ postuliert in einzigartiger Knappheit und Kühnheit unser Grundgesetz.

Der Entscheidung, der Kunstfreiheit diesen in der Verfassung – auch aller anderen Demokratien – einzigarten Rang zuzuordnen, folgte auf dem Fuß die Diskussion, wie man mit so einem schrankenlosen Freiheitsrecht umgehen kann. Denn: Dass im Namen der Kunst nicht zum Verbrechen verleitet, zum staatsfeindlichen Tun aufgefordert, die Menschenwürde verletzt werden darf, war stets einhellige Meinung!

Die systematische Einordnung dieser Erkenntnis von der schrankenlosen Formulierung der Kunstfreiheit – die Juristen sprechen von der „Schrankenlehre“ – war jahrzehntelang umstritten. Vor knapp einem halben Jahrhundert – im Jahre 1971 – war dann das BVerfG aufgerufen, das vom BGH ausgesprochene Verbot des „Mephisto“-Romans von Klaus Mann auf seine Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen.

Die Mephisto-Entscheidung[1]

Zum wohl weitgehend in Vergessenheit geratenem Hintergrund dieses Rechtsstreites.

Der Sachverhalt

Im Zentrum des 1936 (!) erschienenen Romans steht der im Jahre 1963 verstorbene Schauspieler und Intendant Gustaf Gründgens, den Klaus Mann – den Namen seines Protagonisten bis zur Kenntlichkeit in „Hendrik Höfgen“ wandelnd – in vernichtend karikierender Weise zeichnet. Bei Klaus Mann ist Höfgen/Gründgens ein Mann der seine einst (linke) politische Überzeugung verleugnet, sich mit den Nationalsozialisten einlässt, unter deren Schutzmantel eine große künstlerische Karriere bestreitet, zum Preußischen Staatsrat und Generalintendanten des Preußischen Staatstheaters avanciert. Der „Mephisto“ Gründgens des Klaus Mann ist ein charakterloser, intriganter, perverser Karrierist, der über Leichen geht. Der Zorn von Klaus Mann auf Gustaf Gründgens hatte seine Ursache auch darin, dass Gründgens einst in Zürich linkes Kabarett mit der von Klaus Mann geliebten Schwester Erika veranstaltet hat, mit ihr zeitweise verlobt war und seine Ideale für seine Karriere verraten hat.

Der Titel des Romans „Mephisto“ verdankt sich der Tatsache, dass Gustaf Gründgens‘ „Lebensrolle“, die des von Goethe im „Faust“ gestalteten Teufels in Menschengestalt (mit Pferdefuß) Mephisto gewesen ist. Mit dieser Rolle wurde er berühmt: Er hat sie nicht nur ungezählte Male in der Zeit des Nationalsozialismus gespielt, sondern auch nach dem Krieg bis zu seinem Tode immer wieder auf der Bühne verwirklicht, insbesondere in Düsseldorf und zuletzt in Hamburg.

Nachdem die Nymphenburger Verlagsanstalt 1968 das Buch erstmals in Deutschland herausbringen wollte, hat sich der Adoptivsohn (!) des damals längst verstorbenen Gründgens gegen die Veröffentlichung gewehrt und Klage gegen den Verlag erhoben mit der Begründung: der Roman verletze das postmortale Persönlichkeitsrecht des Vorbildes (längst ist heute der Roman in jeder Buchhaltung zu erhalten, wurde mit Klaus Maria Brandauer verfilmt und auf den Bühnen mehrfach adaptiert).

Das OLG Hamburg war zur Entscheidung über den Verbotsantrag berufen: Es hat der Klage des Adoptivsohns stattgegeben und die Veröffentlichung des Romans als eine „Schmähschrift“ bezeichnet, die so gravierend sei, dass das (im Laufe der Jahre schwächer werdende) postmortale Persönlichkeitsrecht von Gustaf Gründgens, insbesondere dessen Ehre, durch die Veröffentlichung verletzt werde. Der BGH hat diese Entscheidung 1968 bestätigt und das BVerfG musste sich 1971 aufgrund der Verfassungsbeschwerde des Verlages erstmals mit Bedeutung und Auslegung des Art. 5 Abs. 3 GG befassen.

