15.12.2012

Grenzen des Nachbarrechtsschutzes

Grundzüge der Planung sind (doch) nicht drittschützend

Grenzen des Nachbarrechtsschutzes

Grundzüge der Planung sind (doch) nicht drittschützend

Die \"Grundzüge der Planung\" dienen nur öffentlichen Interessen und vermitteln keinen Nachbarschutz. | © higyou - Fotolia
Die \"Grundzüge der Planung\" dienen nur öffentlichen Interessen und vermitteln keinen Nachbarschutz. | © higyou - Fotolia

Es war für einige Immobilienbesitzer wie ein Paukenschlag: Mit den Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main (VG Frankfurt a.M., Urt. v. 12.11.2010 – 8 K 3407/09, NVwZ-RR 2011, 229 sowie vom 16.05.2011 – 8 K 3785/10, NVwZ-RR 2011, 810) wurde die in vielen Städten bestehende Befreiungspraxis bei Baugenehmigungen für Großbauvorhaben erheblich eingeschränkt. Das VG Frankfurt am Main hat in den genannten Urteilen Befreiungen für mehrere Bauvorhaben, insbesondere auch für ein Hochhaus, für nichtig erklärt – und die entsprechenden Baugenehmigungen ebenso. Dies wurde damit begründet, dass die Vorhaben nicht streng auf der Grundlage der Festsetzungen geltender Bebauungspläne, sondern im Wege von weitreichenden Befreiungen zugelassen worden waren, um eine möglichst großzügige Grundstücksausnutzung zu ermöglichen. Das VG Frankfurt am Main sah hierin eine erhebliche Abweichung von den Grundzügen der Planung, wodurch das Instrument der Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB eklatant missbraucht worden sei. Im Ergebnis hat das VG Frankfurt am Main Befreiungen und Baugenehmigungen für mehrere Bauvorhaben für nichtig erklärt und dabei die Bedeutung der Planungshoheit betont.

Korrektur durch den VGH Kassel

Diese Rechtskonstruktion hat der VGH Kassel nunmehr in seiner Entscheidung (VGH Kassel, Urt. v. 24.08.2012, 3 A 565/12) als nicht haltbar angesehen. Der VGH Kassel ist der Annahme des Verwaltungsgerichts nicht gefolgt, nach der die angefochtenen Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB rücksichtslos seien, weil bei der rechtlichen Beurteilung nicht nur das Erweiterungsvorhaben, sondern das Gesamtvorhaben einschließlich des Altbestands zugrunde zu legen sei. Demgemäß hat er der Schlussfolgerung des Verwaltungsgerichts, ein Befreiungsbescheid aus dem Jahre 1974 und die auf ihm basierende Baugenehmigung für ein bestehendes Hochhaus seien wegen der erheblichen Überschreitung der festgesetzten Geschossflächenzahl nichtig, eine Abfuhr erteilt. Die Nichteinhaltung der Grundzüge der Planung stellt nach Auffassung des VGH Kassel keinen Verstoß gegen das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme dar. Der Senat hat klargestellt, dass das Verwaltungsgericht mit seiner weitreichenden Entscheidung in der Sache den Bereich des subjektiven Rechtsschutzes verlassen hat. Ein Nachbar, der sich gegen eine Baugenehmigung wehrt, kann sich nur dann auf Abwehrrechte berufen, wenn die Vorschriften, die er als verletzt ansieht, auch seinem Schutz zu dienen bestimmt, mithin nachbarschützend sind.

Ein solches Nachbarschutz vermittelndes Recht ist im Rahmen der Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB jedoch nur der Anspruch auf Würdigung nachbarrechtlicher Interessen, nicht aber die objektiv angelegte Einhaltung der Grundzüge der Planung. Der klagende Nachbar war deshalb nicht berechtigt, sich gegen das im Wege einer Befreiung im Jahre 2009 genehmigte Vorhaben zu wenden.


Zustimmung gilt auch für Rechtsnachfolger

Er muss sich zudem am Inhalt einer zum Zeitpunkt der erstmaligen Errichtung des Hochhauses zwischen den seinerzeitigen Eigentümern abgeschlossenen Nachbarzustimmung festhalten lassen. An eine solche Zustimmung sind aufgrund der Grundstücksbezogenheit nachbarlicher Abwehrrechte auch die Rechtsnachfolger im Grundstückseigentum gebunden.

