03.01.2022

Versammlung – Bildung einer Menschenkette im Dannenröder Wald

Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschl. vom 22.10.2020

Versammlung – Bildung einer Menschenkette im Dannenröder Wald

Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschl. vom 22.10.2020

Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV
Ein Beitrag aus »Neues Polizeiarchiv« | © Mike Fouque - stock.adobe.com / RBV

Der Antragsteller meldete am 12. Oktober 2020 die Durchführung von Versammlungen im Dannenröder und Maulbacher Wald mit dem Titel „Hätte, hätte Polizeikette – Hört auf Menschen zu gefährden! – Menschenkette gegen die Räumung und Rodung des Waldes und gegen die Einschränkung von Waldbetretungsrecht sowie Presse- und Versammlungsfreiheit“ an.

Sachverhalt

Zum Ablauf der Versammlungen gab der Antragsteller an, mit Bekanntwerden des oder der jeweiligen Arbeits- und Einsatzbereiche im Wald und mit Beginn der Räumungs- und Rodungsarbeiten für den Weiterbau der Bundesautobahn A 49 solle von den Versammlungsteilnehmern für die Dauer von einer Stunde eine Menschenkette um die Harvester, Hebebühnen, Räumpanzer und Baumhäuser gebildet werden, um sich symbolisch schützend bzw. abwehrend vor die Bäume und Maschinen zu stellen und damit die ablehnende Haltung gegen die Maßnahme auszudrücken. Die Räumungs- und Rodungsarbeiten müssten währenddessen unterbrochen werden. Es sollten Reden gehalten werden und Clowns der sogenannten CIRCA-Brigaden auftreten, die „der Polizei auf der Nase herumtanzen“ sollten. Anschließend solle die Menschenkette aufgelöst werden und der friedliche Protest an einem Ort in Hör- und Sichtweite zu den sich dann wieder fortsetzenden Rodungs- und Räumarbeiten weitergehen.

Im Kooperationsgespräch am 13. Oktober 2020 äußerte der Antragsteller im Hinblick auf Gefahren durch die Rodungsarbeiten für die Teilnehmer der Versammlung, die Menschenkette um die Fahrzeuge könnte vor dem jeweiligen Einsatz auf einem Waldweg außerhalb des Einsatzbereichs stattfinden. Nach Erklärung des Selbsteintritts verbot das Regierungspräsidium Gießen als Obere Versammlungsbehörde mit Verfügung vom 14. Oktober 2020 die Durchführung der Versammlung auf der Trasse nebst einem Sicherheitsabstand von insgesamt 120 m einschließlich den bereits gerodeten Flächen. Die Durchführung der Versammlung sei nur im Abstand von 120 m zu dem jeweiligen Räumungs- und Rodungsort möglich. Hierzu wurden verschiedene Auflagen erlassen (Verpflichtung zum Tragen eines Mund-Nasenschutzes und Einhalten von Mindestabständen wegen der Covid 19-Pandemie, Gewährleistung der Zufahrt für Brandschutz- und Rettungsfahrzeuge). Die sofortige Vollziehung wurde angeordnet.


Zur Begründung ist ausgeführt, die Veranstaltung sei erkennbar unfriedlich. Bereits am 10. Oktober 2020 sei im Waldgebiet ein Einsatzwagen der Polizei von vermummten Personen mit Steinen beworfen und stark beschädigt worden. Für die Unfriedlichkeit spreche im Besonderen auch der angekündigte Auftritt von sogenannten CIRCA-Brigaden, der Clandestine Insurgent Rebel Clown Army (Heimliche Aufständische Rebellen-Clownsarmee). Diese sei dafür bekannt, dass sie die anwesenden Einsatzkräfte vor Ort karikiere und provoziere. Aus dem Hambacher Forst seien als Clowns verkleidete Teilnehmer mit Rasierklingen in den Kostümen bekannt geworden, die Polizeieinsatzkräfte angegriffen hätten. Ein Verbot der Versammlung auf den Flurstücken des Trassenbereichs mit aktiven Rodungs- und Räumarbeiten sei nach § 15 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes − VersG − wegen der Gefahr für Leib und Leben der Teilnehmer auszusprechen. Es sei nicht auszuschließen, dass auch bei Stillstand der Harvester und weiteren Forstmaschinen vor Ort Teile von noch nicht gerodeten Bäumen oder ganze Bäume umstürzten oder unter Spannung nachgäben und auf Teilnehmer fielen. Selbst nach erfolgter Rodung bleibe das Rodungsgebiet durch die gefällten Bäume derart gefährlich, dass kein Betreten der Fläche ermöglicht werden könne. Die Schutzzone von 120 m setze sich zusammen aus dem forstüblichen Sicherheitsbereich von 90 m um den jeweiligen Rodungsort und einer sich daran anschließenden weiteren Schutzzone von 30 m. Die zusätzliche Schutzzone von 30 m diene zum einen dem Arbeitsschutz der eingesetzten Polizeikräfte und zum anderen dem Schutz von in Richtung Rodungsarbeiten durchbrechenden Versammlungsteilnehmern davor, in die 90 m-Schutzzone zu geraten, in welcher eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben bestehe. Im Übrigen stehe das mit Allgemeinverfügung des Forstamts Romrod vom 1. Oktober 2020 ausgesprochene Betretungsverbot der zu rodenden Waldflächen einer versammlungsrechtlichen Nutzung entgegen. Die bereits gerodeten Flächen stünden nicht mehr als Versammlungsfläche zur Verfügung, weil auf ihnen bereits die Umwandlung des Waldgebietes in planfestgestelltes Baustellengelände vollzogen und deshalb kein öffentlicher Verkehr mehr eröffnet sei.