Die Entscheidungsgründe

Es hat zunächst klargestellt: Kunstfreiheit ist die Freiheit schöpferischer Gestaltung. Sie deckt den „Werk- und Wirkbereich“ künstlerischer Tätigkeit ab, garantiert also nicht nur das Recht, ein Werk, ohne staatlichen Schranken ausgesetzt zu sein, zu schaffen, sondern es auch (Wirkbereich!) verbreiten zu dürfen. Auch – so das BVerfG – einem Roman, der sich realen Geschehnissen kritisch nähert, dürfen die Bestimmungen des Art. 5 Abs. 2 GG keine Grenzen ziehen. Die Freiheit von den Schranken sei kein (in der Literatur immer wieder behauptetes) Redaktionsversehen, sondern eine bewusste Entscheidung der Verfassung.

Immanente Grundrechtsschranken

Das aufgrund dieser Erkenntnis entstandene Dilemma – Art. 5 Abs. 2 GG ist auf Absatz 3 nicht anwendbar und dennoch kann auch die Kunstfreiheit nicht schrankenlos gewährt werden – löst das BVerfG damit, dass es das Rechtsinstitut der „immanenten Grundrechtsschranken“ installiert: Im Namen der Kunst darf die Menschenwürde nicht verletzt werden, muss die Würde der beschriebenen Personen und damit der Kern des Art. 2 Abs. 1 GG unantastbar bleiben.

Je mehr sich das Urbild (Gründgens) vom Abbild (Höfgen) befreit, je weiter das Eine von dem Anderen entfernt ist, desto ferner ist der Angriff auf die Menschenwürde und umso stärker entfaltet Art. 5 Abs. 3 GG den Schutz der Kunstfreiheit. Art. 5 Abs. 3 GG sind also „immanente Schranken“ eingegraben: Deshalb kann sich niemand auf die Kunstfreiheit berufen, wenn er damit die Würde des Menschen – wie in Art. 1 GG garantiert – verletzt, wenn das Recht der Persönlichkeit, wie es auch in Art. 2 Abs. 1 GG formuliert ist, in seinem Kern getroffen ist.

Die sog. „immanenten Schranken“ sind seit dieser Entscheidung unangefochtene Grenzziehung aller Freiheitsrechte, insbesondere aber der Kunstfreiheit. Bei der Entscheidung, ob der Roman des Klaus Mann die postmortale (!) Würde des verstorbenen Gründgens so sehr beeinträchtigt, dass der Roman verboten werden muss, gab es im zuständigen Senat des BVerfG Stimmengleichheit. Bei Stimmengleichheit wird aber der Verfassungsbeschwerde der Erfolg versagt, weil sich keine Mehrheit für den Erfolg der Verfassungsbeschwerde gefunden hat. Das Buch blieb (jahrelang) verboten.

Diese historische Reminiszenz ist erforderlich, um einerseits die verfassungsrechtliche Bedeutung der Kunstfreiheit zu verstehen und andererseits die Rechtsprechung des BVerfG richtig einordnen zu können. Denn über fast vier Jahrzehnte hat die Rechtsprechung die (wenigen und so gut wie nie höchstrichterlichen) Rechtsstreitigkeiten zur Frage der Kunstfreiheit in Anwendung des Mephisto-Urteils entschieden.

Die Esra-Entscheidung[2]

Erstmals im Jahres 2007 musste sich das BVerfG erneut mit einem Fall der sog. „realistischen Literatur“ auseinandersetzen, nämlich mit dem Roman „ESRA“ von Maxim Biller.

Der Sachverhalt

In diesem Roman schildert der sich Adam nennende Ich-Erzähler sein (gescheitertes) Liebesverhältnis mit Esra (das ist: Eva). Deren Beziehung beschreibt er unter anderem in vielen sehr erotisch–intimen Bereichen, erzählt aber auch mit hoher Kunstfertigkeit die vielen tiefgreifenden Differenzen, Verletzungen und die Gewalt zwischen diesen Beiden.

