20.03.2020

Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 StGB vom 26.02.2020

Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 StGB vom 26.02.2020

Bei rechtspolitischen Diskussionen in bioethischen Fragen gibt es keinen geraden Weg. | © muenchmax24h - Fotolia
Bei rechtspolitischen Diskussionen in bioethischen Fragen gibt es keinen geraden Weg. | © muenchmax24h - Fotolia

Das BVerfG hat § 217 StGB (Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung) in toto für verfassungswidrig und nichtig erklärt und auch für eine verfassungskonforme Auslegung keinen Spielraum gesehen.

217 StGB: Strafbarkeit geschäftsmäßiger Förderung der Selbsttötung

Im Jahr 2015 hatte der Deutsche Bundestag nach langer und kontroverser Diskussion eine Regelung zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ins Strafgesetzbuch eingefügt. Nach § 217 StGB wurde demnach mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt. Diese Regelung wurde insbesondere in Feuilletons der deutschen Medienlandschaft und von den Kirchen als Sieg der Lebens- über eine Sterbekultur gefeiert. In Wahrheit aber war es eher ein Sieg der Gnadenlosigkeit gegenüber denjenigen Menschen, die aufgrund eines ausweglosen Leidens jeder Lebensmut abhandengekommen war. Solche Menschen sahen sich vor die Alternative gestellt, Sterbehilfe im Ausland zu suchen, ihr Leiden ertragen zu müssen oder sich schlicht vor den Zug zu werfen. Der Zugang zu professioneller Hilfe zum Suizid war ihnen in Deutschland versperrt. Dass eine solche Situation in einem säkularen und pluralen Rechtsstaat schwer hinnehmbar ist, sollte eigentlich einleuchten. Gleichwohl war der Aufschrei groß, als das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2017 einen Anspruch schwer und unheilbar erkrankter Menschen auf Zugang zu letal wirkenden Betäubungsmitteln postuliert hatte (BVerwG vom 3.2.2017 – 3C19.15). Insbesondere der Deutsche Ethikrat hatte in einer sog. Ad-hoc-Stellungnahme massive Urteilsschelte betrieben und dem BVerwG vorgeworfen, die in § 217 StGB zum Ausdruck kommende Wertentscheidung zu konterkarieren (vgl. dazu Lindner, Der Deutsche Ethikrat als praeceptor jurisdictionis? ZRP 2017, 148). In der Folgezeit wies der Bundesminister für Gesundheit das für die Erteilung der betäubungsmittelrechtlichen Ausnahmebewilligungen zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte an, das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, wonach es in schweren und ausweglosen Leidenssituationen einen Anspruch auf Erteilung einer Bewilligung zum Erwerb einer tödlich wirkenden Dosis eines Betäubungsmittels (Natriumpentobarbital) nach § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtmG geben sollte, außer Acht zu lassen. Vor diesem Hintergrund war die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu § 217 StGB mit großer Spannung erwartet worden. Dies vor allem auch deswegen, weil diese Strafnorm nicht nur die in erster Linie adressierten Sterbehilfeorganisationen betraf, sondern auch Ärzte, wenn diese mehr als nur einmal Beihilfe zur Selbsttötung leisten, dem Strafbarkeitsrisiko aussetzte. Letztlich hatte die Norm des § 217 StGB zur Folge, dass eine professionelle Hilfe zur Selbsttötung in Deutschland ausgeschlossen war und die betroffenen Menschen auf Angebote im Ausland verwiesen waren („foreign shopping“).

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) war initiiert worden von mehreren Verfassungsbeschwerdeführern, insbesondere betroffenen Personen, Ärzten und Sterbehilfeorganisationen. Das BVerfG hat angesichts der fundamentalen Bedeutung des Verfahrens eine zweitägige mündliche Verhandlung durchgeführt. Die Entscheidung des BVerfG vom 26.02.2020 (2 BvR 2347/15 u.a.) ist in der Sache ein Paukenschlag, der so nicht erwartet worden war. Das BVerfG hat § 217 StGB in toto für verfassungswidrig und nichtig erklärt und auch für eine verfassungskonforme Auslegung keinen Spielraum gesehen. Ob und inwieweit dieses Ergebnis im Zweiten Senat selbst umstritten war, lässt sich nicht sagen, da der Entscheidung interessanterweise keine Information darüber beigegeben ist, ob das Urteil einstimmig bzw. mit welcher Stimmenmehrheit es ergangen ist.