Am 14. Oktober 2020 hat der Antragsteller bei dem Verwaltungsgericht Gießen einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der gleichzeitig erhobenen Klage gestellt. Das Verwaltungsgericht Gießen hat den Eilantrag mit Beschluss vom 16. Oktober 2020 abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, es vermöge angesichts der Eilbedürftigkeit der Entscheidung die Gefahrenprognose in dem angefochtenen Bescheid zu der angenommenen Unfriedlichkeit der Veranstaltung und der Gefährdung von Leib und Leben nicht abschließend zu beurteilen. Jedenfalls habe es an dieser Feststellung Bedenken. Es sei deshalb eine Folgenabwägung ohne Berücksichtigung der Erfolgsaussichten der Hauptsache zu treffen, die zu Ungunsten des Antragstellers ausfalle. Das von Art. 8 des Grundgesetzes − GG − umfasste Selbstbestimmungsrecht des Antragstellers hinsichtlich der Auswahl von Ort, Zeit und sonstigen Modalitäten der Versammlung müsse hinter den Belangen der hohen Schutzgüter von Leib und Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) der Versammlungsteilnehmer und der diensthabenden Polizisten vor den Gefahren durch herunterfallende Baumteile oder umstürzende Bäume zurücktreten. Diese Gefahren bestünden auch bei einem Stillstand der Rodungsmaschinen. Am 16. Oktober 2020 hat der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen Beschwerde eingelegt.

Aus den Gründen

[14] Die gemäß §§ 146 und 147 der Verwaltungsgerichtsordnung − VwGO − fristgerecht eingelegte und begründete Beschwerde hat in der Sache teilweise Erfolg.

[16] Das in der versammlungsrechtlichen Verfügung vom 14. Oktober 2020 ausgesprochene Verbot, die Versammlung auf der geplanten Trasse des Neubaus der Bundesautobahn A 49 nebst einem Sicherheitsabstand von insgesamt 120 m durchzuführen, erweist sich voraussichtlich als rechtswidrig, soweit damit auch die von dem Antragsteller geplante Bildung von Menschenketten um Harvester und sonstige Gerätschaften sowie um Baumhäuser vor dem täglichen Beginn von Räumungs- und Rodungsarbeiten für die Dauer von einer Stunde in diesem räumlichen Bereich generell ausgeschlossen wird. Während eines Stillstands der Maschinen hält der Senat aus Sicherheitsgründen lediglich ein Betretensverbot für bereits gerodete Flächen und daran angrenzende Flächen bis zu einem Abstand von 120 m für geboten. Insoweit war die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen.

[17] Ohne Erfolg bleibt die Beschwerde hingegen, soweit sie sich gegen das Verbot richtet, im weiteren Verlauf des Tages die Versammlungen im räumlichen Bereich der geplanten Trasse nebst einem Sicherheitsabstand von 120 m durchzuführen. Gleiches gilt für die Auflagen unter Ziffer 2 Buchstabe a bis c der Verfügung vom 14. Oktober 2020 zu Hygienemaßnahmen und Rettungswegen.

[19] 2. Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet allen Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Nach Art. 8 Abs. 2 GG kann dieses Recht für Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden.

