15.10.2015

Joker im Ärmel

Die Rolle der „Siegerprämie” bei der Neuwahl in Griechenland

Joker im Ärmel

Die Rolle der „Siegerprämie” bei der Neuwahl in Griechenland

Griechisches Wahlrecht: Die stärkste Partei hat einen „Joker im Ärmel” | © mik ivan - Fotolia
Griechisches Wahlrecht: Die stärkste Partei hat einen „Joker im Ärmel” | © mik ivan - Fotolia

Um durch Vergleich in Erfahrung zu bringen, welche Staatsform die beste sei, soll der griechische Philosoph und Universalgelehrte Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) mehr als 170 Verfassungen gesammelt haben. Ob das Griechenland von heute ein ideales Staatsgebilde ist, wie es Aristoteles und auch Platon vorschwebte, bleibt zumindest umstritten.

Nun haben die Neugriechen am 20. 09. 2015 gewählt … – wieder einmal! Die letzte Wahl fand am 25. 01. 2015 statt und war selbst schon ein vorgezogener Urnengang. Zwischen den beiden außerordentlichen Wahlen gab es noch eine Volksabstimmung. Die Griechen kommen also auf drei Wahlen in einem Jahr, was zu einem weitgehenden Stillstand der Verwaltung führen musste. Seit Juni 1989, also seit 26 Jahren, gab es – bei einer Lebensdauer von durchschnittlich zwei Jahren – 13 Regierungen. Man kann also „cum grano salis” sagen, dass sich Griechenland in einem Dauerwahlkampf befindet.

Die Wahlen nach den Wahlen

Schuld an der politischen Instabilität ist nicht allein, aber auch nicht zuletzt das von der Verhältniswahl geprägte Wahlsystem, das auch in Griechenland vorherrscht. Im Gegensatz zur klassischen Direktwahl in überschaubaren Wahlkreisen, wie sie in Großbritannien seit 1429 in den Urkunden nachgewiesen werden kann, führt die auf dem europäischen Kontinent bevorzugte Parteienwahl grundsätzlich nicht zu stabilen politischen Verhältnissen und ist ohne Sperrklausel überhaupt nicht funktionsfähig. Weil nur selten eine Partei alleine die absolute Mehrheit der Mandate erreicht, führt das System, die Auswahl der Kandidaten ganz in die Hand der politischen Parteien zu legen (Listenwahl), regelmäßig zu Koalitionen. Kommen sie überhaupt zustande, was immer ungewiss bleibt, sind sie nicht sonderlich stabil.


In der Zeit der Weimarer Republik hat man mit der Verhältniswahl sehr schlechte Erfahrungen gemacht, ebenso in der IV. Republik in Frankreich, aber auch in Italien. Vor allem aber haben die Wähler auf die Bildung der Koalitionen keinen unmittelbaren Einfluss. Sie geben ihre Stimme ab, was danach passiert, liegt in Gottes Hand. Denn den Rest machen die Parteien in den sog. „Wahlen nach den Wahlen” unter sich aus. Die Parteien stellen also nicht nur die Kandidaten auf, die von den Wählern „abgenickt” werden, sondern entscheiden auch über die Koalitionen. Die wirkliche, die direkte Demokratie, die namentliche Volksabstimmung über die Abgeordneten, die Volksherrschaft, sie beginnt daher in der direkten Wahl der Volksvertreter in überschaubaren Wahlkreisen. Doch davon will man auf dem europäischen Kontinent nur wenig oder nichts wissen.

Die Konsequenzen des Wahlergebnisses

Wenn es dafür noch eines Beweises bedurft hätte, ist er bei der Neuwahl in Griechenland v. 20. 09. 2015 erneut gelungen. In das Athener Parlament werden wiederum 8 Parteien einziehen. In der vergangenen Legislaturperiode, die nach nur acht Monaten vorzeitig abgebrochen wurde, waren es ebenfalls 8 Parteien. Die Syriza-Partei unter Vorsitz von Alexis Tsipras stellt mit 35,4 Prozent der Stimmen im Parlament wiederum die stärkste Fraktion. Auf sie entfielen 95 Abgeordnete, vier weniger als bei der Wahl im Januar 2015. Das ist ein Drittel aller Abgeordneten. Für eine Koalitionsmehrheit werden also noch 56 Abgeordnete benötigt. Tsipras stünde also vor der Wahl, entweder eine Mehr-Parteien-Regierung oder einer sog. Großen Koalition mit der zweitstärksten Partei. So ist es aber nicht.

