15.07.2015

Scheinkandidaturen im Parteien-Poker

Gravierender Transparenzverlust bei der Wahl von Kommunalorganen

Scheinkandidaturen im Parteien-Poker

Gravierender Transparenzverlust bei der Wahl von Kommunalorganen

Scheinkandidaturen führen zu einem erheblichen Transparenzverlust und den Wähler in die Irre. | © Grafvision - Fotolia
Scheinkandidaturen führen zu einem erheblichen Transparenzverlust und den Wähler in die Irre. | © Grafvision - Fotolia

Übertreibungen wie auch das eine oder andere gut verkäufliche, aber leere Versprechen sind der Wahlwerbung vieler Kandidaten eigen und hinzunehmen. Hier ist der Wähler gefragt, sich ein eigenes Bild von der Glaubhaftigkeit allfällig großzügig ausgegebener Versprechungen zu machen. Nicht weniger verlangt übrigens die Rechtsprechung dem Wahlbürger ab: Dieser habe seiner Entscheidung durchaus zugrunde zu legen, wie viel Realisierungspotenzial er den Kandidaten zutraut. Dabei muss die eine oder andere Täuschung in Kauf genommen werden.

Wer die Wähler überzeugt, möge gewählt werden…

Gerade bei der Wahl kommunaler Vertretungsgremien, bei der die (persönliche) Bekanntheit eine übergeordnete Rolle spielt, rückt die Persönlichkeit des Kandidaten weit in den Vordergrund. Die Möglichkeit, zu vergebende Stimmen auf mehrere Kandidaten zu verteilen oder auf einzelne zu konzentrieren, betont in beiden Varianten diesen Personenbezug. Nicht zuletzt findet selbiger Ausdruck auch darin, dass es bei Wahlen in kleineren Einheiten, insbesondere Kommunen, in besonderem Maße gelingt, selbst Stammwählern anderer Parteien oder Wählergruppen zumindest einzelne Stimmen zu entlocken. Darin liegt selbstverständlich kein Problem, denn wer die Wähler überzeugt, der möge gewählt werden – und das Mandat antreten. Jedenfalls ist dies die Vorstellung, mit der die meisten Wähler einem Kandidaten ihr Vertrauen schenken. Dies erscheint nur allzu berechtigt, wenn man der Kandidatur mandatsbezogene Finalität beimisst und – dem Anschein gemäß – davon ausgeht, dass derjenige, der sich zur Wahl stellt, die Wahl auch annehmen will.

Dem widerspricht ein Trend in der Wahlkampfpraxis: Immer häufiger stellen sich Kandidaten zur Wahl, die zwar die Erzielung möglichst vieler Stimmen anstreben – jedoch nicht, um damit (selbst) letztlich zum Mandat zu gelangen. Die einer Kandidatur eigene Erwerbsaussicht tritt neben diesem eigentlichen Zwischenschritt möglichst umfassenden Stimmengewinns in den Hintergrund und avanciert damit zum Selbstzweck. Mit einem entsprechend charismatischen oder wichtiger: bekannten Kandidaten lässt sich manche Liste mit weniger aussichtsreichen Bewerbern bereichern.


… kann aber nicht zur Mandatsannahme gezwungen werden

Teilweise lässt eine solche Taktik auf einen derart großen Stimmenzuwachs hoffen, dass Landräte, die als solche kein Bürger „ihres Landkreises” sein müssen, eigens zum Zwecke einer Scheinkandidatur für den Kreistag kurzfristig ihren Wohnsitz gewechselt haben, weil diese an die Bürgereigenschaft gebunden ist. Um eine tatsächliche (eigene) Anwartschaft geht es solchen Bewerbern nicht. Es mag durchaus vorkommen, dass – und so ja auch allfällige Bekundungen – solche Kandidaturen einem Stimmungstest und der Selbstbestätigung dienen. Wenn die Entscheidung zur Mandatsablehnung aber von vornherein feststeht, wird die Frage nach demokratischen Spielregeln aufgeworfen, weil Kandidatur wie auch Wahlvorgang nur mandatsbezogen zu denken sind.