Eine entscheidende Rolle in diesem Roman spielt neben Esra deren Mutter, die der Autor Lale nennt – eine ziemlich grauenvolle Person, die der Autor letztlich für das Scheitern seiner Liebesbeziehung mit Esra verantwortlich macht. Beide Figuren waren für die kundigen Leser am Ort des Geschehens – im Münchner Schwabing – unschwer identifizierbar. Während Esra Trägerin des Bundesfilmpreises im Buch und in der Wirklichkeit war, erhielt deren Mutter – wiederum im Roman und im wirklichen Leben – im Jahre 2000 den Alternativen Nobelpreis Sie ist zudem Besitzerin eines Hotels in der Türkei und durch zahlreiche andere Details aus ihrem wirklichen Leben eindeutig identifizierbar. Dass der Autor hart an der Wirklichkeit entlang schreibt, lässt er ungeniert mit der Widmung erkennen, die er dem Roman mit den Worten vorangestellt hat:

„dieses Buch ist für dich. Ich habe es nur für dich geschrieben, aber ich verstehe, dass du Angst hast, es zu lesen. Vielleicht liest du es, wenn wir alt sind – und siehst dann noch einmal wie sehr ich dich geliebt habe. Maxim“

Alle Vorinstanzen – einschließlich des BGH – haben in strenger Befolgung der Mephisto-Entscheidung die Verbreitung des Romans auf die Klage der beiden Damen hin verboten, weil mit diesem Werk trotz seiner romanhaften Gestaltung Würde und Ehre der beiden Protagonistinnen Esra und Lale verletzt seien. Gegen diese Entscheidung richtet sich die Verfassungsbeschwerde.

Die Entscheidungsgründe

Die daraufhin ergangene Entscheidung des BVerfG kann getrost als ein Meilenstein gelten: eine Kunstfreiheit grundierte Neuinterpretation von Art 5 Abs. 3 GG und zugleich ein Abschied von der Mephisto-Entscheidung.

Das BVerfG stellt zunächst – insoweit noch der Mephisto-Entscheidung folgend – klar: Der Esra-Roman fällt in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG. Zur Frage, ob sich der Roman auf die Kunstfreiheit berufen kann, die Ehre der beiden Damen davor zurückstehen muss, judiziert das höchste deutsche Gericht wie folgt: Eine Definition (also Begrenzung) des Kunstfreiheits-Begriffes verbietet sich, die Kunstfreiheit bleibt ein sog. offener Tatbestand. Keinen Zweifel lässt das BVerfG auch daran, dass durch den Esra-Roman beide Klägerinnen (Esra und deren Mutter Lale) in ihren Persönlichkeitsrechten betroffen sind. Erst dann öffnet sich das Tor zur Prüfung der Frage, ob die immanenten Schranken des Art. 5 Abs. 3 GG greifen.

Zwar seien – so das BVerfG – beide Figuren deutlich erkennbar, aber: Maxim Biller habe einen „Roman“ geschrieben und damit ein stillschweigendes Einvernehmen zwischen Autor und Lesern seines Romans hergestellt, wonach alles was in dem Roman zu lesen ist, Fiktion sei. Das gelte auch dann, wenn es viele Übereinstimmungen zwischen der geschilderten Figur und der Realität gibt. Das wird besonders klar (und durchaus krass) erkennbar, wenn von Esras Mutter, Lale, behauptet werde, sie sei eine

„depressiv, psychisch kranke Alkoholikerin“, die „ihre Tochter und ihre Familie tyrannisiert, herrisch und streitsüchtig ist, ihre Kinder vernachlässigt hat, das Preisgeld in ihr bankrottes Hotel gesteckt hat, ihren Eltern Land gestohlen und die Mafia auf sie gehetzt hat, gegen den Goldabbau nur gekämpft hat, weil auf ihrem eigenen ergaunerten Grundstück kein Gold zu finden gewesen ist, eine hohe Brandschutzversicherung abgeschlossen hat, bevor ihr Hotel in Flammen aufgegangen ist, ihre Tochter zur Abtreibung gedrängt hat, von ihrem ersten Mann betrogen, von ihrem ebenfalls alkoholsüchtigen zweiten Mann geschlagen worden war“.

