15.10.2015

„Rolle rückwärts” der EU-Kommission

Wann haben Beihilfen zwischenstaatliche Auswirkungen?

„Rolle rückwärts” der EU-Kommission

Wann haben Beihilfen zwischenstaatliche Auswirkungen?

Die Kehrtwende der EU-Kommision ist erfreulich für Kommunen und kommunale Unternehmen | © adimas - Fotolia
Die Kehrtwende der EU-Kommision ist erfreulich für Kommunen und kommunale Unternehmen | © adimas - Fotolia

Das Europäische Beihilfenrecht verbietet individuelle Begünstigungen von Unternehmen durch staatliche Maßnahmen. Es findet aber nach Artikel 107 Abs. 1 AEUV nur dann Anwendung, wenn diese geeignet sind, den Wettbewerb zu verfälschen und den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen. In der Vergangenheit legte die Europäische Kommission das Tatbestandsmerkmal der „Zwischenstaatlichkeit“ in Anlehnung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sehr weit aus. Nun scheint sie eine Kehrtwende zu vollziehen. In sieben neuen Entscheidungen hat die Kommission bei Maßnahmen zur Förderung rein lokaler Vorhaben die Zwischenstaatlichkeit und damit das Vorliegen einer Beihilfe verneint.

Die Entscheidungen der Kommission

In den von der Kommission entschiedenen Fällen ging es um die Förderung öffentlicher Krankenhäuser in der Tschechischen Republik und in Deutschland, eines medizinischen Versorgungszentrums in Durmersheim, einer städtischen Wirtschaftsförderungsgesellschaft in Kiel, eines Hafens in den Niederlanden sowie von Golfclubs und eines Outdoor-Trainingszentrums im Vereinigten Königreich.

Die Kommission möchte – in Ergänzung zur Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO – siehe dazu auch PUBLICUS 2015.7, Seite 21) – mit diesen Beschlüssen den Mitgliedsstaaten und sonstigen Interessensgruppen zusätzliche „Orientierungshilfen“ an die Hand geben, damit diese feststellen können, welche Vorhaben nach den europäischen Beihilfenvorschriften genehmigt werden müssen und welche nicht.


In ihren Entscheidungen geht die Behörde davon aus, dass sich eine staatliche Förderung von Vorhaben mit rein lokalen Auswirkungen nicht auf den Handel innerhalb der Europäischen Union auswirkt. Wie schon bisher soll dies dann der Fall sein, wenn der Beihilfenempfänger Güter oder Dienstleistungen nur in einem geografisch begrenzten Gebiet in einem einzigen Mitgliedsstaat anbietet und diese Aktivitäten keine Kunden aus anderen Mitgliedsstaaten tangieren. Darüber hinaus – und das ist neu – unterstellt die Kommission nun jeweils ohne weitergehende Prüfung, dass die staatliche Maßnahme keine oder höchstens marginale vorhersehbare Auswirkungen auf grenzüberschreitende Investitionen und die Gründung von Unternehmen in diesem Sektor habe.

Die stärkere Berücksichtigung des Personenkreises, der die staatliche geförderte Einrichtung in Anspruch nimmt, stellt eine deutliche Abkehr von der bisherigen Entscheidungspraxis der Kommission dar. Bislang ist diese hinsichtlich der „Zwischenstaatlichkeit“ meist der Rechtsprechung des EuGH gefolgt. Dieser hat in einer gefestigten Entscheidungspraxis herausgearbeitet, dass es keinen Prozentsatz und keine Schwelle gäbe, unterhalb derer davon ausgegangen werden könne, dass eine staatliche Förderung nicht geeignet sei, den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen (Altmark-Trans-Rechtsprechung). Zuletzt hatte die Kommission diese Auffassung noch in der Sache Kristall Bäder (SA.33045) zugrunde gelegt. Dabei hätte es gerade in dieser Sache nahegelegen, zur Zwischenstaatlichkeit und zur Abgrenzung zur Entscheidung Freizeitbad Dorsten (N 258/00) Stellung zu nehmen.

Geänderte Politik der Kommission

Die neue Herangehensweise der Kommission fügt sich nahtlos in ihre aktuelle Politik ein. Wie schon mit der Einführung der VO 1/2003 im Kartellrecht zielt sie nun auch im Beihilfenrecht darauf ab, den Verwaltungsaufwand für Behörden und Unternehmen zu verringern und die Ressourcen der Kommission auf die Fälle mit den größten Auswirkungen auf den Binnenmarkt zu konzentrieren.

Flankierend zum Verzicht auf das Erfordernis einer vorherigen Genehmigung von Beihilfen auf Grundlage der im Jahr 2014 in Kraft getretenen AGVO verkürzt die Kommission durch ihre neue Entscheidungspraxis nun den Tatbestand des Beihilfenverbots und verringert damit zugleich den Anwendungsbereich des gesamten Beihilfenrechts.

Konsequenzen

Könnte man den gewandelten Ansatz der Kommission verlässlich für jegliche künftige beihilfenrechtliche Prüfung zugrunde legen, würden sich beihilfenrechtliche Fragen in der kommunalen Praxis in vielen Fällen nicht mehr stellen. Insbesondere die Erbringung von echten Daseinsvorsorgeleistungen (sog. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, DAWI) durch kommunale Unternehmen ist typischerweise dadurch gekennzeichnet, dass sie ausschließlich oder ganz überwiegend im Interesse der lokalen Einwohner erbracht werden. In solchen Fällen käme es zukünftig für eine beihilfenrechtliche Absicherung – sofern sich dieser neue Ansatz bestätigt und verfestigt – nicht mehr in erster Linie auf eine korrekte Betrauung des Unternehmens auf der Grundlage des sog. Freistellungsbeschlusses an. Vielmehr wäre nun vorgelagert zu prüfen, ob es im Einzelfall hinreichende Argumente gibt, um bereits die Zwischenstaatlichkeit zu verneinen.

