21.03.2019

Lageorientiertes Führen zwischen Projekt- und Krisenmanagement

Ergebnisse eines Fachprojekts an der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl

Lageorientiertes Führen zwischen Projekt- und Krisenmanagement

Ergebnisse eines Fachprojekts an der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl

Breites Spektrum an Kompetenzen und Methoden. | © Rawpixel.com - stock.adobe.com
Breites Spektrum an Kompetenzen und Methoden. | © Rawpixel.com - stock.adobe.com

Der Mitautor Herbert O. Zinell hat in seinem Beitrag in der PUBLICUS-Ausgabe 2017.8 (vgl. außerdem Zinell, Lageorientiertes Führen in komplexen und krisenhaften Situationen, in: sicherheitsmelder v. 28.06.2017) die Frage aufgeworfen: „Braucht das Land neue Verwaltungsformate?“. Er knüpfte damit an die Aussagen der grün-schwarzen Landesregierung von Baden-Württemberg in der Koalitionsvereinbarung von 2016 und den Erfahrungen der grün-roten Vorgängerregierung mit der Bewältigung der „Flüchtlingskrise im Feuerwehrformat“ an.

Mit dieser Fragestellung haben sich im Studienjahr 2017/2018 Studierende der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl in einem Fachprojekt beschäftigt und geprüft, ob sich Erkenntnisse aus der Bewältigung der Flüchtlingskrise auf andere komplexe und krisenhafte Situationen und gegebenenfalls auf „normales“ Verwaltungshandeln übertragen lassen.

Anwendungsfelder für lageorientiertes Führen

Unter lageorientierter Führung versteht man ein Führungshandeln in direkter Abhängigkeit von der aktuell vorhandenen Lage. Somit ein flexibles, den Anforderungen der jeweiligen Lage angepasstes dynamisches und proaktives Führen unter Anwendung spezifischer Methoden. Das Tagesgeschäft in der Verwaltung stellt dabei die Routine-Lage dar, die mit dem Standart-Ressourceneinsatz bewältigt werden kann. Auch für die Bewältigung der Katastrophen-Lagen gibt es in den Katastrophengesetzen der Länder einschlägige Regelungen. Das Fachprojekt identifizierte darüber hinaus Anwendungsbereiche für lageorientiertes Führen, welche sich weder unter die eine, noch die andere der eben beschriebenen Lagen subsumieren lassen. Diese zeigen sich krisenhaft durch ein drohendes oder bereits eingetretenes Schadenspotential oder die bereits eingetretene Überforderung der Regelorganisation. Somit wird lageorientiertes Führen immer dann erforderlich, wenn eine Lage bzw. ein Vorgang eintritt, die bzw. der nicht dem Bereich der Verwaltungsroutine zuzuordnen ist. Folgerichtig können sich Anwendungsfelder hierfür in allen Verwaltungsbereichen ergeben. Diese werden angesichts der Tatsache, dass Verwaltungsvorgänge immer komplexer und dynamischer werden und die Regelorganisation überfordern können, zunehmen. Neben krisenhaften Lagen werden auch zunehmend sogenannte Gestaltungslagen ein angepasstes Verhalten der Verwaltung im Sinne der lageorientierten Führung erfordern. Als Beispiele hierfür wurden im Fachprojekt komplexe Genehmigungsverfahren und alle Arten von öffentlichen (Groß-)Veranstaltungen angeführt. Auch hier können unvorhergesehene und ungeplante Ereignisse auftreten und eine krisenhafte Entwicklung einleiten.


Kompetenzen und Methoden der lageorientierten Führung

Um spezifische Lagen zu bewältigen und Schäden bzw. Überforderungen vermeiden zu können, benötigt die lageorientierte Führung daher ein breites Spektrum an Kompetenzen und Methoden.

Zur lageorientierten Führung gehört vorrangig der Mut der Führungskräfte auch in schwierigen Situationen Verantwortung zu übernehmen, da es oft an Erfahrungswerten mangelt und kaum Zeit für aufwendige und analytische Handlungsabwägungen bleibt. Ferner erfordert lageorientierte Führung ein erhöhtes Maß an Flexibilität, da die mitunter hochdynamische Lage eine Anpassung der Handlungsweisen und –lösungen gebietet, ohne deren Wirksamkeit abschließend einschätzen zu können. Nicht nur deshalb kommt es in schwierigen Situationen darauf an, dass die Mitarbeitenden Vertrauen in ihre Führungskräfte haben. Dies setzt seitens der Führungskräfte die Fähigkeit zu einer ausgeprägten Empathie und einer echten Zuwendung voraus. In der Gesamtschau zeichnen sich geeignete verantwortliche Führungskräfte in unsicheren und risikobehafteten Lagen durch den Mut zur Entscheidung, die Bewahrung des Überblicks und eine besondere Achtsamkeit auf die Arbeitsfähigkeit der betroffenen Mitarbeitenden aus!

