13.03.2020

Das BVerfG und das Kopftuchverbot

Ein Beschluss wird überinterpretiert

Das BVerfG und das Kopftuchverbot

Ein Beschluss wird überinterpretiert

Eine Entscheidung in der Hauptsache steht noch aus. | © Klaus Eppele - stock.adobe.com
Eine Entscheidung in der Hauptsache steht noch aus. | © Klaus Eppele - stock.adobe.com

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen schlägt hohe Wellen. Anscheinend hat sich das BVerfG eindeutig positioniert. Bei genauerem Hinsehen ist dies allerdings nicht der Fall.

Der Auslöser

Kaum war der Beschluss des BVerfG in der Rechtssache 2 BvR 1333/17 am 27.2.2020 in der Welt, ging eine Kommentarflut durch Medien und Nachrichtensendungen jeglicher Couleur. Endlich hatte man Gewissheit. Endlich hatte man eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Endlich war eine Regelung im leidigen Kopftuchstreitthema für die Arbeitswelt gefunden worden: Das Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen ist verfassungsgemäß.

Bei vielen Kommentatoren schwang unterschwellig die Erwartung mit, man könne aus dem Beschluss die Tendenz herauslesen, dass Arbeitgeber allgemein ein Kopftuchtrageverbot im Umfeld eines Arbeitsverhältnisses anweisen können.


Dabei hatte bereits der EuGH in seiner ‚Achbita-Entscheidung‘ vom 14.3.2017 (C-157/15) geurteilt, dass es keine unmittelbare religiöse Diskriminierung darstellt, wenn eine betriebliche Kleiderordnung es allen Arbeitnehmern mit Kundenkontakt verbietet, bei der Arbeit Kleidungsstücke zu tragen, mit denen ein religiöses, politisches oder weltanschauliches Bekenntnis zum Ausdruck gebracht wird.

Ist nicht der Beschluss des BVerfG eine konsequente Konkretisierung dieser EuGH-Rechtsprechung für die Vorgaben im öffentlichen Dienst, gleichermaßen geltend für das Kopftuch als Ausdruck einer religiösen Gesinnung, den sichtbaren Anstecker einer politischen Partei oder das Tragen eines Ordensgewandes bei der Ausübung einer hoheitlichen Tätigkeit?

Die Wahrung staatlicher Neutralität ist eine Wirksamkeitsvoraussetzung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege. Überstrahlt diese Neutralitätspflicht nicht die Glaubensfreiheit des Einzelnen?

Anscheinend haben sich der EuGH und das BVerfG in diesen Fragen eindeutig positioniert.  Bei genauerem Hinsehen ist das allerdings nicht der Fall.

Der Sachverhalt

Höchst bedeutsam für das Verständnis des BVerfG-Beschlusses ist, dass es sich bei dem Verfahren um einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung handelte, also um ein Eilverfahren, dem eine Hauptsacheentscheidung nachfolgt.

Einer muslimischen Rechtsreferendarin war es in Hessen per Erlass des Hessischen Ministeriums der Justiz unter Verweis auf § 27 I, 2 JAG, § 45 I HBG untersagt worden, im Referendardienst mit Kopftuch während ihrer Ausbildung im Gerichtssaal auf der Richterbank zu sitzen, Sitzungsleitungen oder Beweisaufnahmen durchzuführen, Sitzungsvertretungen für die Staatsanwaltschaft zu übernehmen oder in der Verwaltungsstation einen Anhörungsausschuss zu leiten. Die Klägerin beschritt erfolglos den Verwaltungsrechtsweg.

Unstreitig ist, dass die Referendarin den juristischen Vorbereitungsdienst grundsätzlich erfolgreich ableisten kann, auch wenn sie ein Kopftuch als Ausdruck ihrer religiösen Identität trägt. Hoheitliche Tätigkeiten, die nach religiöser Neutralität während der Referendarzeit verlangen, können durch Ersatztätigkeiten ausgeglichen werden. Eine schlechte Beurteilung resultiert daraus nicht. Die Ausbildung kann gleichwertig beendet werden.

Die Klägerin rügte die Verletzung von Art. 12 I GG, Art. 4 I, II GG, Art. 2 I iVm Art. 1 GG sowie Art. 3 I, III GG.

Sie verwies auf ihre Glaubensfreiheit und ihre Grundrechte auf Selbstbestimmung, Selbstbewahrung und Selbstdarstellung sowie auf eine Rechtsprechung des BVerfG, die im Hinblick auf Glaubensbekundungen von Pädagogen eine Abwägung zwischen der abstrakten Gefahr einer Beeinträchtigung staatlicher Neutralität und der Ausübung eines als verpflichtend empfundenen, religiösen Gebots forderte. Ohne einstweilige Anordnung dauere das abwägungsfreie Verbot essenzieller Referendartätigkeiten bis zum Ende der Referendarzeit an und versage einen effektiven Grundrechtsschutz während der gesamten Ausbildungszeit.

