10.08.2017

Braucht das Land neue Verwaltungsformate?

Lageorientiertes Führen in komplexen und krisenhaften Situationen

Braucht das Land neue Verwaltungsformate?

Lageorientiertes Führen in komplexen und krisenhaften Situationen

Flüchtlings- und andere Krisen: Lageorientiertes Führen in der Verwaltung ist gefordert. | © stockpics - stock.adobe.com
Flüchtlings- und andere Krisen: Lageorientiertes Führen in der Verwaltung ist gefordert. | © stockpics - stock.adobe.com

Die baden-württembergische Landesregierung möchte den öffentlichen Dienst modernisieren und setzt dabei insbesondere auf die Einführung neuer Verwaltungsformate. Sie baut dabei auf den Erfahrungen der Vorgängerregierung mit einem lageorientierten Vorgehen bei der Flüchtlingsaufnahme in den Jahren 2014 und 2015 auf. In einem Fachprojekt an der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl soll beispielhaft untersucht werden, inwieweit sich Erkenntnisse aus der Bewältigung der »Flüchtlingskrise« auf andere komplexe und krisenhafte Situationen und ggf. auf »normales« Verwaltungshandeln übertragen lassen.

Anpassung des öffentlichen Dienstes an die »moderne Arbeitsgesellschaft«

Die 2016 ins Amt gekommene grün-schwarze Landesregierung von Baden-Württemberg hat sich zum Ziel gesetzt, »den öffentlichen Dienst an die moderne Arbeitsgesellschaft« anzupassen. Zu Begründung dieser Zielsetzung wird in der Koalitionsvereinbarung vom Mai  2016 unter anderem Folgendes ausgeführt:

»Dazu gehört projektorientiertes, themen- und ressortübergreifendes Handeln anstelle des rein an Zuständigkeiten orientierten Vorgehens. Die zunehmende technische und rechtliche Komplexität – etwa bei Genehmigungsverfahren oder bei unerwarteten Krisenlagen wie der Flüchtlingsaufnahme – erfordern themen- und ressortübergreifendes Handeln und Entscheiden. Zudem brauchen wir neue Verwaltungsformate statt herkömmliches und oft schwerfälliges Arbeiten in Zuständigkeitsbereichen. Diese lageorientierten Verwaltungsformate in allen Verwaltungsbereichen wollen wir ermöglichen und dafür die kommunikativen Kompetenzen und die informationstechnischen Voraussetzungen schaffen.«


Bewältigung der »Flüchtlingskrise im Feuerwehrformat«

Damit knüpft die amtierende Landesregierung an den Erfahrungen der grün-roten Vorgängerregierung mit der Flüchtlingsaufnahme an (vgl. hierzu u.a. die Zusammenfassung von Berichten des damaligen Landesbranddirektors und Stabsleiters und späteren Abteilungsleiters im Innenministerium, Hermann Schröder . in: BBW Magazin, September  2016, S.  11 und November  2016, S.  6  ff.).

Das Land Baden-Württemberg war in den Jahren 2014 und insbesondere 2015 in einer kurzen Zeit mit einem signifikanten Anstieg an Zugängen von Flüchtlingen konfrontiert. Die für die Erstaufnahme der Flüchtlinge zuständigen Landesbehörden sahen sich einer durchaus als krisenhaft zu bezeichnenden Situation gegenüber (vgl. zum Begriff der Krise für viele: Trauboth (Hrsg.), Krisenmanagement in Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen, professionelle Prävention und Reaktion bei sicherheitsrelevanten Bedrohungen von innen und außen, Stuttgart 2016, u. a. S.  559). Es zeigte sich nämlich schnell, dass es sich um die Abweichung von einer Normalsituation handelte, welche die Regelorganisation der Verwaltung überforderte und somit mit den normalen Strukturen allein nicht mehr bewältigt werden konnte.

Folglich wurde bereits 2014 hierauf mit einer besonderen Aufbauorganisation (BAO), d.h. dem Aufruf eines ständig tagenden interministeriellen Verwaltungsstabes gemäß der Verwaltungsvorschrift der Ministerien zur Bildung von Stäben bei außergewöhnlichen Ereignissen und Katastrophen (VwV Stabsarbeit) reagiert (vgl. hierzu Hesse, Polizeireform Baden-Württemberg, Eine Strukturanalyse im Auftrag des Innenministeriums vom 15. 11. 2015, S.  229  ff.).

