15.12.2012

Behutsame Öffnung für Partizipation

Interview mit Prof. Dr. Markus Möstl, Universität Bayreuth

Behutsame Öffnung für Partizipation

Interview mit Prof. Dr. Markus Möstl, Universität Bayreuth

Eine moderne Demokratie verlangt neue Wege der Bürgerbeteiligung und des Dialogs. | © LUCKAS - Fotolia
Eine moderne Demokratie verlangt neue Wege der Bürgerbeteiligung und des Dialogs. | © LUCKAS - Fotolia

PUBLICUS: Zu Beginn zwei grundsätzliche Fragen: Es wird gerne unterschieden zwischen Wissenschaft und Praxis. Dabei wird nicht selten eine gewisse Abgehobenheit der Wissenschaft gegenüber den Bedürfnissen der Praxis insinuiert. Worin sehen Sie allgemein die Aufgabe(n) der Rechtswissenschaft und in welchem Verhältnis sehen Sie die rechtswissenschaftliche Forschung zur praktischen Rechtsanwendung?

Prof. Möstl: Die Situation in Deutschland ist – gerade auch im internationalen Vergleich – von einer besonders engen Verbindung von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis geprägt: Wissenschaftler arbeiten hier praxisorientierter als anderswo; im Gegenzug wird die Wissenschaft in der Praxis auch weitaus stärker gehört und herangezogen, als dies anderswo der Fall ist. Dass dies so ist, liegt an einigen charakteristischen Besonderheiten: dem berufsprägenden Staatsexamen, das von Wissenschaft und Praxis gemeinsam veranstaltet wird, der soliden wissenschaftlichen Ausbildung der Juristen an den Universitäten und der Bedeutung der Promotion auch für erfolgreiche Praktiker, sowie an einer Publikationskultur, in der Wissenschaftler und Praktiker bei den zentralen Werken und Publikationsorten des Fachs (Kommentaren, Fachzeitschriften etc.) typischerweise zusammenarbeiten. All das ist gut eingespielt, und ich trage gern das meine dazu bei, dass es so bleibt. Ich wünsche mir keine Wissenschaft, die sich in der Sorge um ihren Selbststand in eine nur noch theoretische oder reflektierende Perspektive flüchtet und gerade dadurch ihren Einfluss auf die Praxis verliert. Andererseits muss klar sein, dass sich Wissenschaft nicht in ihrer Bedeutung für die Praxis erschöpft und auch jenseits konkreter Praxisrelevanz ihren Eigenwert hat. Sich die Themen unabhängig von konkreten beruflichen Anfragen suchen zu dürfen, ist ein wichtiger Mehrwert der Wissenschaft. Das Privileg, das systematische Nachdenken und Schreiben über das Recht zum Beruf machen zu dürfen, verpflichtet Wissenschaftler zu einer besonderen Gründlichkeit der Bearbeitung.

PUBLICUS: Sie haben Anfang dieses Jahres ein Buch mit dem Titel „Bundesstaat und Staatenverbund“ veröffentlicht, das Grundfragen des Staats- und Verfassungsrechts im Föderalismus behandelt. EU-Justizkommissarin Viviane Reding äußerte Ende Juni, dass die Zeit für eine europäische Föderation gekommen sei („The time has come for a European Federation“). Wenn man den deutschen Bundesstaat und den europäischen Staatenverbund miteinander vergleicht – gibt es da vielleicht jetzt schon auffällige Strukturähnlichkeiten? Und wo liegen die signifikanten Unterschiede?


Prof. Möstl: Ich möchte auf dieses schwierige Fragenbündel in zwei Schritten antworten: Was zunächst die These betrifft, gerade jetzt sei die Zeit für einen großen Integrationsschritt und die Schaffung einer bundesstaatsähnlichen Föderation in Europa gekommen, bin ich eher skeptisch. Europa hat zur Zeit eine große Krise (Euro- und Staatsschuldenkrise) zu überstehen, die die Kräfte des Zusammenhalts bereits jetzt bis aufs Äußerste anspannt und uns täglich vor Augen führt, wie fragil das europäische Projekt nach wie vor ist. Überall (und in einem zum Teil erschreckenden Maß auch in Deutschland) sind Ressentiments gegenüber Nachbarstaaten und antieuropäische Stimmungen hochgekocht. Ich glaube nicht, dass es ein geeigneter Weg aus der Krise ist, gerade jetzt den großen Wurf zu wagen und einen europäischen Bundesstaat zu schaffen. Die Gefahr wäre jedenfalls riesig, dass ein so grandioses Projekt ebenso grandios scheitert (man denke an den gescheiterten Verfassungsvertrag) und dass überdies, da nicht alle Länder einen solchen Weg mitgehen könnten (man denke an Großbritannien), eine gefährliche Spaltung der Union drohte. Was jetzt zuallererst nottut, ist Europa in einer Weise durch die Krise zu führen, die ein Auseinanderbrechen verhindert. Für ein Nachdenken über die weitere Zukunft ist dann noch genug Zeit. Die europäische Integration ist ein präzedenzloser Vorgang, der sich in vielen, teilweise verschlungenen Wegen und Schritten entwickeln und bewähren muss und nicht am Reißbrett geplant werden kann. Wir sollten am bisherigen Weg des evolutionären Voranschreitens festhalten, anstatt auf den großen Wurf zu hoffen.

