15.01.2013

Justice Shake-up

Privatisierung von Gerichten als amtliches Planspiel

Justice Shake-up

Privatisierung von Gerichten als amtliches Planspiel

Die Unabhängigkeit der Justiz ist ein hohes Gut. | © griangraf - Fotolia
Die Unabhängigkeit der Justiz ist ein hohes Gut. | © griangraf - Fotolia

Ein funktionierender Justizbetrieb gehört sicher zu den „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ im Sinne des Artikels 106 Abs. 2 AEUV, also zur Daseinsvorsorge, für welche die EU Ausnahmen vom strengen Beihilfen- und Wettbewerbsrecht macht. Wenn aber ein Mitgliedstaat in diesem Bereich freiwillig Privatisierungen durchführen möchte, ist dies europarechtlich in Ordnung, solange die Aufgabenerfüllung nach Artikel 14 AEUV gewährleistet bleibt. Ein solches Planspiel aus London wurde Ende Mai 2013 bekannt und könnte auch sparwillige andere Europäer interessieren.

Vorreiter oder Versuchskaninchen

In Großbritannien wurden schon viele öffentliche Einrichtungen privatisiert oder teilprivatisiert. Dies hat für andere Staaten den Vorteil, dass man die Auswirkungen beobachten kann, ohne selbst allzu tief in das Experiment verstrickt zu sein. Im Gesundheitswesen, in der Wasserversorgung, im Energie- und Kommunikationssektor und vor allem im Verkehrswesen hielten die Ergebnisse jedoch nicht immer den Versprechungen stand; Eisenbahnunglücke, die zum Teil auf überzogene Sparmaßnahmen zurückgeführt wurden, leiteten eine Gegenentwicklung hin zu Non-profit-Unternehmen wie der quasistaatlichen Network Rail ein.

„Leak“ ministeriumsinterner Privatisierungspläne

Am 28. 05. 2013 erreichte uns auf der Titelseite der Times eine aktuelle Idee von der Insel, deren weitere Entwicklung man mit Interesse verfolgen wird. Vornehmlich um Sparzwängen zu folgen, wurde offenbar im Justizministerium ein Plan mit mehreren Optionen erarbeitet, der das Gerichtswesen von England und Wales als teilweise privates Dienstleistungsunternehmen diskutiert. Justizstaatssekretär und Lord Chancellor Chris Grayling hatte laut Times im März gegenüber dem Parlament angekündigt, Pläne zur Effizienzsteigerung in der Justiz zu erarbeiten, ebenso zur fairen Kostenbeteiligung derer, die die Gerichte in Anspruch nehmen, an den notwendigen Investitionen zur Modernisierung und Flexibilisierung der Dienstleistung der Gerichte. Dabei solle aber die richterliche Unabhängigkeit und die Rechtsstaatlichkeit erhalten bleiben. So weit die offiziellen Verlautbarungen. Die weiteren Informationen waren der Times offenbar ohne Mitwirkung der Ministeriumsspitze zugespielt worden, Quellen wurden nicht genannt. Die Firmen McKinsey und Slaughter and May hätten demnach das Justizministerium bei der Ausarbeitung beraten. Zu den Optionen gehöre auch die Übertragung ganzer Gerichtsgebäude und deren Verwaltung auf Investoren und die Möglichkeit, die Mitarbeiterschaft, sofern sie nicht Gerichtsbeamte (Magistrate) oder Richter seien, als Angestellte in private Dienstverhältnisse zu transferieren; Letzteres beträfe über 20 000 Gerichtsbedienstete. Die staatliche Finanzaufsicht würde entfallen, die privaten Investoren müssten sich über Gerichtsgebühren refinanzieren, wobei diese für reichere Rechtssuchende steigen müssten. Ausreichend Material also für ein Rauschen im Blätterwald.


