25.05.2020

Die „Keimzelle der Demokratie“ wurde wiederbelebt

Am 6. Mai 1990 fanden die einzigen demokratischen Kommunalwahlen in der DDR statt

Die „Keimzelle der Demokratie“ wurde wiederbelebt

Am 6. Mai 1990 fanden die einzigen demokratischen Kommunalwahlen in der DDR statt

Die besondere Bedeutung der Kommunalwahl 1990 erschließt sich beim Blick in das Grundgesetz. | © sweasy - stock.adobe.com
Die besondere Bedeutung der Kommunalwahl 1990 erschließt sich beim Blick in das Grundgesetz. | © sweasy - stock.adobe.com

Die Vorgeschichte der ersten demokratischen Kommunalwahl in der DDR bildet die Aufdeckung einer Wahlfälschung. Protestaktionen führten im Jahr 1990 zur Wahl der Volkskammer und wenig später zu den Kommunalwahlen.

Wahlen in der DDR

„Die demokratische Betätigung der Bürger für die Belange der örtlichen Gemeinschaft bildet das Fundament des demokratischen Lebens für Land und Bund.“ Was der Thüringer Verfassungsgerichtshof 2017 (Urt. v. 09.06.2017 Az. 61/16) mit nach Selbstverständlichkeit klingender Prägnanz ausdrückte, war für die Menschen in Thüringen – ebenso wie in den anderen ostdeutschen Bundesländern – bis in das Jahr 1989 hinein reine Utopie: Denn Wahlen, die demokratischen Grundsätzen entsprachen, kannte die DDR nicht. Dort ging man nicht wählen, sondern man ging „Zettelfalten“.

In den Wahllokalen der DDR gab es für die Bürger nur Wahlzettel mit einer Einheitsliste vorab nominierter Volksvertreter. Die Wahlhandlung bestand überwiegend darin, diesen Zettel – ohne Aufsuchen der kaum frequentierten Wahlkabine – zu falten, sodass er durch den Schlitz der Wahlurne passte. Wer seine Zustimmung verweigern wollte, musste die Namen auf der Liste Zeile für Zeile durchstreichen.


Auf den äußeren Anstrich demokratisch zu sein legte das DDR-Regime großen Wert – immerhin trug man die Demokratie im Namen, eine im Grunde ungeheuerliche Lüge. Wie in anderen sozialistischen Staaten wurde daher die Legitimierung durch Wahlen formal beibehalten. Der Regensburger Jurist Friedrich-Christian Schroeder hat das Wesen der Wahlen in der DDR in einem 1993 veröffentlichen Aufsatz folgendermaßen zusammengefasst: „Sie hat das Institut der Wahlen auf zwei Wegen für sich unschädlich gemacht. In erster Linie wurden die Wahlen zu bloßen Abstimmungen über einen einheitlichen Wahlvorschlag umgestaltet. Zum anderen wurden aber auch noch im Rahmen dieser ihres Wesens weitgehend entkleideten Wahlen massive Fälschungen vorgenommen.“ (Schroeder NStZ 1993, 216, 218). Wahlfälschungen gab es seit der ersten Volkskammerwahl 1950.

Wahlfälschung in Tateinheit mit Anstiftung zur Wahlfälschung

1992 verurteilte das Bezirksgericht Dresden den ehemaligen Oberbürgermeister der heutigen Landeshauptstadt Sachsens wegen „Wahlfälschung in Tateinheit mit Anstiftung zur Wahlfälschung“ zu einer Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, sowie zu einer Geldstrafe. Das Urteil konnte wohl deshalb moderat ausfallen, weil es sich um einen der wenigen DDR-Funktionäre handelte, der sich öffentlich zum Unrecht dieses Systems bekannte; in mindestens 20 weiteren Verfahren ergingen ebenfalls Strafurteile. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass – da der Fall bis dorthin gelangt ist – das Bundesverfassungsgericht im Frühjahr 1993 in einer Entscheidung offiziell festhalten konnte, dass es in der DDR zu Wahlfälschungen gekommen ist, um ablehnendes Abstimmverhalten zu unterdrücken, indem die wirkliche Anzahl der Gegenstimmen verschwiegen und eine höhere Wahlbeteiligung vorgetäuscht wurden (Beschl. v. 31.03.1993 Az. 2 BvR 292/93).

Die Wahlfälschungen in der DDR waren, so formulierte Schroeder 1993 einprägsam, „wie wenn einem Hungernden auch noch der letzte Brotkanten aus der Tasche gezogen wurde“ (Schroeder NStZ 1993, 216, 218). Die Aufdeckung dieser systematischen Wahlfälschungen bildet gleichsam die Vorgeschichte der ersten demokratischen Kommunalwahlen in der DDR vor 30 Jahren und sie trägt sich im Rahmen der letzten unfreien Kommunalwahlen in der DDR zu, die am 7. Mai 1989 stattfanden. Diversen Aufrufen folgend, fanden sich zur Stimmenauszählung in bis zu 1.000 Wahllokalen Bürger ein und protokollierten ihre Beobachtungen. Dies war in der DDR möglich, denn deren wahlrechtlichen Bestimmungen sahen eine öffentliche Auszählung der Stimmen vor – schließlich sollte der demokratische Schein gewahrt werden.

Diese Beobachtungen wurden öffentlich gemacht, die staatlichen Stellen damit konfrontiert und auch Strafanzeigen wegen Wahlfälschung gestellt. Das Ausbleiben einer Reaktion führte dazu, dass fortan am 7. eines jeden Monats Protestaktionen organisiert wurden. Im – zwar unkoordinierten, jedoch als historischer Glücksfall zu wertenden – Zusammenspiel mit zahlreichen anderen Entwicklungen konnte sich das Unrechtsregime der DDR nicht mehr halten. Im Jahre 1990 fanden sodann erstmals Wahlen statt, die demokratischen Grundsätzen entsprachen: Die zur Volkskammer am 18. März 1990 und die Kommunalwahlen am 6. Mai 1990.

Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung

Die besondere Bedeutung dieser Kommunalwahl 1990 erschließt sich beim Blick in das Grundgesetz, dessen Geltungsbereich die neuen Bundesländer später zum 3. Oktober 1990 beitraten. In seinem Artikel 28 bestimmt das Grundgesetz: „In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist.“ (Absatz 1 Satz 2) Und weiter: „Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln.“ (Absatz 2 Satz 1). Die Konzeption des Grundgesetzes sieht einen auf Selbstverwaltungskörperschaften ruhenden Staatsaufbau vor. Die Gemeinden und Kreise wurden durch ein starkes Selbstverwaltungsrecht entgegen der zentralistischen Ausrichtung des nationalsozialistischen Regimes als dezentrale Verwaltungsebene gestärkt. Dies entschied der Verfassungsgeber, so das Bundesverfassungsgericht, „im Zutrauen in die Gemeinden, im Sinne eines Aufbaues der Demokratie von unten nach oben Keimzelle der Demokratie und am ehesten diktaturresistent zu sein“ (Beschl. v. 23.11.1988 Az. 2 BvR 1619/83).

Die DDR kannte keine derartige Garantie der kommunalen Selbstverwaltung. Erst im Vorfeld der Kommunalwahl 1990 kam es zu entsprechenden Rechtsänderungen. Durch das „Gesetz über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise in der DDR“ wurde den Gemeinden und Landkreisen eben jene Selbstverwaltung ermöglicht. Damit wurden, so beschrieben es zwei Angehörige des DDR-Justizministeriums in einem Beitrag für die Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift, „die Voraussetzungen für eine entschiedene Abkehr von der bisherigen zentralistischen Bevormundung der kommunalen Organe geschaffen“ (Hannemann/Bergmann DtZ 1990, 183, 184).

Auf der kommunalen Ebene ist Demokratie am deutlichsten erlebbar; nirgendwo sonst ist der Einfluss des Einzelnen auch nur annähernd so groß wie in der eigenen Gemeinde. Ein menschenwürdiges Dasein ist ohne mitbestimmende Teilhabe am Gemeinwesen nicht vorstellbar. Der Zusammenhang zwischen Demokratie und Menschenwürde ist zwar im Einzelnen umstritten – unbestritten ist jedoch sein Bestehen. Der Staatsrechtslehrer Peter Häberle drückt es in einem Beitrag im „Handbuch des Staatsrechts“ so aus: „In der Menschenwürde hat Volkssouveränität ihren letzten und ersten Grund“ (in Isensee/Kirchhof Handbuch des Staatsrechts Bd. II (3. Aufl. 2004) § 22 Rn. 65). Das Bundesverfassungsgericht sieht den Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ebenfalls in der Würde des Menschen verankert (Urt. v. 30.06.2009 Az. 2 BvE 2/08 u. a.).

Kein Rückfall in zentralistische Strukturen

Trotz der historischen und ideellen Bedeutung der ersten und einzigen demokratischen Kommunalwahlen, war die Begeisterung hierfür steigerungsfähig. So berichtete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (F.A.Z.) in ihrer Ausgabe vom 5. Mai 1990 von den Schwierigkeiten, die Menschen für die Kommunalwahlen zu interessieren – selbst Kandidaten hätten teilweise nicht gewusst, wie sie auf die politische Führung der Kommunen Einfluss nehmen könnten. Die fehlende Erfahrung, wie man die kommunale Selbstverwaltung mit Leben füllt, überrascht nicht, hat es diese doch weder in der DDR noch im Dritten Reich gegeben.

Das Recht auf kommunale Selbstverwaltung haben die Bürger in den östlichen Bundesländern schnell zu schätzen gelernt: In allen diesen Bundesländern hat es seit der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands Gebietsreformen auf Gemeinde- und Kreisebene gegeben. Gegen die Schaffung größerer Strukturen regte sich vielerorts nachdrücklicher Widerstand. Einen Rückfall in zentralistische Strukturen, wie man sie zu DDR-Zeiten kennen und hassen gelernt hat, wollten und wollen die Menschen auf keinen Fall. Andererseits ist es – im Osten ebenso wie im Westen Deutschlands – besonders in kleinen Gemeinden oft schwierig, Menschen zu einem Engagement in der Kommunalpolitik zu motivieren. Selbst für die Position des hauptamtlichen Bürgermeisters finden sich teilweise kaum Bewerber.

Das wird sich ändern: Die hohen Immobilienpreise im urbanen Raum, epochale technische Entwicklungen wie die Digitalisierung oder das autonome Fahren, sowie das berechtigt höhere Sicherheitsgefühl (- vgl. etwa Oelkers, Website der Bundeszentrale für politische Bildung, Stichwort „Sicherheit im ländlichen Raum“) machen das Leben im ländlichen Raum für junge und hochqualifizierte Menschen zunehmend attraktiv. Der natürliche Drang der Menschen, ihr Umfeld zu gestalten, dürfte die Bereitschaft zu kommunalpolitischer Verantwortungsübernahme steigern – wenn es denn gelingt, die Begeisterung dafür zu wecken, dass es die Bürger sind, die das Sagen haben.

Hinweis: Dieser Beitrag gibt die persönliche Auffassung seines Verfassers wieder. Es handelt sich nicht um eine Äußerung in amtlicher Eigenschaft.

 

Steffen Liebendörfer

Jurist und Leiter der Kommunalaufsicht im Landratsamt des Wartburgkreises
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