Die Reaktionen

Jedenfalls hat – wie bereits die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (s.o. I.) – das Urteil des BVerfG vom 26.02.2020 zu heftigsten Reaktionen geführt. Die Kritiker der Entscheidung haben sich mit vernichtenden Urteilen geradezu überschlagen: Das BVerfG habe das „Wertefundament der Gesellschaft“ verlassen, mit der „bewährten Rechtskultur radikal gebrochen“ und die „ethischen Grundfeste erschüttert“. Mit dem Urteil sei der Lebensschutz entwertet, er wiege nichts mehr. Der frühere Bundestagspräsident Thierse hat sich sogar dazu hinreißen lassen, in seiner  Kritik die Richterinnen und Richter des Zweiten Senats des BVerfG als „furchtbare Juristen“ zu bezeichnen und sie damit in die Nähe des NS-Unrechtsstaats zu rücken (FAZ v. 29.2.2020, S. 20; vgl. dazu Ingo Müller, Furchtbare Juristen, 1987; dieses unter Juristen sehr bekannte Buch behandelt u.a. die Verbrechen der deutschen Justiz im Nationalsozialismus). Die Maßlosigkeit und Geschichtsblindheit derartiger Kritik ist nicht nur Ausdruck eines moralischen Eiferertums, sondern vergiftet zusätzlich die ohnehin schwierige rechtspolitische Diskussion in bioethischen Fragen.

Die tragenden Gründe

Vor dem Hintergrund solcher Reaktionen ist ein Blick auf die tragenden Gründe der Entscheidung zu werfen. Diese lassen sich in Kürze wie folgt zusammenfassen:

1. Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben

Das Grundgesetz verbürgt, wie das BVerfG nunmehr ausdrücklich klarstellt, ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Grundrecht leitet das Gericht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) her. Dieses Recht schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auch auf die freiwillige Hilfe dazu bereiter Dritter zurückzugreifen. Die freiwillige Selbsttötung wird vom BVerfG als Akt autonomer Selbstbestimmung gesehen, die von Staat und Gesellschaft zu akzeptieren sei. Dies entsprach durchaus der bisher herrschenden Meinung in der medizin- und verfassungsrechtlichen Literatur (vgl. Lindner, NJW 2013, 136). Eher überraschend ist indes, dass das BVerfG das Recht auf selbstbestimmtes Sterben nicht auf bestimmte, eng umgrenzte Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt, sondern postuliert, dass diese Modalität des Selbstbestimmungsrechts „in jeder Phase menschlicher Existenz“ besteht. Eine Einengung des Schutzbereichs auf bestimmte Ursachen und Motive liefe nämlich, so das BVerfG, auf eine Bewertung der Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen und damit auf eine inhaltliche Vorbestimmung hinaus, die dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd sei. Die Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, entziehe sich einer „Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben oder Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit“. Sie bedürfe keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung, sondern sei im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.

2. Eingriff in dieses Grundrecht

Grundrechtsdogmatisch lege artis geht das BVerfG nach der Festlegung des umfassenden Schutzbereichs eines Grundrechts auf selbstbestimmtes Sterben auf die Frage ein, ob und inwieweit § 217 StGB einen Eingriff in dieses Grundrecht darstellt. Richtigerweise sieht das BVerfG einen doppelten Eingriff: nämlich zunächst einen unmittelbaren Eingriff in die Grundrechte (zumal der Berufsfreiheit) der Adressaten der Strafnorm, nämlich derjenigen, die Hilfe zur Selbsttötung leisten, zweitens aber auch einen mittelbaren Eingriff in das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben desjenigen, der Suizidhilfe in Anspruch nehmen will (was vom Schutzbereich des Grundrechts auf selbstbestimmtes Sterben umfasst ist). Da nach dem modernen Eingriffsdenken nicht nur unmittelbare und finale verfassungsrechtlich Eingriffe rechtfertigungsbedürftig sind, sondern auch mittelbare und faktische Grundrechtseingriffe, kommt das BVerfG zum Ergebnis, dass § 217 StGB einen rechtfertigungsbedürftigen Grundrechtseingriff auch auf Seiten der Sterbewilligen darstellt.