Der Beschluss

Wesentliches Element der Entscheidung des BVerfG zur vorläufigen Regelung eines Zustandes im Wege der einstweiligen Anordnung ist gemäß § 32 I BVerfGG eine Folgenabwägung. Also eine Abwägung der Nachteile, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte. Demgegenüber stehen die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre.

Einstweilige Anordnungen können nur dann erlassen werden, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

An die Einschätzung der Entscheidungswirkung sind strenge Maßstäbe anzulegen.

Genau an dieser Stelle angekommen, wird der Beschluss des BVerfG von weiten Teilen der Öffentlichkeit hoffnungslos überinterpretiert. Denn es handelt sich gerade nicht um eine Entscheidung in der Hauptsache, die es erlauben würde zu konstatieren, in Bundesländern mit einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage sei ein – eingeschränktes – Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen verfassungsgemäß.

Das BVerfG hat als Ausgangspunkt seiner Folgenabwägung festgestellt, dass die Klägerin durch die staatlich auferlegte Pflicht, bei Tätigkeiten, bei denen sie als Repräsentantin des Staates wahrgenommen wird, religiöse Neutralität auch bei der Bekleidung walten lassen muss. Dadurch ist sie in ihrer individuellen Glaubensfreiheit betroffen, Art. 4 I, II GG. Ebenfalls berührt sein könnte ihre persönliche Identität, Art. 2 I iVm Art. 1 I GG, und ihre Berufsfreiheit, Art. 12 I GG.

Das Maß der Betroffenheit in ihren Grundrechten sei allerdings begrenzt. Juristenausbildungsgesetz und Juristenausbildungsordnung sähen keine zwingenden Regelleistungen dergestalt vor, dass die Klägerin ihre Referendarzeit nur mit nicht hinnehmbaren Nachteilen für ihre Ausbildung und berufliche Tätigkeit absolvieren könne, wenn sie auf ihrem als verpflichtend empfundenen Kleidungsgebot bestehe. Weder sei das generelle Ausbildungsziel gefährdet, noch wirke sich die Haltung der Referendarin auf die Benotungen der Ausbildungsstationen aus. Die Teilnahme an den besagten Ausbildungshandlungen, die mit einem Kopftuchtrageverbot belegt sind, seien zwar ausbildungstechnisch möglich, aber nicht zwingend und somit keine Regelleistungen im engeren Sinne.

Erginge die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde aber keinen Erfolg, würden die staatlichen Regelungsbelange, vornehmlich die Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität (Art. 4 I; Art. 3 III,1; Art. 33 III GG; Art. 136 I, IV; Art. 137 I WRV) und die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der weiteren Prozessbeteiligten aus Art. 4 I, II GG einstweilen nicht berücksichtigt.

Auch Rechtsreferendarinnen, die als Repräsentantinnen staatlicher Gewalt auftreten, denen die Verfahrensbeteiligten zwangsläufig ausgesetzt sind, haben das staatliche Neutralitätsgebot zu beachten. Jede andere Wahrnehmung, etwa durch nach außen getragene und als solche erkennbare religiöse oder weltanschauliche Bekenntnisse, können die staatliche Unvoreingenommenheit und Neutralität und damit das Gebot der Rechtsstaatlichkeit durch ihre Kundgabewirkung verletzen.

Die Folgenabwägung der sich gegenüberstehenden Grundrechtspositionen ergibt nach Auffassung des BVerfG nicht, dass die Gründe, die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen, im erforderlichen Maße überwiegen.

Das Fazit

Das BVerfG hat wohlabgewogen die widerstreitenden Grundrechtspositionen in einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gewichtet. Ganz gewiss nicht endgültig entschieden hat es die Kopftuchstreitdebatte.

Im Hauptsacheverfahren kann und muss die Gefechtslage anders aussehen. Alleine die Anrufung des EuGHs in einem Streitfall um ein Kopftuchtrageverbot durch das BAG vom 30.1.2019 (10 AZR 299/18) im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV, wird voraussichtlich neue Argumentationsketten aus dem Bereich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Konvention zum Schutz der Menschrechte und Grundfreiheiten (EMRK) eröffnen. Die Prärogative der Auslegung zwingenden Europarechts durch den EuGH ist auch für das BVerfG verpflichtend zu beachten.

Es mag durchaus sein, dass die Schlagzeile ‚Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen ist verfassungsgemäß‘, einmal ihre Richtigkeit hat. Dieser Tag liegt allerdings in der Zukunft.

 

Professor Achim Albrecht

Westfälische Hochschule, Gelsenkirchen
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