15.07.2015

Amtlich publiziertes Kompetenzgerangel

BMAS veröffentlicht Grundsatzpapier zum deutschen Arbeitsschutz

Amtlich publiziertes Kompetenzgerangel

BMAS veröffentlicht Grundsatzpapier zum deutschen Arbeitsschutz

Deutschland setzt sich für die Erarbeitung eigener Normen im Bereich des betrieblichen Arbeitsschutzes ein. | © motorradcbr - Fotolia
Deutschland setzt sich für die Erarbeitung eigener Normen im Bereich des betrieblichen Arbeitsschutzes ein. | © motorradcbr - Fotolia

Im ersten Heft des Gemeinsamen Amtsblattes des Bundes aus dem Jahr 2015 (GMBl 2015 Seite 2 ff.) veröffentlichte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) ein sogenanntes „Grundsatzpapier zur Rolle der Normung im betrieblichen Arbeitsschutz”, das innerhalb der üblichen Publikationen im GMBl schon dadurch hervorsticht, dass es keineswegs wie eine Vorschrift aussieht, sondern in einer Prosa ausformuliert ist, welche an „Rechtslyrik” grenzt.

Arbeitsschutzrichtlinien: CEN- vs. UVV und DIN-Normen

In der Sache geht es um Vorgaben des BMAS an zuständige Stellen für die Normierung von Arbeitsschutzrichtlinien und Regelwerken zur Betriebssicherheit und Unfallverhütung, wann diese eigene Regulierungsbefugnisse wahrnehmen sollen, die innerhalb der Rahmenvorgaben der EU-Normierung bestehen, und wann sie zur schlichten Übernahme europäischer Vorgaben verpflichtet sind. Diese zuständigen Stellen sind im Normalfall staatliche Ausschüsse und Fachkommissionen, die vom BMAS beauftragt sind, sowie die Fachbereiche der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV); diese ihrerseits arbeiten in ihren Regelwerken häufig mit dynamischen oder statischen Verweisungen auf bestehende Regelwerke in nationalen und internationalen Normen (von Instituten wie DIN, VDE, ECE, CENELEC, ETSI).

Verwirrende Abkürzungen…

Der Text enthält übrigens eine Vielzahl weiterer Abkürzungen, insbesondere der beteiligten Ausschüsse und Kommissionen. Es treten auf: die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie GDA nach § 20a Arbeitsschutzgesetz, der Gemeinsame Deutsche Standpunkt im Bereich der Normung von Arbeitsschutzrichtlinien GDS von 1993 (Bundesarbeitsblatt S. 37), die Kommission Arbeitsschutz und Normung KAN, die „nichtkonsensbasierten” Spezifikationen CWA, PAS, IWA, die Unfallverhütungsvorschriften UVV der Unfallversicherungsträger (UVT) DGUV und SVLFG, außerdem erwartungsgemäß AEUV, EWG, EG, EU, BMA, BMAS und BAuA.


…und verwirrende Abgrenzungen

Der veröffentlichte Standpunkt des BMAS beschreibt eine Trennlinie zwischen zwei Rassen von Normen. Einerseits geht es um solche, die im Bereich der Binnenmarktharmonisierung nach Artikel 114, 115 AEUV die Produkt- und Gerätesicherheitsrichtlinien konkretisieren, insbesondere die sogenannten mandatierten Normen, welche die Europäische Kommission auf dieser Rechtsgrundlage bei europäischen Normungsinstituten in Auftrag gegeben hat.

Andererseits sind hiervon gedanklich zu trennen die Normen im Bereich des Schutzes von Gesundheit und Sicherheit von Arbeitnehmern, welche eine Rechtsgrundlage in Artikel 153 AEUV finden. Letztere Normen beruhen zwar ebenfalls auf EU-Richtlinien, aber nach Artikel 153 Absatz 2 Buchstabe a) umfasst diese Ermächtigung keinen Harmonisierungsauftrag, sondern zielt nur auf die Setzung von Mindeststandards ab und überlässt die Bestimmung des Schutzniveaus im Übrigen den Mitgliedsstaaten.

Daraus folgt, dass es theoretisch einen Anwendungsbereich für nationale Normen im Bereich des Arbeitsschutzes gibt, die nicht binnenmarktrelevant sind und von EU-Normen nicht überlagert werden. Diese Abgrenzung versuchen BMAS, Tarifpartner, DIN, VDE und DGUV zu betonen und agieren gemäß dem „Gemeinsamen Deutschen Standpunkt” von 1993 prinzipiell ablehnend, wenn europäische Normen in diesem Bereich entstehen. Außerdem unternimmt Deutschland bewusst nichts zur Initiierung solcher vereinheitlichender Normen (BMAS, GMBl 2015, insbesondere Seiten 3 und 4).