3. Rechtfertigung (Unverhältnismäßigkeit)

Grundrechtsdogmatisch konsequent widmet sich das BVerfG sodann der Frage, ob sich der (mittelbare) Eingriff in das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben rechtfertigen lässt. Hier argumentiert das BVerfG mit den klassischen Aspekten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, also dem legitimen Zweck der Regelung, der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Angemessenheit. Den verfassungsrechtlich legitimen Zweck des § 217 StGB sieht der Gesetzgeber im Schutz des Lebens als solchem, insbesondere im Hinblick darauf, dass die Selbsttötung als Normalität am Ende des menschlichen Lebens vermieden und damit entsprechende soziale Drucksituationen ausgeschlossen werden sollten. Selbsttötung, zumal bei schweren Erkrankungen oder am Ende des Lebens sollte nicht zum normalen Regelausweg werden. Diese Motivation erachtet das BVerfG als verfassungsrechtlich legitimen Zweck. Es nimmt auch ein diesbezügliches tatsächliches Zweckverwirklichungsbedürfnis an und hält das Verbot in § 217 StGB zur Erreichung dieses Zwecks für geeignet und erforderlich. Allerdings erachtet das BVerfG das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung auch im Hinblick auf die legitime Zwecksetzung als unverhältnismäßig im engeren Sinne, also als unangemessen. Denn mit der Regelung des § 217 StGB und dem gleichzeitigen berufsrechtlichen Verbot für Ärzte, Sterbehilfe (auch nicht-geschäftsmäßig) zu leisten, verstelle die deutsche Rechtsordnung den Weg zur Umsetzung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben vollständig. Zwar versage es die Anerkennung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben dem Gesetzgeber nicht, allgemeine Suizidprävention zu betreiben und insbesondere krankheitsbedingten Selbsttötungswünschen durch Ausbau und Stärkung palliativmedizinischer Behandlungsangebote entgegenzuwirken. Der Gesetzgeber müsse auch denjenigen Gefahren für die Autonomie und das Leben entgegentreten, die in den gegenwärtigen und absehbaren realen Lebensverhältnissen begründet lägen und eine Entscheidung des einzelnen für die Selbsttötung und gegen das Leben beeinflussen könnten. Dieser sozialpolitischen Verpflichtung dürfe der Gesetzgeber sich aber nicht dadurch entziehen, dass er das verfassungsrechtlich geschützte Recht auf Selbstbestimmung außer Kraft setze. Die Rechtsordnung muss nach Auffassung des BVerfG insgesamt also so gestaltet sein, dass dem einzelnen die Freiheit verbleibe, auf die Erhaltung des Lebens zielende Angebote auszuschlagen und eine seinem Verständnis von der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz entspringende Entscheidung, das eigene Leben mit Hilfe Dritter zu beenden, umzusetzen.

Diesen verfassungsrechtlich „zwingend zu wahrenden Entfaltungsraum autonomer Selbstbestimmung“ verletzt nach Auffassung des BVerfG das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung. Es führe im Gefüge mit der bei seiner Einführung vorgefundenen Gesetzeslage dazu, dass das Recht auf Selbsttötung in weiten Teilen faktisch entleert sei. Die Regelung des § 217 StGB sei zwar auf eine bestimmte – nämlich die geschäftsmäßige – Form der Förderung der Selbsttötung beschränkt. Der damit einhergehende Verlust an Autonomie sei aber jedenfalls soweit und solange unverhältnismäßig, wie verbleibende Optionen nur eine theoretische, nicht aber die tatsächliche Aussicht auf Selbstbestimmung böten. Die autonomiefeindliche Wirkung des § 217 StGB wird nach Auffassung des BVerfG gerade dadurch unverhältnismäßig intensiviert, dass dem Einzelnen in vielen Situationen jenseits geschäftsmäßiger Angebote der Suizidhilfe keine verlässlichen realen Möglichkeiten verblieben, einen Entschluss zur Selbsttötung umzusetzen. Denn ohne geschäftsmäßige Angebote der Suizidhilfe sei der einzelne maßgeblich auf die individuelle Bereitschaft eines Arztes angewiesen, an einer Selbsttötung zumindest durch die Verschreibung der benötigten Wirkstoffe assistierend mitzuwirken. Von einer solchen individuellen ärztlichen Bereitschaft könne jedoch schon deswegen nicht ausgegangen werden, da die Berufsordnungen der meisten Landesärztekammern ärztliche Suizidassistenz für unzulässig erklären. Auch nach der gegenwärtigen Gestaltung des Betäubungsmittelrechts hat der Einzelne keine realistische Möglichkeit, an eine letal wirkende Dosis entsprechender Wirkstoffe zu gelangen. Geradezu lakonisch führt das BVerfG zusätzlich aus: „Die staatliche Gemeinschaft darf den Einzelnen zudem nicht auf die Möglichkeit verweisen, im Ausland Angebot der Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen. Der Staat muss den erforderlichen Grundrechtsschutz gemäß Art. 1 Abs. 3 GG innerhalb der eigenen Rechtsordnung gewährleisten.“ Das BVerfG erteilt also der Möglichkeit eines „foreign shopping“ eine deutliche Absage. Die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs durch § 217 StGB kann also nicht dadurch hergestellt werden, dass man den Einzelnen darauf verweist, er könne entsprechende Angebote im Ausland annehmen.