Rechtssicherheit ist aber nicht in Sicht – denn die Europäischen Gerichte haben den Anwendungsbereich des Beihilfenrechts bislang wesentlich weitumfassender definiert. Soweit kommunale Unternehmen bereits heute von ihren Trägergesellschaften durch einen Betrauungsakt mit der Erbringung von DAWI beauftragt sind, empfiehlt es sich, an dieser Praxis festzuhalten. Dies bietet auch in Zukunft – neben der Möglichkeit, sich auf die fehlende Zwischenstaatlichkeit der Maßnahme zu berufen – eine weitere Argumentationslinie, um gegen den Vorwurf eines Beihilfenrechtsverstoßes gewappnet zu sein.

Der Krankenhausbereich als Beispiel

Fast schon kuriose Auswirkungen könnte die geänderte Entscheidungspraxis auch für kommunale Krankenhäuser haben: In den meisten bisherigen Entscheidungen hierzu hat die Kommission die Zwischenstaatlichkeit staatlicher Finanzierungsmaßnahmen ohne Weiteres bejaht. Aus diesem Grund erfolgt die Finanzierung der meisten Krankenhäuser in öffentlicher Trägerschaft heute auf der Grundlage eines Betrauungsakts.

Die Kommission hat nun in den Entscheidungen Landgrafenklinik (SA.38035) und Tschechische Kliniken(SA.37432) die Zwischenstaatlichkeit im Hinblick auf den kommunalen Defizitausgleich verneint. Die Kommission betont in beiden Fällen, dass fast keine Patienten aus anderen Mitgliedstaaten stammten und die Krankenhäuser weitgehend eine Grundversorgung anbieten. Bei solchen „Standardleistungen“ seien die Patienten im Allgemeinen nicht bereit, sich außerhalb ihres lokalen Umfelds behandeln zu lassen. Darüber hinaus weist sie auf sprachliche Barrieren und Merkmale des nationalen Gesundheits- bzw. Erstattungssystems hin. Schließlich stellt die Kommission fest, dass die staatliche Finanzierung des Krankenhauses im Landkreis Schaumburg keine Hindernisse für die Niederlassung von Gesundheitsdienstleistern aus anderen Mitgliedstaaten geschaffen habe. Im Umkreis von 100 km von der Landgrafen-Klinik gebe es mehr als 20 Rehabilitationskliniken für den Bereich Orthopädie. Dies lege nahe, dass die der Klinik gewährten Zuwendungen einen Markteintritt oder eine Etablierung im Markt von Privatkliniken mit vergleichbarem Angebot nicht erschweren.

Diese Ausführungen bergen enorme Sprengkraft. Kann man im Fall der Landgrafen-Klinik noch argumentieren, dass es sich dabei um eine Reha-Klinik handelt, so gilt dies für die tschechischen Allgemeinkrankenhäuser nicht. Denkt man diese Entscheidungen weiter, so könnte auch im Fall des derzeit beim Bundesgerichtshof anhängigen Verfahrens des Bundesverbands Deutscher Privatkliniken e.V. gegen den Landkreis Calw das Vorliegen einer Beihilfe schon mangels zwischenstaatlicher Berührungspunkte zu verneinen sein. Auf die schwierige Frage, ob der Defizitausgleich auf der Grundlage eines ordnungsgemäßen Betrauungsakts erfolgt, käme es nicht mehr an.

Praktische Hinweise

Das Ziel der Kommission, den Anwendungsbereich des Beihilfenverbots auf die Fälle zu beschränken, die tatsächlich zwischenstaatliche Auswirkungen haben, ist im Ausgangspunkt zu begrüßen. Für Kommunen und kommunale Unternehmen ist diese Entwicklung erfreulich, eröffnet sie doch neue Argumentationsspielräume. In vielen Fällen ist es denkbar, dass sich die Debatte um die korrekte Ausgestaltung der Betrauung künftig auf die Frage vorverlagert, ob überhaupt eine Beihilfe vorliegt. Eine Betrauung mag dann „nur“ noch als Rückfall-Ebene dienen.

Gleichwohl verbleiben Fragezeichen. In den vergangenen Jahren haben Wettbewerberklagen vor den nationalen Gerichten erheblich dazu beigetragen, dass das Beihilfenrecht in der kommunalen Praxis fester verankert wurde. Da diese Rechtsschutzmöglichkeiten durch die geänderte Entscheidungspraxis beschnitten würden, ist hier mit Widerstand zu rechnen. Insbesondere könnten interessierte Wettbewerber versuchen, Beihilfenbeschwerden vor die Europäischen Gerichte zu bringen, um die Kommission so zu einer Korrektur ihres neuen Ansatzes zu zwingen. Ob die Änderung der „Auslegung“ des Beihilfenverbots durch die Kommission zugleich auch zu einer Rechtsprechungsänderung führen wird, ist ungewiss.

 

Dr. Stefan Meßmer

Rechtsanwalt und Partner,
Menold Bezler Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Stuttgart
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