Eine andere Frage – die allerdings eher wissenschaftlich als politisch von Interesse ist – ist es, dass die Europäische Union bereits jetzt eine (wenngleich nicht zu einem Bundesstaat verdichtete) Föderation ist und dass wir gut daran täten, sie stärker im Lichte unserer eigenen föderativen Erfahrungen zu begreifen; in meinem Buch habe ich versucht, hierzu einen Beitrag zu leisten. Gerade Deutschland, in dem der Föderalismus (weit mehr als in anderen Staaten) „zuhause“ ist, müsste an sich in der Lage sein, das was sich im Prozess der europäischen Integration vollzieht, zu begreifen und richtig einzuordnen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir diesen „Heimvorteil“ wirklich hinreichend nutzen. Nur eine Wissenschaft, die bereit ist, den europäischen Staatenverbund mit dem Bundesstaat (z.B. deutscher Prägung) zu vergleichen, wird auch in der Lage sein, verlässlich ihre bleibenden Unterschiede zu benennen.

PUBLICUS: Die EU sieht sich immer wieder mit dem Einwand konfrontiert, sie leide unter einem Demokratiedefizit. Halten Sie das für nachvollziehbar? Wie erklären Sie sich diese Wahrnehmung?

Prof. Möstl: Die Rede vom Demokratiedefizit der Union ist ein Beispiel für meine soeben aufgestellte These, die darauf dringt, die Union stärker im Lichte unserer eigenen föderativen Erfahrungen zu begreifen. Wenn man die Union allein am Idealbild des Einheitsstaates misst, hat sie natürlich ein Demokratiedefizit, schon allein, weil sie über kein mit vollen Rechten ausgestattetes und nach den Regeln strikter Wahlgleichheit zusammengesetztes Parlament verfügt (vielmehr sind die kleinen Staaten über- und die großen unterrepräsentiert) und weil den Exekutiven der Mitgliedstaaten (im Rat) ein großes Gewicht bei der Gesetzgebung zukommt. Sehr fraglich ist indes, ob es richtig ist, föderative Gebilde wirklich in dieser Weise an einheitsstaatlichen Denkmustern zu messen. Müssten nämlich nicht gerade wir Deutschen, wenn wir ehrlich sind, zugeben, dass auch unsere eigene föderative Ordnung (wenngleich weniger stark ausgeprägt als in der EU) selbst über ein beträchtliches „Demokratiedefizit“ verfügt? Denn ist es nicht auch bei uns so, dass ein von der deutschen Volksvertretung (dem Bundestag) beschlossenes Gesetz im Bundesrat (d.h. von den Exekutivspitzen der Länder) gestoppt werden kann und ist es nicht so, dass bei diesem Vorgang den im Bundesrat überrepräsentierten kleinen Ländern ein verhältnismäßig größeres Gewicht zukommt als den im Bundesrat unterrepräsentierten großen Ländern? Das deutsche Vergleichsbeispiel zeigt, dass die Dinge im Föderalismus komplizierter liegen als im Einheitsstaat. Notwendig ist es insbesondere, sich vor Augen zu führen, dass die umrissenen vermeintlichen Defizite auf der anderen Seite von einem greifbaren demokratischen Mehrwert aufgewogen werden, den föderative Ordnungen bieten: namentlich die Vervielfältigung der Einflussstränge durch Wahlen auf mehreren Ebenen, der Aufbau einer lebendigen Demokratie von unten nach oben sowie das doppelte Vertretensein der Bürger auf der föderativen Ebene (sowohl über die direkt gewählten Parlamentarier in Bundestag/Europäischem Parlament als auch über die dezentral bestellten Exekutivspitzen in Bundesrat/Rat). Alles in allem glaube ich nicht, dass es gerechtfertigt ist, föderative Gebilde als demokratisch defizitär abzukanzeln, so als könne echte Demokratie nur im Einheitsstaat verwirklicht sein. Wichtig ist vielmehr, dass demokratische Ordnungen eine ihrer je spezifischen Eigenart gemäße Form der Demokratie entwickeln. Hier mag in Europa noch einiges verbesserungsfähig sein; die Rede vom „Demokratiedefizit“ trifft jedoch nicht den Kern der Sache.