Dieser verfassungsgerichtliche Hinweis auf eine Untauglichkeit des „foreign shopping“ für die Annahme der Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen könnte erhebliche Auswirkungen auch auf andere Bereiche des Medizin- und Gesundheitsrechts haben, insbesondere auf das Fortpflanzungsmedizinrecht. Auch hier sieht der Gesetzgeber im Embryonenschutzgesetz weitgehende Verbote vor, vor allem die Eizellspende. Auch hier sind die Betroffenen letztlich darauf verwiesen, zur Erfüllung eines bestimmten Fortpflanzungswunsches auf Angebote im Ausland zurückzugreifen. Insofern sollte der Gesetzgeber das Urteil des BVerfG zu § 217 StGB zum Anlass nehmen, auch in den anderen Bereichen des Medizinrechts Verbote auf ihre Verfassungskonformität zu überprüfen.

Obiter Dicta: Regelungsspielräume und Regelungsaufträge

Zu der durchaus weitreichenden, aber doch mit Augenmaß argumentierenden Entscheidung des BVerfG haben die Kritiker neben den bereits genannten Verdikten (s. oben III.) angemerkt, mit der Entscheidung zu § 217 StGB seien alle Dämme des Lebensschutzes gebrochen, einer Kultur des Suizids die Pforten geöffnet und sogar der von Liebeskummer geplagte Jugendliche habe nunmehr einen Anspruch auf Sterbehilfe. Derartiges Vorbringen ist unzutreffend. Denn erstens postuliert das BVerfG keinen Anspruch des Einzelnen gegen den Staat oder einem Dritten auf Beihilfe zur Selbsttötung, sondern es hält nur ein kategorisches Verbot einer solchen Hilfe für verfassungswidrig. Und zweitens eröffnet das BVerfG – in einem obiter dictum – dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum für Regulierung. Durch Regelungen einer staatlichen Zulassung und Kontrolle von Sterbehilfeorganisationen, durch die Bindung der Zulassung an Kriterien wie Zuverlässigkeit, durch die Einführung verfahrensrechtlicher Flankierungen wie Beratungspflichten und Überdenkungsfristen oder ein Mehr-Augen-Prinzip kann der Staat einer von den Kritikern befürchteten Suizidkultur ebenso entgegenwirken wie durch den weiteren Ausbau palliativmedizinischer und psychosozialer Angebote zur Suizidprävention. All dies schließt das Bundesverfassungsgericht selbstverständlich nicht aus. Der Gesetzgeber hat ein weites Spektrum an Regelungsoptionen, um den von den Kritikern befürchteten Entwicklungen einer „Normalisierung“ der Selbsttötung entgegenzuwirken.

Die Politik insgesamt steht also nach dem § 217 StGB-Urteil des BVerfG vor der schwierigen Aufgabe, das Recht der Sterbehilfe, der Suizidassistenz zumal, in seinen komplexen Facetten konsistent zu regeln. Dabei – dies spricht das BVerfG ausdrücklich an – sind auch das ärztliche Berufsrecht und das Betäubungsmittelrecht in kohärenter Weise einzubeziehen. Denn nach wie vor verbieten 16 der 17 Landesberufsordnungen für die Ärzte in Übereinstimmung mit der Musterberufsordnung für Ärzte (vgl. § 16 Satz 3 MBO) die ärztliche Suizidassistenz kategorisch. Dass dies nicht zu einem Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben „passt“, ist evident. Zwar hat auch nach der Ansicht des BVerfG der Einzelne keinen Anspruch gegen einen Arzt auf Suizidassistenz. Davon zu unterscheiden ist jedoch die Frage, ob die Berufsordnungen der Länder (dazu bereiten) Ärzten dies verbieten dürfen. Insoweit wird sich die Bundesärztekammer im Hinblick auf eine Novellierung des § 16 der Musterberufsordnung bewegen müssen.

Mit der Entscheidung des BVerfG zur Nichtigkeit des § 217 StGB steht die Diskussion um die konsistente Regelung des Rechts der Sterbehilfe in Deutschland wieder am Anfang. Der Gesetzgeber muss sich vor dem Hintergrund des Urteils darüber im Klaren werden, wie er – auch im Hinblick auf befürchtete negative Signalwirkungen – suizidpräventiv tätig werden will. Wie auch immer der Gesetzgeber sein Regelungskonzept gestaltet, das BVerfG zieht ihm jedenfalls insofern eine Grenze, als das Recht auf selbstbestimmte Selbsttötung nicht leerlaufen, durch das Regelungskonzept also nicht faktisch entleert werden darf.

 

Prof. Dr. Josef Franz Lindner

Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie, Universität Augsburg; Geschäftsführender Direktor des Instituts für Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht (IBGM)
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