Das Fachprojekt beschäftige sich auch mit Methoden und Instrumenten des lageorientierten Führens. Dabei wurde bei der Untersuchung der vielfältigen in Betracht kommenden Möglichkeiten hierzu zwischen der Problemlösung und Zielbestimmung, der Entscheidungsfindung und der Führung sowie der Organisation und des Wissensmanagements unterschieden. Im Bereich der Problemlösung und Zielbestimmung wurden „diskursive Verfahren“ als besonders geeignet angesehen, um alle verfügbaren Informationen zu sammeln, zu kombinieren, zu bewerten und daraus die neuen bzw. angepassten Ziele zu entwickeln. Für den wichtigen Bereich der Führung wird das Konzept des „situativen Führens“ für relevant gehalten. Hier ist von Bedeutung, dass lageorientiertes Führen auf die konkreten Aufgabenstellungen der Lage, den gesamten Kontext der Situation und die individuellen Persönlichkeiten sowohl der Führenden wie der Geführten und der übrigen Beteiligten abstellen sollte. Bei der Untersuchung der geeigneten Organisation der Aufgabenstellung wurde eine Parallele zum agilen Projektmanagement gesehen. Dieses ermöglicht eine flexible, lageangepasste Organisation, wie sie auch in der baden-württembergischen Verwaltungsvorschrift Stabsarbeit für die Erledigung außergewöhnlicher Verwaltungsarbeiten unter Beteiligung mehrerer Fachbereiche vorgeschlagen wird. Die Untersuchung führte zusammenfassend zur Erkenntnis, dass sich lageorientiertes Führen organisatorisch im Wesentlichen zwischen Projekt- und Krisenmanagement bewegt.

Digitale Unterstützung lageorientierten Führens

Um das bereits angesprochene Wissensmanagement zu ermöglichen und zur digitalen Unterstützung des lageorientierten Führens wurde die Collaboration-Plattform CAI*-World in das Fachprojekt eingebunden. Dabei handelt es sich um eine browsergestützte Anwendung basierend auf einer auch vom Land Baden-Württemberg genutzten Open-Source-Software (Liferay). Diese hat die CAI GmbH unter einer einheitlichen Benutzeroberfläche um Kommunikationselemente und vielfältige andere Funktionen und Tools ergänzt, insbesondere um eine prozessorientierte Steuerungshilfe für die Leitung bzw. die Moderation.

Auf dieser Plattform wurde einerseits zum Wissensaufbau und zur Wissensvermittlung zum lageorientierten Führen ein zunächst noch intern zu nutzendes Wiki eingerichtet, welches neben begrifflichen Erläuterungen Beispiele für praktische Anwendungsfelder und eine Fülle von weiteren Hinweisen zum Thema enthält. Zum anderen wurde mit dem „Situation Room“ ein Ort geschaffen, an dem alle Mitwirkenden an einem Problem zusammenkommen, gemeinsam an dem Problem arbeiten und dabei die Möglichkeit haben, auf Informationen von außen zuzugreifen und mit der Außenwelt zu kommunizieren. Dieser virtuelle „Situation Room“ entspricht dem Trend zur verstärkten virtuellen Zusammenarbeit in Teams, weil Globalisierungs- und Dezentralisierungsprozesse und die Neuerungen in der Informations- und Kommunikationstechnologie das verteilte Arbeiten über räumliche, zeitliche und organisatorische Grenzen hinweg möglich machen.

Auswirkungen auf die Ausbildung des gehobenen nichttechnischen Verwaltungsdienstes

Das Fachprojekt ging auch der Frage nach, wie lageorientiertes Führen in die Ausbildung der Hochschule für öffentliche Verwaltung aufgenommen werden kann. Dies auf der Basis der Erkenntnis, dass sowohl das Bachelor-Studium als auch das Master-Studium die Studierenden auf die Bearbeitung der zunehmend komplexeren Vorgänge vorbereiten sollte. Dabei wurden auch die einschlägigen Ausführungen in der bereits genannten Koalitionsvereinbarung 2016 in Baden-Württemberg wie die des Bundes 2018 in den Blick genommen. Insbesondere müssten junge Beamtinnen und Beamte fit gemacht werden, um Gestaltungslagen zu erkennen und frühzeitig zu bearbeiten, bevor aus diesen Gestaltungslagen Problemlagen werden. Zur Implementierung des Themas in die Ausbildung des gehobenen Dienstes wurde ein erstes stufenweises Konzept entwickelt.

Damit beschäftigen sich derzeit weitere zehn Studierende der Hochschule in der Fortsetzung des Fachprojekts im Studienjahr 2018/2019. Schwerpunktmäßig aber mit der Beschreibung eines Profils für lageorientiertes Führen, das mit „Lagekompetenz“ bezeichnet werden soll. Ferner sollen die besonderen medialen und medien-kommunikativen Komponenten untersucht werden, die in komplexen Gestaltungs- und krisenhaften Lagen zu beachten sind. Unter dem Aspekt des Praxisbezuges sollen dabei konkrete Anwendungsbereiche aus der Landesverwaltung und aus dem kommunalen Bereich einbezogen werden. Das Fachprojekt wird im Hinblick auf die digitale Unterstützung von Steuerungs- und Moderationsprozessen durch die Collaboration-Plattform CAI*-World Aussagen zur Gestaltung und Anwendung der Benutzeroberfläche treffen.

Anmerkung

Die vorstehenden Ausführungen beruhen auf den Projektbeiträgen der Studierenden Tim Codagnone, Adrian Eckrich, Timo Fitzau, Tim Glocker, Daniel Hägele, Vanessa Hiller, Max Lorenz, Jennifer Lutz, Juri Seibel und David Wagner.

Hinweis der Redaktion: Die wesentlichen Ergebnisse dieses inzwischen abgeschlossenen Fachprojektes haben die Autoren dieser Veröffentlichung als betreuende Lehrbeauftragte in der Nr. 11/2018 der Zeitschrift „innovative Verwaltung“ unter Hinweis auf die einzelnen Projektbeiträge der beteiligten Studierenden publiziert.

 

Thomas Berg

Ehemals Generalsekretär der Führungsakademie Baden-Württemberg a. D.
Dr. Herbert O. Zinell

Dr. Herbert O. Zinell

Senator E.h. Dr. Herbert O. Zinell, Ministerialdirektor a.D. und Oberbürgermeister a.D

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