25.03.2020

Matthias Fahrner: „Sicheres Staatsschutz-Allgemeinwissen in Behörden und Justiz tut Not“

PUBLICUS-Interview

Matthias Fahrner: „Sicheres Staatsschutz-Allgemeinwissen in Behörden und Justiz tut Not“

PUBLICUS-Interview

Fahrner: „Sicheres Staatsschutz-Allgemeinwissen in Behörden und Justiz tut Not“ | © Sven Grundmann - Fotolia
Fahrner: „Sicheres Staatsschutz-Allgemeinwissen in Behörden und Justiz tut Not“ | © Sven Grundmann - Fotolia

Führt der Schutz unseres Staates ein Schattendasein bei der Strafverfolgung? Der PUBLICUS sprach darüber mit dem Richter, Autor und Experten für Staatsschutzstrafrecht, Dr. jur. Matthias Fahrner, M.A.

PUBLICUS: Der Ton in Staat und Gesellschaft ist in den letzten Jahren rauer geworden. Haben Sie den Eindruck, dass der Respekt vor dem Staat und die Achtung vor der freiheitlich demokratischen Grundordnung verloren geht?

Fahrner: Aus meiner Zeit als Richter, Staatsanwalt usw. kann ich dieses Gefühl vieler derjenigen, die unserem Staat dienen, sehr gut nachvollziehen. Selbst an der Universität erlebe ich, dass Normen im Umgang schlicht immer weniger bekannt und erlernt sind, dass die Selbstwertzuschreibung ebenso steigt, wie Kritik-, Kommunikations- und Sozialfähigkeiten bei vielen sinken, und dies erst am Anfang scheint. Auch wenn es sehr konservativ klingt: Eine wichtige Ursache scheint mir, dass diese Fähigkeiten, sowie Werte und Normen außerhalb von Zwangssystemen immer weniger vermittelt und verinnerlicht werden.


PUBLICUS: Was sind Ihrer Ansicht nach die Ursachen dafür?

Fahrner: Das hat mit dem Zurückdrängen traditioneller Werteinstitutionen seit den 1968ern ebenso zu tun wie mit den, an sich sehr positiven, Entwicklungen des integrierenden Pluralismus: Häufig geht die Verhaltenssicherheit im Umgang miteinander verloren, führt zu Überforderungen, Angst vor dem Anderen und Aggression. Auch viele früher eherne Maßstäbe der Nachkriegs-BRD werden immer fremder. Dazu kommen die Erfahrungen der letzten Dekaden mit zunehmendem ökonomischen Egoismus, Sozialdarwinismus und Utilitarismus von Eliten und Idolen bis in alltägliche Kreise, in der intrinsische und soziale Motive ausgenutzt werden oder schon in den Kalkülen nicht mehr vorkommen. Öffentlichkeit und Politik reagieren auf die subjektive Unsicherheit mit immer expansiveren Straf- und Verwaltungsnormen als formeller Verhaltenssteuerung, die aber die Rechtsanwendung überfordert und die Bürgerinnen und Bürger immer weniger erreicht. Autorität und Akzeptanz staatlicher Repräsentanten sinken auch damit.

Tatsächlich scheinen sich „Blasen“ oder, hochtrabender: „autopoietische Systeme“, zwischen Eliten- und Basisgruppendiskursen eingerichtet zu haben, die für einander kein Verständnis mehr erzeugen können. Das hat schon immer Raum für Populisten, Endzeitprediger und einfache „Lösungen“ geschaffen. Die freiheitlich demokratische Grundordnung bleibt zwar bei vielen emotionaler Anker, ihr Inhalt ist aber unbekannt. Sie wird dann, wie in den USA, nicht selten zum Ausgang eines diffusen Verfassungspatriotismus, an dem gemessen „die da oben“ versagen, sodass ihnen widerstanden werden darf und muss.

Demgegenüber steht schlicht die immer weiter eskalierende Grundablehnung „des Systems“. Zudem haben vielfältige Gruppen, die unser freiheitlich demokratisches Gemeinwesen ablehnen und angreifen, in den letzten 20 Jahren des „schlanken Staates“ in der Fläche zu viel Raum bekommen, von Preppern und Reichsbürgern über Islamisten, Rechtsextremisten u.v.m. bis zu bizarren Logiken folgenden Terroristen, weil Ressourcen und Schwerpunkte nicht richtig eingesetzt wurden. Über digitale Medien konnten Indoktrinationen, Vereinigungen und Fehlwahrnehmungen von Unterstützung erfolgen, die in funktionierenden örtlichen Gemeinschaften mit Sozialkontrolle unmöglich waren.

