15.12.2012

Produktsicherheitsrecht: Ernste Risiken

Das neue Produktsicherheitsgesetz (ProdSG) als Gefahrenabwehrrecht

Produktsicherheitsrecht: Ernste Risiken

Das neue Produktsicherheitsgesetz (ProdSG) als Gefahrenabwehrrecht

Das ProdSG: Bessere Beobachtung des Warenverkehrs, zügige Warnung, grenzüberschreitendes Rückrufmanagement. | © Claudia Paulussen - Fotolia
Das ProdSG: Bessere Beobachtung des Warenverkehrs, zügige Warnung, grenzüberschreitendes Rückrufmanagement. | © Claudia Paulussen - Fotolia

Das Gesetz über die Bereitstellung von Produkten auf dem Markt (Produktsicherheitsgesetz – ProdSG) ist seit dem 1.12.2011 die zentrale Rechtsgrundlage für die Vermarktung von Produkten in der Bundesrepublik Deutschland. Denn dieses Gesetz regelt nicht weniger als die genuin produktsicherheitsrechtlichen Anforderungen, die im Zeitpunkt der Abgabe von Produkten im Sinne des ProdSG zum Vertrieb, Verbrauch oder zur Verwendung auf dem Markt der Europäischen Union im Rahmen einer Geschäftstätigkeit zu erfüllen sind.

Arbeits- und Verbraucherschutz

Seinen wesensbestimmenden Charakter als Gefahrenabwehrrecht hat das ProdSG dabei nicht verloren: Nach wie vor zielt das Gesetz in seiner Funktion als vorgreifender Arbeitsschutz (wenn es um Produkte geht, die Arbeitsmittel im Sinne des §2 Abs.1 BetrSichV sind) ebenso wie als genuines Verbraucherschutzrecht (wenn es um Verbraucherprodukte geht) darauf ab, Gefahren für die körperliche Unversehrtheit bei der Produktbenutzung zu verhüten, vgl. §3 Abs.1 Nr.2, Abs.2 S.1 ProdSG.

Anders als noch unter der Geltung des Geräte- und Produktsicherheitsgesetzes (GPSG) hat der Reformgesetzgeber innerhalb des allgemeinen Produktsicherheitsrechts nunmehr daneben auch – jedenfalls begrifflich – ein Risikorecht im Allgemeinen und ein Sonderrecht für ernste Risiken im Besonderen etabliert.


Das ProdSG als Referenzgebiet eines Risikoverwaltungsrechts?

Im Unterschied zum GPSG, das nur die Kategorie der Gefahr kannte, kennt das ProdSG zusätzlich auch den Gesetzesbegriff des Risikos (vgl.§§2 Nrn.9, 23, 6 Abs.4 S.1, 26 Abs.4 ProdSG). Diese Änderung ist darauf zurückzuführen, dass sich der deutsche Gesetzgeber dazu entschieden hat, fortan immer dort, wo in der englischen Originalfassung einer europäischen Harmonisierungsrechtsvorschrift von risk die Rede ist, den Begriff „Risiko“ zu verwenden. Bei dem Gesetzesbegriff „Gefahr“ hat es demgegenüber nach wie vor sein Bewenden, wo der englische Begriff hazard im europarechtlichen Hintergrund steht. Aufgrund dessen wird man konstatieren können, dass der Gesetzgeber mit der Reform des Produktsicherheitsrechts – entgegen dem ersten Anschein – keinen Paradigmenwechsel im Sinne einer partiellen Abkehr vom Recht der Gefahrenabwehr durch die Schaffung eines neuen Betätigungsfeldes für das ausgreifende Feld des Risikoverwaltungsrechts beabsichtigte. Der Gesetzgeber verstand die begriffliche Erweiterung in diesem strukturprägenden Bereich des zentralen produktsicherheitsrechtlichen Gesetzes vielmehr als rein terminologisches Projekt.

Beifall verdient dieser Schritt allerdings nicht: Die deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft unterscheidet gemeinhin sachbereichsspezifisch akkurat zwischen Risiken und deren Vorsorge einerseits, Gefahren und deren Abwehr (sowie Vorsorge) andererseits. Denn im Unterschied zum lange etablierten Rechtsbegriff der Gefahr ist ein Risiko eine temporär oder sachlich erweiterte Gefahr, die durch Ungewissheiten bei der Beurteilung von Schadensmöglichkeiten gekennzeichnet ist. Ungeachtet dieses gesicherten Standes dogmatischer Begriffsbildung verwischt der Gesetzgeber des ProdSG mithin die – ohnehin schwierig zu ziehenden – Grenzen zwischen „Risiko“ und „Gefahr“: Weil die Begriffe im ProdSG ersichtlich austauschbar sind, ist das Produktsicherheitsrecht nach wie vor kein Referenzgebiet eines Risikoverwaltungsrechts; denn es sind jeweils konkrete Gefahren, welche dem Regelungsmodell des ProdSG zugrunde liegen, auch wenn dem zeitbezogenen Element des Gefahrbegriffs im ProdSG eine nur untergeordnete Rolle zukommt.