PUBLICUS: Eines Ihrer Forschungsprojekte widmet sich der staatlichen „Sicherheitsgewährleistung im Wandel“ und dem Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit. Welches sind die markantesten Aspekte dieses Wandels? Inwiefern beeinflusst dieser Wandel die dogmatische Struktur des Polizeirechts? Können Sie uns ein Beispiel geben, welche Auswirkungen ein solcher dogmatischer Wandel auf die Vollzugspraxis hat?

Prof. Möstl: Ich sehe vor allem drei Entwicklungslinien, die ich in meiner Habilitationsschrift analysiert habe und die mich seither laufend beschäftigen: Zum ersten die Tendenz, das Polizeirecht nicht allein von den Grundrechten als Abwehrrechten her zu begreifen, sondern es auch im Lichte der grundrechtlichen Schutzpflichten zu sehen; dogmatische Konsequenz ist z.B. die zunehmende Konturierung des Rechts auf polizeiliches Einschreiten. Zum zweiten der gewaltige Aufschwung des polizeilichen Informations-/Datenerhebungsrechts (das inzwischen in den Polizeigesetzen fast einen größeren Raum einnimmt als die klassischen Standardbefugnisse), d.h. die Ergänzung des klassischen Gefahrenabwehrrechts um ein der Gefahrenabwehr vorgelagertes Gefahraufklärungsrecht; dogmatische Konsequenz ist die teilweise Vorverlagerung polizeilicher Befugnisse vor die Gefahrenschwelle, die der dogmatischen Konturierung und rechtsstaatlichen Einhegung bedarf. Zum Dritten das zunehmende Hervortreten eines europäischen Polizeirechts in einem von offenen Grenzen gekennzeichneten europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.

PUBLICUS: Sie sind auch Autor eines Kommentars zur Verfassung des Freistaates Bayern. Die Bayerische Verfassung (BV) zeigt sich plebiszitären Elementen gegenüber sowohl auf kommunaler als auch auf Landesebene recht aufgeschlossen. Wie sind Sie plebiszitären Elementen auf Bundesebene gegenüber eingestellt?

Prof. Möstl: Diese Frage hat mich in den vergangenen Monaten stark beschäftigt, da ich auf der diesjährigen Staatsrechtslehrertagung in Kiel im Oktober zum Thema „Elemente direkter Demokratie als Entwicklungsperspektive“ vorzutragen hatte (Obertitel der Tagung: „Repräsentative Demokratie in der Krise?“). Aufgeworfen ist ein weites Feld von Argumenten für und wider mehr direkte Demokratie, das ich hier natürlich nicht abschreiten kann. Alles in allem meine ich, dass in der Tat auch im Bund eine behutsame (d.h. an substanzielle Hürden gebundene und in der Tendenz im Vergleich zu den Ländern eher restriktivere) plebiszitäre Öffnung zu befürworten ist. Unsere repräsentative Ordnung braucht (exzeptionelle) plebiszitäre Verfahren als Ventil, um die merklich gestiegene partizipative Energie der Gesellschaft in Bahnen zu lenken, die ihr nicht schaden: Wenn die Legitimität der von den Repräsentativorganen getroffenen Entscheidung, wie immer häufiger der Fall, von aufgebrachten „Wutbürgern“ und selbstherrlichen Massenmedien bestritten wird, ist es allemal besser, zu einem plebiszitären Verfahren zu greifen, das alle Bürger in die Verantwortung nimmt, als dem lautstarken Protest einer elitären Zivilgesellschaft nachzugeben, obwohl keiner weiß, ob dieser Protest wirklich eine Mehrheit im Volk hinter sich hat (man denke an Stuttgart 21, wo der Protest eine solche Wucht entwickelt hatte, dass sich die Politik zunächst nur in eine für die Würde der Demokratie peinlichen Schlichtung zu flüchten wusste und in der es erst eine Volksabstimmung war, die, indem sie die von den Repräsentativorganen getroffene Entscheidung im Ergebnis stützte, die Politik einigermaßen zu rehabilitieren und für Befriedung zu sorgen vermochte). Außerdem glaube ich, dass plebiszitäre Elemente, ohne freilich ein Allheilmittel zu sein, die Lebendigkeit und Responsivität unserer repräsentativen Ordnung steigern und so zu ihrer Akzeptanz beitragen können. Die Bundesrepublik ist sicher nicht schlecht damit gefahren, dass sich das Grundgesetz 1949 zunächst ganz für die Konsolidierung der repräsentativen Ordnung und gegen plebiszitäre Elemente entschied. Unter gewandelten Ausgangsbedingungen und angesichts der positiven Erfahrungen in den Ländern meine ich indes, dass es an der Zeit ist, diese Entscheidung zu überdenken.