Protestreflexe

Sogleich erhoben sich kritische Stimmen aus Politik, Justizkreisen und Gewerkschaften. Die Unabhängigkeit der Justiz hänge nicht nur an der Unabhängigkeit der Richterschaft, wurde beispielhaft Lord Falconer of Thoroton zitiert, ein Amtsvorgänger Graylings unter Tony Blair. Es sei auch nicht zu verantworten, wenn private Firmen nach Rentabilitätsgesichtspunkten beschlössen, Gerichte zusammenzulegen und an kleineren Orten zu schließen. Und es sei der Gerechtigkeit unzuträglich, wenn ein Richter zum Beispiel den Erlass einer einstweiligen Verfügung am Wochenende für notwendig halte, dann aber zuerst mit der Betreibergesellschaft verhandeln müsse, ob der Hausmeister dafür das – möglicherweise unbeheizte – Gerichtsgebäude öffnen dürfe und ob die EDV vollumfänglich zur Verfügung stehe. Der Plan, mehr Geld von kommerziellen „Gerichts-Nutzern“ einzufordern, sei zwar gut, solle aber nicht mit einer Privatisierung der Gerichte selbst einhergehen.

Randbereiche versus Kernbereich

Offenbar gibt es nationenübergreifend eine Art Empfindlichkeitsgefälle, je nachdem in welchem Bereich Privatisierungsüberlegungen anstehen. Denn in manchen Sektoren der Justiz wird bereits privatisiert, insbesondere sind private Investoren mit eigenem Personal am Strafvollzug in den USA, Großbritannien, Kanada, Australien, Chile und Südafrika mit profitorientierten Gefängnisbetrieben beteiligt. In Deutschland gibt es das umstrittene Modellprojekt der JVA Hünfeld. Notaren sind – nicht nur in Deutschland – einige öffentliche Aufgaben aus dem Justizsektor zur Erledigung im wirtschaftlichen Eigeninteresse zugewiesen. Hier gibt es auch verhaltene Erweiterungstendenzen. Das im Laufe seiner mehrjährigen parlamentarischen Diskussionsphase seit 2008 immer weiter reduzierte „Gesetz zur Übertragung von Aufgaben im Bereich der Freiwilligen Gerichtsbarkeit auf Notare“ wurde im Bundestag nach mehreren Anläufen am 18. 04. 2013 verabschiedet hat am 07. 06. 2013 unbeanstandet den Bundesrat passiert. Da eine parallel angestrebte Änderung von Artikel 98a GG nicht angenommen wurde, bleibt es bei relativ geringen Erweiterungen der notariellen Zuständigkeiten im Bereich der Freiwilligen Gerichtsbarkeit. Schon an diesem Verfahrensgang kann man ersehen, dass das Thema Privatisierung von Justizaufgaben mit großer Vorsicht genossen wird und dass sich an den Kernbereich „Rechtsprechung“ in Deutschland derzeit wohl niemand wagen würde. Andererseits, wenn der zuständige Minister zwei Milliarden Euro jährlich einsparen müsste, wie der Times-Artikel berichtet, käme man eventuell auch hierzulande auf exotisch anmutende Ideen.

Auslandsbezug durch Ausschreibungspflicht

Spannend wird die aus London berichtete Konstellation, wenn die EU-Schwellenwerte beim Outsourcing überschritten werden und europaweit auszuschreiben ist: dann muss die ausschreibende Stelle damit rechnen, dass eine ausländische Firma den inländischen Justizbetrieb am Laufen hält. Sicher sind die Überlegungen beim englischen Justizministerium und seinen Beratern so weit gediehen, denn immerhin sorgt auch die Tochterfirma des britischen Unternehmens Serco in der bereits erwähnten JVA Hünfeld für Sicherheit (Pressemitteilung des hessischen Justizministeriums vom 10. 11. 2004).

Magna Charta und Dementi

Die Briten als geschichtsbewusstes Land der Magna Charta Libertatum tun sich übrigens mit den Ende Mai „geleakten“ Vorschlägen besonders schwer und zitieren daraus die – nicht mehr in Kraft befindliche – Klausel 40, die im Original lautet: „Nulli vendemus, nulli negabimus, aut differemus rectum aut justiciam.“ In Englisch wird diese unter anderem wie folgt übersetzt: To no one will we sell, to no one will we refuse or delay, right or justice. (Niemandem werden wir Recht oder Gerechtigkeit verkaufen, verweigern oder verzögern.) Die Sache mit dem „Verkaufen“ kommt offenbar nicht so gut an. Daher war auch bereits am Folgetag der Sprecher des Justizministeriums mit den erwartbaren Einschränkungen und Dementis vor der Presse. Kernaussage: Die Effizienzbestrebungen gingen nicht so weit, ganze Gerichte zu privatisieren. Wait and see.

 

Dr. Alexander Konzelmann

Leiter der Boorberg Rechtsdatenbanken RDB, Stuttgart
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