Das produktsicherheitsrechtliche Sonderrecht für
ernste Risiken

Dem ernsten Risiko bzw. der ernsten Gefahr kommt eine bisher unbekannte Sonderrolle innerhalb des ProdSG zu: Dieses qualifizierte Risiko ist zum einen zentrales Tatbestandsmerkmal der neuen produktsicherheitsrechtlichen Befugnisnorm in §26 Abs.4 ProdSG und zum anderen ebenso Dreh- und Angelpunkt zur Aktivierung des europäischen Informationsaustauschsystems namens RAPEX [Rapid Exchange for Information System] wie unverzichtbarer Ausgangspunkt marktüberwachungsbehördlicher Veröffentlichungspflichten.

Die Befugnisnorm des §26 Abs.4 S.1 ProdSG

Die europäisch geprägte Befugnisnorm in §26 Abs.4 S.1 ProdSG verleiht den Marktüberwachungsbehörden die Befugnis, hoheitliche Maßnahmen in Bezug auf – untechnisch gesprochen – gefährliche Produkte zu ergreifen. Konkret hat die Behörde „den Rückruf oder die Rücknahme von Produkten anzuordnen oder die Bereitstellung von Produkten auf dem Markt zu untersagen, wenn diese ein ernstes Risiko insbesondere für die Sicherheit und Gesundheit von Personen darstellen“.

Diese neue Befugnis bot postwendend Anlass für heftige Diskussionen in der Produktsicherheitsrechtswissenschaft: Umstritten ist insbesondere die Frage, ob die Behörden (mit dem Wortlaut der Norm) ausnahmslos in jedem Fall handeln müssen oder ob es nicht unter Berücksichtigung des Vorrangs eigenverantwortlicher und ebenso wirksamer Maßnahmen des betroffenen Wirtschaftsakteurs dabei sein Bewenden haben kann, dessen Tätigkeiten zur Gefahrenabwehr im Rahmen eines Monitorings konstruktiv zu begleiten. Im Ergebnis sprechen hier aus Gründen der Verhältnismäßigkeit (staatlicher Maßnahmen) sowie im Hinblick auf den europarechtlichen Hintergrund in den Art.20 Abs.1, 21 Abs.1, 4 VO (EG) Nr.765/2008 die weitaus besseren Gründe für die zuletzt genannte Ansicht.

Die Information der Öffentlichkeit

Wenn eine Maßnahme nach §26 Abs.4 S.1 ProdSG behördlicherseits ergriffen worden ist, die im Übrigen gemäß §26 Abs.4 S.2 ProdSG „auf der Grundlage einer angemessenen Risikobewertung unter Berücksichtigung der Art der Gefahr und der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts getroffen“ werden muss, werden überdies die zugehörigen Informationen in die Öffentlichkeit getragen, und zwar auf zweierlei Wegen: Zum einen unterrichtet die betreffende Marktüberwachungsbehörde die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) unverzüglich über diese Maßnahme (§30 Abs.1 S.1 ProdSG). Die BAuA wiederum leitet die auf diese Art und Weise eingegangenen Meldungen unverzüglich an die Europäische Kommission und die übrigen Mitgliedstaaten weiter, §30 Abs.4 S.2 ProdSG. Im Ergebnis mündet all dieser Informationsaustausch in das europäische Schnellinformationssystem RAPEX, mittels dessen sich die interessierte Öffentlichkeit Woche für Woche über Produkte informieren kann, von denen ernste Gefahren ausgehen. Hervorzuheben ist, dass dieses System seit dem 1.1.2010 nicht mehr nur für Verbraucherprodukte (B2C-Produkte) gilt: Mit Art.22 der Verordnung (EG) Nr.765/2008 wurde das RAPEX-System auch auf alle übrigen (B2B-)Produkte ausgedehnt, die ernste Gefahren in sich bergen.