All dies muss sich die reale Mutter der Esra – unabhängig vom Wahrheitsgehalt – gefallen lassen, weil der Leser – so das BVerfG – diese Schilderung nicht für bare Münze, sondern für eine kunstrechtgeschützte Erfindung des Autors hält. Deshalb hat das BVerfG die Klage von Esras Mutter Lale abgewiesen. Ihre Menschenwürde wird nicht durch die Beschreibung dieser Person verletzt, weil ein Roman die Fiktionalität des Geschilderten unwiderruflich nahelege. Dennoch, so das BVerfG, bleibt die Veröffentlichung des Buches unzulässig, weil Maxim Biller in seiner Darstellung das (insbesondere) Liebesleben zwischen dem Ich-Erzähler und der Esra wiedergebe. In diesem Falle greife die Vermutung einer Fiktionalität des Beschriebenen nicht. Vielmehr glaube der Leser, dass Maxim Biller, das, was er über sein Liebesverhältnis mit der realen Esra schildert, von ihm so erlebt wurde.

Somit lässt sich die durchaus neue Rechtsprechung des BVerfG etwas vereinfacht auf die Erkenntnis reduzieren: Romane sind per definitionem Erfindungen des Autors und deshalb dem Verbot nicht zugänglich. Diese Erkenntnis gilt allerdings nicht, wenn dem Leser suggeriert wird, der Autor schildere Selbst-Erlebtes. Ob das Selbsterlebte zulässig beschrieben ist, hängt davon ab, ob die Darstellung in die Würde der beschriebenen Person, in ihr Recht auf Intimleben eingreift und dieses verletzt. Wenn man das von Maxim Biller Geschilderte für die Wiedergabe der Wirklichkeit hält, kannes an der  Ehrverletzung für Esra in dem Roman keine Zweifel geben.

Gleichwohl sagt das BVerfG: Je schwerer der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht – etwa durch Behauptungen ehrenrühriger Tatsachen oder Schilderungen aus der Intimsphäre für die Betroffenen – wiegt, desto stärker muss der Autor eine Anonymisierung gewährleisten.

Konsequenz aus der Esra-Entscheidung

Dieser Entscheidung des BVerfG folgt die Rechtsprechung der Untergerichte in erstaunlich vielen Nachfolgeentscheidungen:

Ein Bühnenautor schildert die Geschichte eines sog. „Ehrenmordes“, dessen Details er nur aus der Presse kennt; ein Anderer dramatisiert die grausige Mordtat des „Kannibalen von Rotenburg“.

Stets bleiben die Klagen dagegen erfolglos, weil die Rechtsprechung anerkennt: Der Autor macht vom Recht der sog. „realistischen Literatur“ Gebrauch und schildert wie es gewesen sein könnte – die Personen der Darstellung wahrheitsgetreu nachzeichnend. Dagegen können die geschilderten und erkennbaren Personen nichts unternehmen, denn für den Autor streitet die Fiktionalität des Geschilderten. All diese Veröffentlichungen bestehen (ab jetzt) vor gerichtlichen Verbotsverfügungen, weil sie sich auf die Kunstfreiheit berufen können. Es ist die endgültige Abkehr von der nie überzeugenden Mephisto-Entscheidung[3].