Außerdem hat der klagende Nachbar sein Grundstück mit seiner Situationsbelastung durch das benachbarte, 1974 errichtete Hochhaus erworben, was jedenfalls nach Auffassung des VGH Kassel eine Einschränkung seiner nachbarrechtlichen Abwehrrechte zur Folge hat. Der Nachbar kann sich daher nicht gegen den Bestand von Gebäuden wenden, deren Baugenehmigung von seinen Rechtsvorgängern nicht angegriffen worden ist.

Grundzüge der Planung gewähren keinen Nachbarrechtsschutz

Der VGH Kassel hat im Einzelnen geprüft, ob es weitere Ansatzpunkte für den Bestand subjektiver Rechte geben kann, auf die sich der Nachbar womöglich zu Recht beruft. Im Ergebnis hat der VGH Kassel dies jedoch verneint. Dabei hat er auch festgestellt, dass nicht nur die Grundzüge der Planung keinen Nachbarrechtsschutz ermöglichen, sondern auch Vorschriften der Bauordnung über die Verkehrssicherheit (§ 15 HBO) oder Vorschriften zu baulichen Anlagen an Straßen (§ 23 Abs. 1 S. 1 HStrG) nicht geeignet sind, Nachbarschutz zu vermitteln. Nach Auffassung des VGH Kassel kommt es insofern auch nicht darauf an, ob die von dem Verwaltungsgericht für nichtig erachtete „alte“ Baugenehmigung aus dem Jahre 1974 zu Recht erteilt wurde oder nicht; der Nachbar kann sich nicht auf die im Urteil des Verwaltungsgerichts herangezogenen objektiv-rechtlichen Beurteilungskriterien berufen, solange kein Ansatzpunkt für die Verletzung drittschützender Normen vorliegt.

Komplette Kehrtwende

Mit der Entscheidung des VGH Kassel rudert die Rechtsprechung in erheblicher Weise zurück: Nachdem zunächst zu befürchten war, dass unter Berufung auf eine Verletzung der Grundzüge der Planung Nachbarn künftig viel leichter Baugenehmigungen für Altbauten auf den Prüfstand stellen könnten, hat der VGH Kassel klargestellt, dass im Bereich verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes in zulässiger Weise nur eine subjektive Rechtskontrolle erfolgt, für die hohe Maßstäbe anzusetzen sind. Die Verletzung von Rechtsvorschriften und -grundsätzen, die ausschließlich im Interesse der Allgemeinheit anzuwenden sind, kann der Nachbar nicht rügen. Diese Klarstellung wird bei vielen Eigentümern von Bestandsimmobilien und Projektentwicklern für ein Aufatmen sorgen, da diese nun nicht mehr die Gefahr einer vollständigen Baurechtswidrigkeit ihrer Altbauten als Ergebnis objektiver Rechtskontrolle fürchten müssen. Gleichermaßen werden die Erwartungshaltungen von Grundstücksnachbarn gedämpft, die sich womöglich neue Ansatzpunkte für ein Vorgehen gegen bestehende Großbauvorhaben erhofft hatten.

Die Entscheidung des VGH Kassel war in dieser Klarheit jedoch zu erwarten, nachdem der Senat in dem parallel laufenden Eilverfahren bereits mit Beschluss vom 01.03.2012 (3 A 1330/11) erhebliche Kritik an der Reichweite der erstinstanzlichen Entscheidung deutlich gemacht hat.

Bei einem Grundsatz, den das Verwaltungsgericht betont hat, bleibt es jedoch auch nach der Korrektur durch den VGH Kassel: Baugenehmigungen für Hochhäuser und andere Großbauvorhaben setzen wegen der gravierenden Auswirkungen u.a. auf Nachbarschaft, Ortsbild, Gewährleistung der Belüftung und Lufthygiene, bioklimatischer Effekte der Verdichtung, Verkehr, Gesamtlärmemissionen nach § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB „passgenaue“, denen eines vorhabenbezogenen Bebauungsplans mit konkretem Objektbezug vergleichbare, Festsetzungen in einem qualifizierten Bebauungsplan voraus. Eine Überprüfung der bauplanungsrechtlichen Verhältnisse ist daher – ebenso wie die Feststellung der Genehmigungssituation – bei jedem Objekterwerb oder Bestandsumbau ratsam.

 

Prof. Dr. Stefan Pützenbacher, Notar

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Kanzlei Kapellmann und Partner, Frankfurt am Main; Honorarprofessor für Baurecht an der Frankfurt University of Applied Sciences
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