PUBLICUS: Hielten Sie denn Plebiszite auf Bundesebene nach derzeitiger Verfassungslage (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG: „[…] und Abstimmungen […]“) für möglich?

Prof. Möstl: Mit der ganz herrschenden Meinung bin auch ich der Ansicht, dass die Einführung plebiszitärer Elemente auf Bundesebene der Verfassungsänderung bedarf.

PUBLICUS: Seit Januar 2011 gehören Sie zu den Mitherausgebern der „Bayerischen Verwaltungsblätter“, des Leitmediums für öffentliches Recht und öffentliche Verwaltung in Bayern. Darüber hinaus sind Sie Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Publicus. Welches sind für Sie die zentralen Herausforderungen, denen sich die öffentliche Verwaltung und das öffentliche Recht stellen müssen?

Prof. Möstl: Ich bin mir nicht sicher, ob sich diese Herausforderungen wirklich mit wenigen Großformeln einfangen lassen. Das öffentliche Recht als in hohem Maße „politisches Recht“ ist seit jeher und weitaus stärker als das Zivil- oder das Strafrecht einem steten Wandel unterworfen. Aufgabe der Wissenschaft vom öffentlichen Recht und der öffentlichen Verwaltung ist es, diesen Wandel in einer die Konsistenz, Vernünftigkeit und verlässliche Handhabbarkeit des Rechts sichernden Weise mitzugestalten sowie Tradition und Wandel in einem guten Sinn in der Balance zu halten.

PUBLICUS: Sie sind auch Mitglied der „Forschungsstelle für deutsches und europäisches Energierecht (FER)“ an der Universität Bayreuth. Welche Überlegungen führten zur Gründung des Instituts? Wo liegen die Forschungsschwerpunkte?

Prof. Möstl: Die Bayreuther Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät hat einen starken wirtschaftsrechtlichen Schwerpunkt und verfügt über ein enges Netz wirtschaftsrechtlich ausgerichteter Forschungsstellen. Die energierechtliche Forschungsstelle ist nur ein Beispiel hierfür und ich selbst bin Mitglied in mehreren solchen Verbünden. Seit meiner Dissertation, in der es um die Folgen der Privatisierung der Deutschen Bundespost ging, beschäftige ich mich mit Fragen der Regulierung von Märkten der Daseinsvorsorge; im Maunz/Dürig kommentiere ich z.B. die Vorschriften über Post, Telekommunikation und Bahn. In diesem Kontext ist für mich auch die Beschäftigung mit energierechtlichen Fragen von Interesse.

PUBLICUS: Zum Schluss noch zwei persönliche Fragen: Wie hat Sie Ihr akademischer Lehrer, Prof. Dr. Peter Badura, beeinflusst? Wie fanden Sie Ihren Weg zum öffentlichen Recht?

Prof. Möstl: Mein akademischer Lehrer, Herr Badura, ist mir, was die Breite seiner Interessen, die Unparteilichkeit, die Ausgewogenheit und den Scharfsinn seines Urteils sowie die Leidenschaft für den Beruf des Hochschullehrers anbelangt, stets Vorbild gewesen. Seine Lehre, sein Denken und Schreiben haben mich tief geprägt.
Innerhalb der juristischen Fächer haben mich diejenigen, die mit dem Staat und den öffentlichen Dingen zu tun haben, von Beginn an am meisten interessiert, und so war es nur natürlich, dass ich den Weg zum öffentlichen Recht fand. Dagegen fiel die Entscheidung, in die Wissenschaft zu gehen, erst relativ spät; ich hatte mir stets auch eine Tätigkeit in der öffentlichen Verwaltung vorstellen können.

PUBLICUS: Herr Prof. Möstl, herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Klaus Kohnen

Ass. iur., Gründer und Herausgeber, Bayerischer Rechts- und Verwaltungsreport (BayRVR), München
 

Prof. Dr. Markus Möstl

Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Bayreuth
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