Denn die Syriza erhält als stärkste Partei bei der Verteilung der Stimmen auf die Mandate eine sog. „Siegerprämie”, d. h. einen Bonus von 50 Sitzen … und zwar ohne dass über diese Zusatz-Mandate abgestimmt worden wäre. So will es das griechische Wahlrecht. In das Wahlergebnis wird nachträglich also zweimal, sowohl durch die Sperrklausel von 3 Prozent als auch durch die „Siegerprämie” eingegriffen – eine Bankrotterklärung für das System der Verhältniswahl! (Vgl. dazu Hettlage, „Neugriechische Mehrheitsbeschaffung”, in: „Wer mit zwei Stimmen wählt …”, 2015, S. 146, IV/27.)

Das Parlament am Syntagma-Platz in Athen umfasst 300 Sitze. 12 Mandate werden an landesweite Listen vergeben, 238 in 48 Wahlgebieten unterschiedlicher Größe, aus denen hier mehr, dort weniger Abgeordnete hervorgehen. Athen bildet das größte Wahlgebiet und stellt alleine 44 der insgesamt 300 Volksvertreter (= 14,6 %). Immerhin werden die Abgeordneten aus den Listen der griechischen Parteien namentlich ausgewählt, wie das bei Kommunalwahlen weithin üblich ist. (Parteienwahl mit offenen Listen) In Italien, aber auch in Deutschland ist das nicht der Fall. In beiden Ländern wird mit starren, d. h. mit geschlossenen Listen gewählt, die den Wählern keine Möglichkeit lässt, die alles entscheidende Platzierung auf den Listen der Parteien zu beeinflussen. Neuerdings hat das itVerfG, die Corte costituzionale mit Sitz im Palazzo della Consulta auf dem Quirinal in Rom, den Italienern seit Januar 2014 die Wahl mit offenen Listen auferlegt. (Vgl. www.cortecostituzionale.it, sentenza no. 1, v 13. 01. 2014; ferner auch Francesco Palermo, www.verfassungsblog.de.)

Sperrklausel von nur 3 Prozent

Sieben griechische Wahlgebiete sind von der Größe her so geschnitten, dass die Stimmberechtigten nur einen Abgeordneten wählen können. Das Mandat erhält in diesen Wahlkreisen die Liste der Partei mit den meisten Stimmen. Die Stimmen für die anderen Parteien gehen offenbar unter. Deshalb wird im Schrifttum angenommen, dass es sich hierbei um eine partielle Direktwahl der Abgeordneten in überschaubaren Wahlkreisen handelt, was allgemein als „Mehrheitswahl” bezeichnet wird. Wieso die Parteien für die Wahlkreise Listen aufstellen, obwohl nur ein Kandidat gewinnen kann, bleibt allerdings rätselhaft.

Weil es in Griechenland bei mehr als 9 Mio. Wählern eine eher gemäßigte Sperrklausel von nur 3 Prozent gibt, braucht man – bei einer unterstellten Wahlbeteiligung von 100 % – für ein Mandat aus insgesamt 300 Parlamentariern im Durchschnitt 30.000 Stimmen. Das erreichen die kleineren unter den Splitterparteien ohnehin nicht. Würde man die Zahl der Mitglieder des Parlaments von 300 auf 150 halbieren – was für ein so kleines Land mit nur 11 Mio. Einwohnern vollkommen ausreicht –, wären schon 60.000 Stimmen pro Mandat erforderlich. Man könnte sich dann die Sperrklausel sparen, ohne dass die zu erwartende Zahl der Parteien im Parlament steigt. Zum Vergleich kommt der Landtag in Baden-Württemberg bei 10,5 Mio. Einwohnern mit nur 120 Landtags-Abgeordneten aus. Das alles aber nur nebenbei.