Kunstfreiheit und Satire

Mit der Esra-Entscheidung vom 13. Juni 2007 hat das BVerfG romanhaften Gestaltungen auch realitätsbezogener Vorgänge einen Freifahrschein verpasst und damit der Kunstfreiheit eine weitere Schneise geschlagen. Das Ende der Diskussion ist damit freilich nicht erreicht, denn das Gericht wird sich demnächst auseinandersetzen müssen mit dem Verhältnis von Kunstfreiheit zu Satire. Während auf dem Feld der sog. Realistischen Literatur die Frage zu beantworten ist, wie weit der Autor sich bei wirklichkeitsbezogenen Darstellungen von der Identifizierbarkeit der geschilderten Personen und Vorgänge entfernen muss, ist die Satire genau dahin definiert, dass sie nicht die Wirklichkeit wiedergibt, sondern mit dem Prinzip der Übertreibung, des Spottes, der Kritik arbeitet, Missstände anprangert, Personen oder Vorgänge der Lächerlichkeit Preis gibt.

Die Strauß-Entscheidungen

In den achtziger Jahren war es vor allem Franz Josef Strauß, der das BVerfG unter anderem mit zwei Verfassungsbeschwerden befasst hat, weil er sich in seiner Ehre durch Karikaturen, durch Satire verletzt fühlte. Das Journal „konkret“ karikierte den urbayerischen Politiker als sich sexuell betätigendes Schwein, kopulierend in richterliche Amtstracht. In einer anderen Karikatur tragen zwei Schweine die Gesichtszüge des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten, bekleidet mit Justizrobe und Barett. „Konkret“ thematisiert damit die Rechtsprechung in Bayern bei Verleumdungsklagen, die Strauß eingereicht hat und mit denen er problematische und oft überraschende Erfolge erzielt hat.

Auf Kunstfreiheit kann sich auch der Satiriker berufen, so das BVerfG[4]. Das gilt aber dann nicht mehr, wenn die satirische Darstellung in den „durch Art. 1 Abs 1 GG geschützten Kern menschlicher Ehre eingreift“. Diese Voraussetzung hatte das Gericht bejaht, nicht weil der Politiker als Schwein dargestellt war, sondern weil die sexuelle Konnotation die Menschenwürde angreife.

Demgegenüber hält das BVerfG in einem drei Jahre vorher ergangenen Beschluss[5] die Darstellung von Strauß als eine der Plagen für zulässig, die Bert Brecht in seinem berühmten Gedicht „Der anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy“ gekennzeichnet hat und die ein Zug mit Puppen, die als Nazis erkennbar waren, unter Bezugnahme auf dieses Gedicht darstellten, um 1980 gegen den Kanzlerkandidaten Strauß zu polemisieren.

Der Darsteller der Strauß-Figur wurde von den bayerischen Strafgerichten aufgrund einer Anzeige von Strauß wegen Beleidigung und Verleumdung verurteilt. Diese Entscheidung hob das BVerfG auf, weil sich die Veranstalter und der Darsteller der Straußfigur auf die Freiheit der Kunst berufen dürfen.

Ausblick: Das Verfahren Böhmermann

In dieses Spannungsfeld wird das Gericht erneut eintreten müssen, und dies verdanken wir Jan Böhmermann und seiner Schmähkritik in Form eines im Fernsehen vorgetragenen 60 (!) Sekunden währenden Gedichtes. Der türkische Diktator Erdogan hatte über ein ebenso dummes wie harmloses Liedchen (ausgestrahlt im NDR Satiremagazin „extra 3“ und unterlegt mit Nenas Schlager „Irgendwie, Irgendwo, Irgendwann“) empört reagiert und verlangt, den Beitrag aus der Mediathek zu nehmen und weitere Schritte angekündigt. Hierauf reagierte Böhmermann, in dem er dem Diktator „an einem praktischen Beispiel mal ganz kurz erklären“ wolle, was zulässige Schmähkritik („Erdowie, Erdowo, Erdogan“) ist und was unzulässige Satire (das Gedicht) sei, der Text, den er vortragen werde, liege jenseits der Grenze zulässiger Satire.