Freilich hindert das passive Wahlrecht daran, den Gewählten zur Mandatsannahme zu zwingen. Insoweit kann es auch berechtigte Gründe für einen plötzlichen Rückzug geben, die neben dem persönlichen Bereich ggf. in der Enttäuschung über den Wahlausgang im Übrigen liegen mögen. Allerdings gibt es zunehmend Fälle, in denen fehlende Bereitschaft zur Mandatsübernahme von Anfang an, wenn nicht gar offensichtlich, so doch höchst wahrscheinlich ist: Häufig sind es Landräte oder Bürgermeister, die sich zur Wahl in die ihrerseits geleiteten Kollegialorgane aufstellen lassen, wobei sie sehr wohl wissen, dass dem Mandatsantritt in den meisten Ländern Inkompatibilitätsbestimmungen entgegen stehen. Diese schließen nicht die Wählbarkeit aus, statuieren aber Amtsantrittshindernisse. Der Bürgermeister oder Landrat, so die Idee, soll sich zur Wahl aufstellen lassen dürfen, um sich in Ansehung des Wahlergebnisses zu entscheiden, ob er weiterhin seinem besoldeten Hauptamt mit entsprechenden Entscheidungsbefugnissen und Ansehen nachgehen oder ob er dieses zugunsten einer „lediglich” entschädigten ehrenamtlichen Tätigkeit aufgeben möchte. Allein der bayrische Gesetzgeber hat solcher „Entscheidungsnot” vorgebaut, indem er mit Art. 21 Abs. 2 Nr. 4 Satz 2 GLKrWG bestimmten Amtsinhabern die Kandidatur bereits von vornherein verwehrt, wenn nicht besondere Umstände des Einzelfalls einen tatsächlichen späteren Antritt des Ehrenamtes indizieren.

Scheinkandidaturen lassen sich schwer vermeiden

Abhilfe lässt sich nach dem derzeitigen Wahlrecht der anderen Länder nicht schaffen, weil dieses die jeweiligen Kon-trollorgane nicht mit entsprechenden Prüfungs- bzw. Eingriffskompetenzen ausstattet. Für die listeninterne Aufstellungsversammlung wird zwar die Anwendung zivilrechtlicher Regeln zur Behandlung von Willensmängeln erwogen, um so Scheinkandidaturen frühestmöglich fehlende Ernstlichkeit i.S.v. § 118 BGB oder einen geheimen Vorbehalt i.S.v. § 116 BGB zu attestieren. Adressat der Kandidaturerklärungen und damit anfechtungsberechtigt ist allerdings nur die jeweilige Wahlversammlung, die sich u. a. aus den weiteren Listenbewerbern und damit gerade den Profiteuren der Scheinkandidatur zusammensetzt.

Auch die stark formalisierte Prüfung durch Wahlausschüsse und Wahlleiter kann Scheinkandidaturen regelmäßig nicht vermeiden. Dies gilt auch im Wahlkampf. Dort erfüllt die Scheinkandidatur ihren Zweck, wenn dem Wähler mit zumeist wortreichen Versprechungen die Stimmvergabe durch das Inaussichtstellen einer gefälligen Mandatsausübung schmackhaft gemacht wird. Außerhalb des begriffsidentischen § 108a StGB, der allein den Erklärungsakt bei der Stimmvergabe schützt, bleibt für eine vielgehörte politische Kampfansage solcher „Wählertäuschung” hier rechtlich wenig Raum. Jenseits von Zwang- und Druckausübung verlangt das BVerfG dem Wähler eine Hinterfragung der Ziele der Wahlbewerber ab und den konkurrierenden Parteien den Rückgriff auf „Mittel des Wahlwettbewerbs”.