PUBLICUS: Führt vor diesem Hintergrund der Schutz unseres Staates inzwischen sogar ein Schattendasein, da Straftaten gegen die Bundesrepublik nicht mit dem gebotenen Nachdruck verfolgt werden?

Fahrner: Leider aufgrund der Sachlage ist der Staatsschutz aus einem etwas gut eingerichteten Schattendasein nach Abklingen von RAF und DDR-Aktivitäten mittlerweile sehr im Fokus von Verantwortlichen, Politik und Öffentlichkeit und damit in den Kernbereichen sicher auf der Höhe der Zeit. Das große Manko ist es, dass den Strategien der Eskalation, Rekrutierung und Macht-Raum-Gewinnung die allgemeine Strafrechtspflege und Verwaltung, Jugend- und Amtsgerichte und die Jugend- und Ordnungsbehörden entgegentreten müssen und dafür oft ungenügend gerüstet scheinen.

PUBLICUS: Insbesondere Paragraph 130 StGB – Volksverhetzung – scheint von den Strafverfolgungsbehörden nicht gerne angewendet zu werden: Können Sie diese Einschätzung bestätigen?

Fahrner: Ich glaube, die Anwendung von Paragraph 130, wie übrigens auch der Paragraphen 86 und 86a StGB, zeigt exemplarisch die große Unsicherheit der Praxis jenseits des spezialisierten polizeilichen und justiziellen Staatschutzes. Angesichts der heutigen „Schlagzahlen“ der Fallbearbeitung scheint kaum Raum für eine Einarbeitung in den Bereich, der leider häufig als „Alltagskriminalität mitschwimmt“. Gleichwohl haben nicht nur viele Biografien von Terroristen, z.B. des so genannten „NSU“, gezeigt, dass diese Propagandastraftaten, aber auch ihre ineffektive Sanktionierung durch Jugend- und Amtsgerichte sowie Staatsanwaltschaften häufig am Anfang von Eskalationskarrieren standen.

PUBLICUS: Warum ist das so?

Fahrner: Da scheint manchmal der Zweifelsgrundsatz falsch verstanden zu werden und auf sehr früher Ebene der Ermittlungsverfahren z.B. aus dem Anfangsverdacht der genannten Delikte nur eine Beleidigung oder ähnliches verfolgt zu werden, mit der Folge auch für das weitere Ausblenden etwa in der Kriminalstatistik.

PUBLICUS: Der Volksverhetzungstatbestand wird in Teilen der Lehre kritisch bewertet. Er sei zu unbestimmt und leiste politisch einseitiger Rechtsanwendung Vorschub. Handelt es sich hierbei um eine berechtigte Kritik?

Fahrner: Vor allem hier wirkt sich aus, dass seit langem ein stimmiges strafdogmatisches Konzept im Staatsschutz völlig fehlt. Die grundlegende Rechtsgutslehre ist in sich stark zersplittert, Delikte zum öffentlichen Frieden oder sonst zum Schutz des Gemeinwesens sind ungelöster Rand-, Sonder- und Störfall. Es braucht dringend eine systematische Klärung auch unter gesetzlicher Übernahme der Vorgaben des BVerfG, wie wir gleichzeitig wirksam die freiheitlich demokratische Grundordnung schützen – und gegen diesen Schutz wiederum bewahren können, und welchen Formen der Schaffung von „Macht(t)räumen“ Extremer z.B. gegenüber Minderheiten wir wirksam Einhalt gebieten müssen und eben auch können.

Im Übrigen sind, neben offenkundigen Bestrebungen von rechtsradikaler Seite, zu einer Entkriminalisierung und Relativierung einer schutzlosen Demokratie wie in Weimarer Zeiten zurückzukehren, meines Erachtens zwei falsche Einflüsse zu beobachten: Die eine Richtung versucht – durchaus in guter Absicht zum Freiheitsschutz – bewusst oder unbewusst, angloamerikanische Strafdogmatik in das deutsche Recht zu übernehmen. Die dort völlig andere Verankerung der Meinungsfreiheit und des neoliberalen Schadensprinzips ist unserem Grundgesetz als wert- und wehrhafter Verfassung wesensfremd und würde bei uns zu einem massiven Abbau des Strafrechtsschutzes führen. So werden die genannten Delikte als „Gefühlsverletzung“ und damit ihre Opfer banalisiert und diskreditiert, statt nötig gerade durch das Strafrecht deutlich zu machen, dass der Schutz von Minderheiten und damit der Menschenwürde von allen durch den demokratischen Rechtsstaat wesensnotwendig und Verfassungsgebot des Art. 1 Abs. 1 GG („zu achten und zu schützen“) ist.