Die Folgen dieser 60-Sekunden-Sequenz waren geradezu tsunamiartig: Das ZDF nahm schnellstens den Beitrag aus der Mediathek, er entspreche nicht „den Ansprüchen, die das ZDF an die Qualität von Satiresendungen stellt“; die Bundeskanzlerin entschuldigte sich (völlig überflüssigerweise) bei Erdogan; Mathias Döpfner solidarisierte sich öffentlich mit Böhmermann. Die Staatsanwaltschaft lehnte die Eröffnung des Strafverfahrens mit kluger Begründung ab: es sei bereits fraglich „ob eine Ehrverletzung vorliege, da nach der Rechtsprechung des BVerfG eine Verurteilung bei mehrdeutigen Äußerungen nur dann in Betracht komme, wenn die anderen möglichen Auslegungen hinreichend verlässig auszuschließen seien.“ Erdogan zog daraufhin alle Strafanträge zurück, hielt aber an dem Begehren vor den Zivilgerichten fest und verlangt von Böhmermann eine strafbewertete Unterlassungserklärung, die dieser selbstverständlich nicht abgab.

Das LG Hamburg[6] verbot (ziemlich grotesk) 18 der 24 Zeilen des Gedichtes. Das OLG[7] erkannte, dass Schilderungen in diesem Gedicht („und selbst Abends heißt’s statt schlafen/Fellatio mit 100 Schafen“) die Realität nicht wiedergebe, aber doch sexuelle Verhaltensweisen aufgegriffen werden, die als inakzeptabel gelten und Abscheu erzeugten, auch wenn sie mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. „Bewusst verletzend“ nennt das OLG Hamburg das Gedicht (völlig zu Recht: denn es ist „bewusst verletzend“ formuliert) und schon deshalb sei es „unzulässig“. Das scheint (mir) ein Kurzschluss zu sein.

Es bestünden, so das OLG, sogar Zweifel, ob dieses Gedicht sich überhaupt auf die Kunstfreiheit berufen dürfe, denn einem Schmähgedicht stünde der Schutz des Art. 5 Abs. 3 GG nicht zur Seite. Diese Erkenntnis schließt die Augen vor dem Freiheitsgedanken, der Art. 5 Abs. 3 GG eingeschrieben ist.

Weil die Reime ziemlich simpel sind, können sie so wenig von der Kunstfreiheitsgarantie ausgeschlossen werden, wie etwa Wilhelm Buschs „wofür sie ganz besonders schwärmt, Wenn er wieder aufgewärmt“. Das ist genauso gut gereimt wie „er ist ein Mann der Mädchen schlägt und dabei Gummimasken trägt“. All das ist sicher geschmacklos, ob es im geschilderten Kontext zulässig ist, wird nun das BVerfG entscheiden. Ich bin fest überzeugt: Böhmermann hat dort gute Karten.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag entstammt aus dem »Der Wirtschaftsführer für junge Juristen«.

Um den Wirtschaftsführer auch unterwegs bequem lesen zu können, finden Sie hier unsere »Wirtschaftsführer-App«.

[1] BVerfG vom 24. Februar 1971, 1 BvR 435/68, BVerfGE 30, 173 ff.

[2] BVerfG vom 13. Juni 2007, 1 BvR 1783/05, BVerfGE 119, 1 ff.

[3] Dazu, mit vielen weiteren Nachweisen Raue, „Kunstfreiheit, Persönlichkeitsrecht und das Gebot der praktischen Konkordanz“ (AFP 2009, 1 ff.)

[4] BVerfG vom 3. Juni 1987 – 1 BvR 313/85, BVerfGE 75, 369, NJW 1987, 2661.

[5] BVerfG vom 17. Juli 1984 – 1 BvR 816/82, BVerfGE 67, 213, NJW 1987, 261.

[6] LG Hamburg Urteil vom 10. Februar 2017 – Az.: 324 O 402/16, https://justiz.hamburg.de.

[7] OLG Hamburg Urteil vom 15. 05. 2018, – Az.: 7 U34/17, http://www.rechtsprechunghamburg.de.

 

Prof. Dr. Peter Raue

Rechtsanwalt und Honorarprofessor an der FU, Berlin
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