Isolierung Deutschlands

Diese formell korrekte Haltung wurde von den anderen Mitgliedsstaaten, den europäischen Normungsinstituten und der EU offenbar konsequent ignoriert, sodass weitere Kommissionen beauftragt wurden, Interpretationen und Neuformulierungen eines „deutschen Standpunkts” vorzunehmen (BMAS, GMBl 2015 Seite 3).

Das praktische Argument der EU-Stellen dabei liegt derartig auf der Hand, dass es auch im Eingangstext zum „Grundsatzpapier” des BMAS im GMBl 2015 gleich offengelegt wird: Geräte und Produkte, die Sicherheitsanforderungen erfüllen müssen, werden nämlich nicht nur von Privatleuten gekauft und benutzt, sondern ganz besonders intensiv und selbstverständlich auch an Arbeitsplätzen.

Und sichere Geräte und Produkte führen zu sicheren Arbeitsplätzen; insofern schlägt die umfassende Harmonisierungskompetenz der EU hinsichtlich der Produktsicherheit auf die Regelung der Sicherheit am Arbeitsplatz durch und verdrängt deren Anwendungsbereich überall, wo es Überschneidungen gibt. Die Befugnisnormen für Harmonisierungsmaßnahmen in Artikel 114 AEUV sind – dem Ziel der effektiven Verwirklichung des Binnenmarkts dienend – besonders weitreichend abgefasst und führen dazu, dass auch binnenmarktfremde Materien auf dieser Grundlage geregelt werden können (vgl. Walter Frenz, Europarecht, 2011, Rn 708 ff.). Die Harmonisierungstätigkeit erfolgt in der Praxis zweistufig. Die Richtlinien über bestimmte Produkt- und Gerätegruppen werden durch europäische Normen konkretisiert, welche die Kommission bei europäischen Normungsinstituten mandatiert. Die Einhaltung solcher Normen löst die sogenannte Vermutungswirkung aus, nämlich, dass grundlegende Anforderungen der Richtlinien erfüllt sind und z. B. CE-Konformitätszeichen zu Recht angebracht sind. Verfahren, Wirksamkeit und Voraussetzungen regelt inzwischen insbesondere die EU-Verordnung Nr. 1025/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 (ABl. L 316/12 vom 14. 11. 2012).

Wirtschaftliche Hintergründe des Engagements für die Arbeitssicherheit?

Fraglich ist nun, warum sich die Deutschen so vehement für die Erarbeitung eigener Normen im verbleibenden Restbereich einsetzen und sich sogar gegen vermeintlich ultra vires erlassene Regeln wehren, die nur den Bereich Arbeitsschutz harmonisieren, ohne gleichzeitig auch einer Produktsicherungsmaßnahme zu dienen. Man könnte doch auch froh sein, dass sich ein anderer darum kümmert und dass es EU-weit vergleichbar zugeht. Sind die deutschen Arbeitsschutzvorschriften so viel sicherer oder schöner? – Es kommt am Rande jedenfalls auch der Verdacht auf, dass Pfründen verteidigt werden sollen. Denn EU-Normen werden einfach im Amtsblatt veröffentlicht und sind kostenlos verwendbar, während DIN-Normen oft nur gegen Lizenzgebühr erhältlich sind (BMAS GMBl 2015 Seite 6, Punkt 2.2.2.2 Ziffer 3.). Hinzu kommt wohl die nicht unbegründete Angst vor einer Verdrängung, denn Artikel 3 Absatz 6 der Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 lautet in ungewöhnlicher Klarheit: „Während der Erstellung einer harmonisierten Norm oder nach ihrer Verabschiedung dürfen die nationalen Normungsorganisationen keine Maßnahmen ergreifen, die die beabsichtigte Harmonisierung beeinträchtigen könnten; sie veröffentlichen insbesondere in dem betreffenden Bereich keine neue oder geänderte nationale Norm, die einer geltenden harmonisierten Norm nicht vollständig entspricht. Wird eine neue harmonisierte Norm veröffentlicht, werden alle konkurrierenden nationalen Normen innerhalb einer angemessenen Frist zurückgezogen.”

Bei der Formulierung des GDS und bei aktuellen Beratungen war stets auch das DIN – quasi in eigener Sache – mit dabei, obwohl z. B. in §§ 20a, 20b ArbSchG nur die anderen an GDS und KAN beteiligten Institutionen zur nationalen Arbeitsschutzkonferenz gezählt werden.

Ankündigung eines Revirements?

Ob es allerdings bei der streng dualistischen und harmonisierungsfeindlichen Haltung des BMAS bleiben wird, erscheint offen, denn das aktuelle „Grundsatzpapier” im GMBl 2015 schließt mit dem Hinweis, dass eine (neue?) Arbeitsgruppe der KAN die bisherigen Publikationen zum Spielraum für nationale Arbeitsschutznormen im Lichte der aufgezeigten Entwicklungen überprüfen wird. Es könnte sich also um die Ankündigung eines Revirements handeln.

 

Dr. Alexander Konzelmann

Leiter der Boorberg Rechtsdatenbanken RDB, Stuttgart
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