[20] Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (…). Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet auch das Recht, selbst zu bestimmen, wann, wo und unter welchen Modalitäten eine Versammlung stattfinden soll (…). Der Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen (…). Das den Grundrechtsträgern durch Art. 8 GG eingeräumte Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt sowie Art und Inhalt der Veranstaltung ist durch den Schutz der Rechtsgüter Dritter und der Allgemeinheit begrenzt. Es umfasst nicht auch die Entscheidung, welche Beeinträchtigungen die Träger kollidierender Rechtsgüter hinzunehmen haben. Rechtsgüterkollisionen ist im Rahmen versammlungsrechtlicher Verfügungen etwa durch Auflagen oder Modifikationen der Durchführung der Versammlung Rechnung zu tragen (…). Wichtige Abwägungselemente sind dabei unter anderem die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten, die Dringlichkeit der blockierten Tätigkeit Dritter, aber auch der Sachbezug zwischen den beeinträchtigten Dritten und dem Protestgegenstand. Stehen die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und dann in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist. Demgemäß ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, ob und wie weit die Wahl des Versammlungsortes und die konkrete Ausgestaltung der Versammlung sowie die von ihr betroffenen Personen einen Bezug zum Versammlungsthema haben (…).

[21] 3. Ausgehend hiervon ist die mit der Bildung einer Menschenkette verbundene Blockade der Räumungs- und Rodungsarbeiten für die Dauer einer Stunde entsprechend der Anmeldung des Antragstellers jeweils einmal in der Woche von der dadurch in der Bauvorbereitung beeinträchtigten X… GmbH bzw. der Vorhabenträgerin hinzunehmen. Während der Bildung der Menschenkette müssen die Harvester und sonstigen Gerätschaften stillstehen, und eine Räumung der Baumhäuser ist so lange nicht möglich. Der zeitliche Umfang der Arbeitsverzögerung umfasst nur einen geringen Teil der Wochenarbeitszeit. Besonders ins Gewicht fällt bei der Abwägung der unmittelbare örtliche und sachliche Bezug zwischen dem Versammlungsanliegen zu der Beeinträchtigung der Räumungs- und Rodungsarbeiten. Die versammlungsrechtliche Ausdrucksform der Menschenketten soll unmittelbar am Ort des Geschehens stattfinden, das Gegenstand des Protests bildet, und beeinträchtigt unmittelbar die beanstandeten Räumungs- und Rodungsarbeiten. Die Behinderungen und Verzögerungen, die von der Versammlung ausgehen, treffen hier nicht unbeteiligte Dritte und sind daher der X… GmbH und der Vorhabenträgerin in größerem Maße zuzumuten. Es ist auch nicht zu erkennen, dass die Beeinträchtigungen in dem Umfang der Versammlungsanmeldung den Abschluss der Arbeiten innerhalb der Rodungssaison, die noch gut vier Monate bis zum 28. Februar 2021 andauert, verhindern könnten.

[22] 4. Die bei Bildung der Menschenketten zu betretenden Flächen stehen grundsätzlich noch als Versammlungsort zur Verfügung. Auch wenn sie sich bereits im Eigentum der X… GmbH befinden, handelt es sich immer noch um Waldflächen, zu denen im Grundsatz ein Zutrittsrecht der Allgemeinheit besteht (§ 14 des Bundeswaldgesetzes, § 15 des Hessischen Waldgesetzes).

[23] 5. Jedoch ist das Recht auf freie Wahl des Versammlungsortes hier aus Sicherheitsgründen eingeschränkt. Die Versammlungsbehörde kann nach Art. 8 Abs. 2 GG, § 15 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes − VersG − die freie Wahl des Versammlungsortes zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung beschränken. Dies gilt hier zum Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit der Versammlungsteilnehmer sowie der diensthabenden Polizisten, welchem seinerseits Grundrechtsrang zukommt (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Die Beschränkungen der freien Wahl des Versammlungsortes sind dabei nur in dem Maße gerechtfertigt, wie dies zum Schutz von Leib und Leben von Menschen erforderlich ist. Dem werden die örtlichen Beschränkungen in der versammlungsrechtlichen Verfügung des Antragsgegners vom 14. Oktober 2020 in Bezug auf die einstündige Bildung von Menschenketten zu Beginn eines Arbeitstages nicht in vollem Umfang gerecht.

[25] Der Senat hält deshalb während der einstündigen Bildung von Menschenketten ein Betretensverbot der gerodeten sowie der unmittelbar angrenzenden Bereiche bis zu einem Sicherheitsabstand von 120 m zum Schutz von Leib und Leben der Versammlungsteilnehmer und diensthabenden Polizisten für erforderlich, aber auch ausreichend. (…)

 

Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschl. v. 22.10.2020 – 2 B 2546/20

Erschienen im NPA 5/2021

 

Dr. Matthias Goers

Vorsitzender Richter am Landgericht, Hof
n/a