Hinzu kommt noch, dass die BAuA die Anordnungen nach §26 Abs.4 S.1 ProdSG öffentlich bekannt macht, §31 Abs.1 S.1 ProdSG. Die BAuA kommt dieser Rechtspflicht dadurch nach, dass sie die Anordnungen auf ihrer Webseite einstellt.

Risikobewertung mittels des RAPEX-Leitfadens

Wann aber geht von einem Produkt ein ernstes Risiko aus? Wer hierzu handhabbare Antworten des Gesetzgebers erwartet, wird enttäuscht: Ein Risiko ist „die Kombination aus der Eintrittswahrscheinlichkeit einer Gefahr und der Schwere des möglichen Schadens“, §2 Nr.23 ProdSG. Ein ernstes Risiko wiederum ist „jedes Risiko, das ein rasches Eingreifen der Marktüberwachungsbehörden erfordert, auch wenn das Risiko keine unmittelbare Auswirkung hat“, §2 Nr.9 ProdSG.

Dass ein Risiko das Produkt der beiden Elemente Schweregrad und Wahrscheinlichkeit ist, ist nichts weniger als banal. Und auch die Definition für das ernste Risiko bleibt bemerkenswert unbestimmt: Denn der Gesetzgeber gibt keine Handreichung für eine belastbare und allseits nachvollziehbare Annäherung an die – rechtlich so bedeutende – Schwelle des ernsten Risikos. Zugunsten des Gesetzgebers ist freilich zu konzedieren, dass die Bestimmung der Grenzlinie zwischen einem nicht-ernsten und einem ernsten Risiko einer dogmatischen Vorabfestlegung kaum zugänglich ist.

Zur Annäherung an den Risikobegriff des ProdSG sind daher die sog. RAPEX-Leitlinien zu Rate zu ziehen. Diese Leitlinien sind als „Leitfaden für die Risikobewertung von Verbraucherprodukten“ Gegenstand der Entscheidung der Europäischen Kommission vom 16.12.2009 (2010/15/EU) und sorgen dafür, dass die Konkretisierung ernster Risiken nicht nur der Kasuistik überlassen wird. Wer sich daran orientiert, bekommt am Ende nicht nur ein klares Ergebnis in Bezug auf die Risiken bzw. Gefahren, die von einem bestimmten Produkt ausgehen. Er bekommt darüber hinaus ein Ergebnis, das europaweit „empfangsfähig“ ist, weil sich die RAPEX-Leitlinien dezidiert und primär an die europäischen Marktüberwachungsbehörden wenden.

Die ausgeklügelte Vorgehensweise des RAPEX-Leitfadens beruht im Kern auf der Bildung von Verletzungsszenarien im Zusammenhang mit dem betreffenden Produkt, die unter Berücksichtigung des kürzesten Wegs zur Verletzung jeweils in einzelne Schritte zerlegt werden. Den einzelnen Schritten werden sodann Wahrscheinlichkeiten zugeordnet, die anschließend mit dem zuvor bestimmten Schweregrad der – in dem jeweiligen Verletzungsszenario – (drohenden) Verletzung (die Bandbreite reicht von Schweregrad 1 bis hin zum Schweregrad 4 für besonders gravierende Folgen) mit einer Tabelle abgeglichen werden, der sich im letzten Schritt das Endergebnis der Risikobewertung entnehmen lässt. Das Ergebnis wird dabei durch einen Buchstaben ausgedrückt: Die Buchstaben E, H, M und N stehen dabei für ernstes (E), hohes (H), mittleres (M) und niedriges (N) Risiko.

Wann ein für Marktüberwachungsmaßnahmen nach §26 Abs.4 ProdSG erforderliches ernstes Risiko vorliegt, lässt sich damit deutlich sagen: Wenn und soweit ein „E“ als Ergebnis aus der lege artis durchgeführten Risikobewertung folgt, dann können die tatbestandlichen Voraussetzungen des §26 Abs.4 ProdSG bejaht werden. Umgekehrt erfüllen die Ergebnisse „N“, „M“ und „H“ selbstredend nicht die tatbestandlichen Voraussetzungen des §26 Abs.4 S.1 ProdSG.

In Bezug auf B2B-Produkte ist zu beachten, dass der RAPEX-Leitfaden aufgrund seines auf Verbraucherprodukte begrenzten Anwendungsbereiches nicht direkt anwendbar ist. Solange indes kein hierauf zugeschnittenes Hilfsinstrument zur Verfügung steht, führt auch insoweit kein seriöser Weg an den Leitlinien vorbei.

 

Dr. Carsten Schucht

Rechtsanwalt, Noerr LLP, München
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