Aufgrund der enormen Zugangszahlen an Flüchtlingen im Sommer  2015 musste die Organisation nochmals angepasst werden. Mit Beschluss des Ministerrates wurde zur Bewältigung der Lage eine Lenkungsgruppe aus den vier Amtschefs der hauptbetroffenen Ministerien eingesetzt und dieser eine dem Innenministerium zugeordnete Stabsstelle für die operative Umsetzung der Beschlüsse der Lenkungsgruppe zur Seite gestellt. Dieses, am lageorientierten Führen von Polizei, Feuerwehr und Katastrophenschutzorganisationen orientierte Vorgehen, hat sich in der Rückschau als sehr erfolgreich erwiesen (zum lageorientierten Führen: Berg, Lageorientierte Führung für die zukunftsfähige Verwaltung, in: Innovative Verwaltung 9/2016, S.  26  f.).

Erweiterung der Methodenkompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der öffentlichen Verwaltung

Angesichts der weltweiten Entwicklungen ist künftig verstärkt mit der Bewältigung komplexer und krisenhafter Situationen durch Verwaltungseinheiten zu rechnen. Beispielhaft seien terroristische Angriffe, Epidemien, vermehrt Naturkatastrophen und der Ausfall kritischer Infrastrukturen durch Cyber-Angriffe (vgl. hierzu die Beispiele in Lesch/Kamphausen, Die Menschheit schafft sich ab, Die Erde im Griff des Anthropozän, München 2016, und Trauboth, Die Welt aus den Fugen, Die sechs großen Gefahren für unsere Sicherheit, in: PUBLICUS 2016. 10), aber auch Gestaltungslagen wie z.B. Genehmigungsverfahren für Erneuerbare-Energieanlagen bzw. Vorhaben mit Bürgerbeteiligung genannt.

Folglich hat die vormalige Landesregierung aus den Erkenntnissen der Flüchtlingsaufnahme die Konsequenz gezogen und im damaligen Innenministerium und jetzigem Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration eine neue Abteilung  6 – Bevölkerungsschutz und Krisenmanagement – eingerichtet (vgl. hierzu: Dunklau-Fox, Krisenmanagement – schnell und effektiv handeln im Ernstfall, in: IMINTERN Juli/August 2016, S.  10  f.). Seitdem wird auch die Frage diskutiert, ob nicht im Sinne einer Erweiterung der Methodenkompetenz alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung zumindest über die Grundzüge des Prinzips des lageorientierten Führens geschult sein müssten (vgl. hierzu Berg, a.a.O. und Trauboth (Hrsg.), Krisenmanagement… 2016, S.  10 und 53  ff.).

Fachprojekt »Lageorientiertes Führen: Verwaltungsführung in komplexen Lagen zwischen Krisen- und Projektmanagement«

Dieser Fragestellung sollen Studierende des 1. bis 3.  Semesters des Bachelor-Studienganges an der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl im Studienjahr 2017/2018 im Fachprojekt »Lageorientiertes Führen: Verwaltungsführung in komplexen Lagen zwischen Krisen- und Projektmanagement« nachgehen (vgl. zu den Fachprojekten an der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl: http://www.hs-kehl.de/studierende/bachelor/module/proseminar -fachprojekt/?sword_list[]=fachprojekte&no_cache=1).

 

Der Untersuchungsauftrag lautet konkret wie folgt: »Wie können Verwaltungen in Krisensituationen von Naturkatastrophen oder terroristischen Anschlägen bis hin zu Genehmigungen von Windenergieanlagen geführt werden? Und wie kann dieses Thema in die Ausbildung des gehobenen Verwaltungsdienstes integriert werden?«

Der Verfasser dieser Abhandlung wird gemeinsam mit dem ehemaligen Generalsekretär der Führungsakademie Baden-Württemberg, Thomas E. Berg, das Fachprojekt als Lehrbeauftragter betreuen.

Das Fachprojekt kooperiert mit der Abteilung 6 des Ministeriums für Inneres, Digitalisierung und Migration, der Führungsakademie Baden-Württemberg und der Stadt Mannheim als Standort von Einrichtungen der kritischen Infrastruktur. Zu den Kooperationspartnern, insbesondere zu den Führungsräumen beim Lagezentrum der Landesregierung Baden-Württemberg im Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration, werden Exkursionen durchgeführt.

Die Führungsakademie beschäftigt sich in unterschiedlicher Weise mit dem Thema. Unter anderem wurde dem 23.  Führungslehrgang der Führungsakademie in diesem Zusammenhang vom Staatsministerium Baden-Württemberg der Auftrag erteilt, sich mit der Frage der Institutionalisierung einer integrativen Nachhaltigkeitspolitik der gesamten Landesverwaltung zu beschäftigen (vgl. Newsletter Baden-Württemberg, Der Tag in BW vom 19. 01. 2017).

Die gewonnenen Ergebnisse des Fachprojektes sollen nach Abschluss des Projektes publiziert werden.

Dr. Herbert O. Zinell

Dr. Herbert O. Zinell

Senator E.h. Dr. Herbert O. Zinell, Ministerialdirektor a.D. und Oberbürgermeister a.D
n/a