Die griechische Drei-Prozent-Hürde müsste höher sein, wenn sie zu einem Drei- bis Fünf-Parteien-Parlament führen soll. Für das deutsche Recht hat das Verfassungsgericht in Karlsruhe allerdings eine Obergrenze von 5 Prozent gezogen. (Vgl. BVerfG v. 29. 09. 1990, BVerfGE 82,322) Man muss die griechische Sperrklausel jedoch in einen Zusammenhang mit der sog. „Siegerprämie” stellen. Die Wähler stimmen nämlich nicht über alle 300, sondern nur über 250 Mandate ab. Ähnlich wie in Italien (vgl. Hettlage, PUBLICUS 2014.6: „Verfassungsrichter in Rom misten einen Saustall aus”) erhält die stärkste Partei einen „Bonus” von 50 Zusatzmandaten, was nach deutschem Demokratieverständnis undenkbar wäre (ablehnend auch Strelen, in: Schreiber, BWahlG, 9. Aufl. 2013, § 1, Rn. 17 j und 63.)

Mit Demokratie unvereinbar: die „Siegerprämie”

Nimmt man die beiden nachträglichen Eingriffe in das Wahlergebnis zusammen, also die Umverteilung der Mandate von den sog. Splitterparteien auf die privilegierten Parla- mentsparteien durch die Sperrklausel und die „Siegerprämie”, dann kann in Griechenland eine Partei mit 37 % der Stimmen alleine 50 % der Sitze im Parlament erlangen. Die stärkste Partei hat also „einen Joker im Ärmel”, mit dem sie mit der relativen Mehrheit der Stimmen sogar die absolute Mehrheit der Mandate erringen kann, ohne dass die Wähler auch über die 50 Zusatzmandate abgestimmt haben. Darauf hat Alexis Tsipras seine Hoffnung gesetzt, die Vertrauensfrage gestellt und die laufende Legislaturperiode zu Bruch gehen lassen. Doch seine Rechnung ist nur teilweise aufgegangen. Die Syriza-Partei hat vier Sitze verloren, blieb aber stärkste Partei und bekommt die 50 Zusatzmandat als „Siegerprämie.

Das Verfassungsgericht in Rom hat mit der oben zitierten Entscheidung die „Siegerprämie” italienischer Prägung, die in ihrer Entstehung auf Benito Mussolini zurückgeht, zu Recht für unzulässig und grob verfassungswidrig erklärt. Die beiden Kammern der Volksvertretung haben, die „Camera dei deputati” und der „Senato” haben sich dem Urteil allerdings widersetzt und demokratisch nicht legitimierte Zusatzmandate für die stärkste Partei in modifizierter Form unter dem Schlagwort „Italicum” wiederum zum Gesetz erhoben. Die nächste Wahl in Italien findet deshalb unter dem Damoklesschwert einer erneuten Wahlanfechtung statt. Ob die Nea Demokratie unter Vorsitz von Evagelos Meimarakis nach dem Vorbild der Italiener vor das griechische Verfassungsgericht zieht und die undemokratische „Siegerprämie” zu Fall bringt, ist eher unwahrscheinlich. – Jeder sechste Abgeordnete gelangt in das griechische Parlament, ohne dass die Wähler dazu gefragt worden sind. Und es gibt niemand, der dazu sagt: So nicht, meine lieben Freunde!

Demokratiegebot: ein Grundwert der Europäischen Union

Das Demokratiegebot gehört zu den Grundwerten der Europäischen Union und ist als solches in den Verträgen der EU fest verankert. In beiden Staaten, in Italien und Griechenland, ist man von einer unmittelbaren Wahl der Abgeordneten durch das Volk weit entfernt. Das Wahlergebnis wird nachträglich ausgehebelt. Deshalb gibt es dort keine demokratisch legitimierte Regierung. Doch der EU-Vertrag findet wie so oft keine Anwendungen und wird bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit Füßen getreten.

Die neugriechische wie die italienische Mehrheitsbeschaffung erinnert an das geflügelte Wort, das dem Sachsenkönig Friedrich Wilhelm III. zugeschrieben wird. Er soll bei seiner Abdankung nach dem Ersten Weltkrieg in dem breiten sächsischem Dialekt gesagt haben: „Ihr seid mir scheene Demokraden. Na dann machd mal euren Dregg alleene.”

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