Andererseits scheint oft ein „östlicher Trend“, mit dem Wesen der streitbaren werthaltigen europäischen Demokratie zu fremdeln und eher an die Traditionen vor der sozialistischen Diktatur anzuknüpfen. Wertvorstellungen und Rechtsmodelle werden reaktiviert, die rein national, an einer fiktiven Homogenität und formellen „Volksmehrheiten“ ausgerichtet sind, egal wie verfälscht sie politisch gesichert werden. Die komplexen Prozesse des westlichen Pluralismus konnten hier vielfach noch nicht nachvollzogen werden und erzeugen häufig Gegenreaktionen nach Überschaubarkeit, in der dann z.B. Paragraph 130 wesensfremd als „Opferschutz“ der deutschen Mehrheit verbogen werden soll. Gleiches findet sich auch z.B. in Polen bei der Strafbarkeit der Shoa-/Holocaust-Leugnung, wenn nicht mehr deren Leugnung, sondern die Erörterung von Mitschuld kriminalisiert wird.

PUBLICUS: Welche Änderungen am Volksverhetzungstatbestand halten Sie für notwendig?

Fahrner: Der Tatbestand ist nach mehrfachen Erweiterungen zu komplex. Zu allem sind die ausgeprägten Auslegungen des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrechtsschutz, wie etwa die Wunsiedel-Entscheidung, zu beachten. Den Tatbestand dahingehend zu bereinigen, wäre möglich, nötig und würde zahllosen Rechtsanwendern im Straf- und inzident Verwaltungsrecht sehr helfen.

PUBLICUS: Welche weiteren Straftatbestände bedürften zudem größerer Aufmerksamkeit – in der Öffentlichkeit und in der Strafverfolgung?

Fahrner: Bei Betrachtung der „Resilienz“ unserer Demokratie: Die freie und faire Demokratie braucht eine unabhängige Justiz, diese wiederum eine wirksame und wachsame Öffentlichkeit gegen legalistische Angriffe durch populistische Gesetzgebungsmehrheiten. Auch bei uns bestehen die wohl gefährlichsten Lücken beim manipulativen Missbrauch marktbeherrschender Medienmacht, wie sie etwa in Russland, der Türkei oder andere Staaten die Demokratie zu einer „gelenkten“ oder „simulierten“ geformt haben. Weiterhin sind vor allem die „Vorwahlen“ in den Parteien für Manipulationen überaus angreifbar. Beides sind indes Themen, die der deutsche Gesetzgeber kaum anfassen möchte. Ansonsten muss vor allem über die bereits genannten Propagandadelikte die Breitenbildung der Rechtsanwendenden, Lehrkräfte und Öffentlichkeit dringend verbessert werden, die mit jenen weiten Bevölkerungskreisen zu tun haben, aus denen der Extremismus Unterstützung behauptet als auch mögliche Mörder zuerst rekrutiert. Es ist überaus kurzsichtig und gefährlich, dass diese Delikte gezielt aus der allgemeinen Justiz- und Verwaltungsausbildung herausgenommen sind.

PUBLICUS: Wie lautet Ihre Prognose: Wird angesichts einer wachsenden politischen Radikalisierung, die wir gerade erleben, auch das Thema Staatsschutz an Bedeutung gewinnen oder eine andere Bewertung erfahren?

Fahrner: Ich bin sozusagen selbst ein Produkt dieser Entwicklungen, die uns sicher das Jahrzehnt weiter beschäftigen werden. Ich sehe einen sehr hohen Wissensbedarf, der praktisch alle Teile der Rechtspflege und Verwaltung erfasst, auch im Kommunal- oder Zivilrecht. Es braucht verlässliches Grundwissen darüber, wann die Grenzen des Vertretbaren gegen Rechtsstaat, Demokratie und Menschenwürde überschritten sind, und wie dann unser Gemeinwesen gegen diese Angriffe zu verteidigen ist. Nur so werden wir es in dieser friedlichen, freiheitlichen und fortschrittlichen Form gemeinsam zusammenhalten können.

 

Dr. jur. Matthias Fahrner, M.A.
Dr. jur. Matthias Fahrner, Ministerialrat a.D., hat als Richter am Amts- und Landgericht, als Staatsanwalt im Bereich von IT-Delikten, als Beauftragter des Innenministeriums Baden-Württemberg, als stellvertretender Referatsleiter im Bundesministerium der Justiz, sowie in verschiedenen parlamentarischen und exekutiven Gremien, vor allem zum Rechtsextremismus und -terrorismus gearbeitet. Aktuell lehrt er an der Universität Konstanz als abgeordneter Praktiker im Fachbereich Rechtswissenschaft.

 

Marcus Preu

Ltg. Lektorat und Redaktion, Rechtsanwalt
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