Gravierend ist der Transparenzverlust für den Wähler

Scheinkandidaturen verärgern bislang in erster Linie die politischen Kontrahenten, die sich „ihrer” Wähler beraubt sehen. Was jedoch viel eher stören muss, ist der Transparenzverlust für den Wähler. Nicht zuletzt das BVerfG verlangt eine Gestaltung von Wahlvorgängen derart, dass der Wähler vor dem Wahlakt erkennen kann, wie sich seine Stimmvergabe auf den (Miss-)Erfolg der einzelnen Kandidaten auswirkt. Es mag dabei dem Wähler bei entsprechender Befassung der Sache nach erkennbar sein, dass die Wahl eines Kandidaten gleichsam die „Mitwahl” anderer Listenplätze bewirkt.

Oftmals werden ihm aber die Organisationsprinzipien in Gemeinde bzw. Kreis und die damit verbundenen Unvereinbarkeiten von Amt und Mandat unbekannt sein. An die Stelle bloßer Inkaufnahme einer Mitbegünstigung anderer Kandidaten tritt, vom Wähler unbemerkt, ggf. die Verkehrung seines Willens, weil er letztlich ausschließlich anderen Kandidaten zum Mandat verhilft. Wüsste er, dass ein Bewerber von vornherein nicht als Garant für die eigens umworbenen Qualitäten infrage kommt, dürfte die Wahlentscheidung oft anders ausfallen. Schließlich vergibt der Wähler seine Stimme mandatsbezogen und honoriert nicht, davon völlig losgelöst, den besten Wahlkampf.

Es besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf

Transparenzerfordernisse als Schnittmenge verfassungsmäßig versicherter Gebote von Wahlfreiheit und -unmittelbarkeit verbieten auch in der Lesart des BVerfG solche Verengungen der Entschließungsfreiheit der Wähler, die im Rahmen des jeweiligen Wahlsystems vermeidbar sind. Andernfalls ginge auch seine Forderung ins Leere, nach der dem Wähler erkennbar sein muss, wer sich für ein Mandat „bewirbt”. Diese Bewerbung versteht sich in einem finalen Sinne und geht über die bloße „Aufstellung zur Wahl” hinaus. Zeigt das Wahlsystem dergestalt Schwächen, die sich zulasten der Wahlbürger ausnutzen lassen, besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf.

Zur Bringpflicht der Wahlorganisation rechnet auch die Mitwirkung an der Enttarnung von Scheinkandidaturen. Eine bereits singulär erwogene Pflicht des Kandidaten als Inhaber eines inkompatiblen Amtes, nach der dieser darlegen muss, warum er auf das besoldete Amt zugunsten des Ehrenamtes verzichten wird, könnte Abhilfe schaffen. Sie erschwerte bei erklärungswidrigem Mandatsverzicht eine Rechtfertigung des abweichenden Verhaltens, um die sich bislang gar nicht bemüht werden muss. Es ist nur zu vermuten, dass angesichts der Vielzahl solcher Kandidaturen die Begründungen mit der Zeit ausgehen werden. Eine derartige Erhöhung der Hemmschwelle für Scheinkandidaten müsste aber ihrerseits eine enorme Hürde nehmen: die Absegnung durch die Legislative, der in fast allen ihrer Gruppierungen Scheinkandidaturen nur zu gut bekannt sind.

Hinweis der Redaktion: Eine ausführliche Abhandlung zu diesem Thema mit dem Titel „Die Scheinkandidatur bei der Wahl von Kommunalorganen – eine probate Strategie im Zwielicht von Wahlrecht und Wählertäuschung” finden Sie in den Thüringer Verwaltungsblättern, Heft 5/2015, S. 105 ff.

Der Autor ist Gemeinderat in seinem Heimatort. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte und Rechtsphilosophie der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Prof. Dr. Pauly) und ist derzeit Rechtsreferendar.

Dr. Hannes Beutel

Dr. Hannes Beutel

Rechtsreferendar, Barchfeld-Immelborn
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