15.10.2013

Ausgleichsmandate sind „Extrawürste“

Die Ernüchterung nach der Bundestagswahl

Ausgleichsmandate sind „Extrawürste“

Die Ernüchterung nach der Bundestagswahl

Sind die 28 Ausgleichsmandate „Extrawürste?“ | © flashpics - Fotolia
Sind die 28 Ausgleichsmandate „Extrawürste?“ | © flashpics - Fotolia

Die Union tanzt vor Freude. Doch die Ernüchterung folgte auf dem Fuße. Die Wahl ist im Bund und in Hessen mit einem Patt ausgegangen. Jetzt herrschen auch in Deutschland italienische Verhältnisse. Es kann keine Regierung gebildet werden, weil die Parteien keine Koalitionen eingehen wollen. Neidvoll wendet sich der Blick nach Großbritannien. Über das Vereinigte Königreich hat schon Disraeli gesagt: „Dieses Land bildet keine Koalitionen.“

Der Pferdefuß der Verhältniswahl

Rechnet man alle entstandenen Direktmandate (aus den Erststimmen) und die überschießenden Listenplätze (aus den Zweitstimmen) zusammen, fehlen der Union sechs Sitze zur absoluten Mehrheit. Der „Pferdefuß“ der Verhältniswahl ist 2013 gar nicht mehr zu übersehen. In diesem Wahlsystem erreicht eine Partei nur ausnahmsweise die absolute Mehrheit der Mandate. Und wenn die im Bundestag vertretenen Parteien keine Koalition haben wollen, dann kommt keine Regierung zustande.

Bekanntlich wählen die Deutschen im Bund und in den meisten Ländern mit zwei Stimmen. Und zwei Stimmen sind auch zwei Wahlen. Man braucht aber nur eine. Niemand geht zum Standesamt, um den gleichen Ehepartner zweimal zu heiraten. Und wenn man das trotzdem tut, dann wird es kompliziert, weil man beide Entscheidungen auch gegeneinander richten kann. Das ist ja das ganze Elend der Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimme, dass die mit der einen Stimme getroffene Wahlentscheidung mit der anderen umgestoßen oder relativiert werden kann. Und viele Wähler machen das.


So hat mehr als jeder zweite FDP-Wähler dieser Partei die Zweitstimme gegeben, die Erststimme aber verweigert (Zweitstimmen-Überhang). Ein ähnliches Bild, wenn auch mit geringerem Stimmensplitting, zeigt sich für die Grünen. Auch hier gibt es einen sehr deutlichen Zweitstimmen-Überhang. Ausgenommen die rund 170.000 Wähler, die das nicht getan haben, gaben die Wähler der Linkspartei beide Stimmen. Umgekehrt haben 1. 311. 848 Wähler die CDU nicht mit beiden Stimmen gewählt, sondern ihr nur die Erststimme gegeben, die Zweitstimme aber an eine andere Partei „verliehen“ (Erststimmen-Überhang). Bei der CSU sind es 300.398 Leihstimmenwähler, die so abgestimmt haben. Aber auch bei der SPD gibt es einen klaren Erststimmen-Überhang in Höhe von 1. 588. 560 Wählern. Auch SPD-Wähler spalten also ihre Stimme. Selbst viele Wähler der Grünen tun es … – „und das mit Lust!“ Bei der SPD entstand ein Erststimmen- und bei den Grünen ein unübersehbarer Zweitstimmen-Überhang. Wechselseitige Leihstimmen sind also keine Erfindung der Union oder der FDP. Sie gibt es natürlich auch zwischen SPD und Grünen.

Das Stimmensplitting ist ungesetzlich

Das Wahlrecht geht in § 1 BWahlG davon aus, dass mit der Erststimme die Person, mit der Zweitstimme die Mannschaftsstärke der Parteien bestimmt werden soll (personalisierte Verhältniswahl). Das Wahlgesetz verlangt, dass Direkt- und Listenwahl, also Erst- und Zweitstimme miteinander zu verbinden sind. Die Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimme wird ausdrücklich als „eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl“ beschrieben. Das schließt die unverbundene Stimmabgabe nach dem sog. Grabensystem aus, in dem die beiden Stimmen gleichsam durch einen Graben voneinander getrennt sind. Wer also mit der Erststimme eine Person, mit der Zweitstimme aber nicht die dazu gehörende Partei wählt, der stimmt nicht nach dem System der personalisierten Verhältniswahl ab, wie sie im Wahlgesetz verankert ist. Die gespaltene Stimmabgabe ist ungesetzlich. Doch niemand kümmert sich darum.

Bei der Bundestagswahl 2013 ergeben sich insgesamt 28 Überhang- und Ausgleichsmandate. In den bundesweit 299 Wahlkreisen erlangte die CDU 191 Direktmandate (2009: 174); die CSU kam auf 45 (2009: 45). Die SPD errang in 58 Wahlkreisen den Sieg (2009: 64); die Linke in 4 (2009: 19). Die Grünen konnten sich wiederum nur in einem Wahlkreis durchsetzen. Also 2013: 1 und 2009: 1. Die sog. Überhangmandate lassen die Zahl der 299 Wahlkreise natürlich unberührt. Die Wähler haben genau so viele Abgeordnete gewählt, wie es Wahlkreise gibt, keinen mehr und keinen weniger. Dass sie mit der Erststimme zu viele Abgeordnete gewählt hätten und deshalb „Überhänge“ entstanden seien, ist ein Märchen – und bleibt ein Märchen.

Nicht die Überhangmandate, sondern die Ausgleichsmandate sind die „Extrawürste“, die zu allem Überfluss nach der Wahl an die Verliererparteien bei der Direktwahl verteilt werden. Bei den Ausgleichsmandaten entstehen nachträglich durch bloße Zuteilung mehr Listenplätze als mit den Zweitstimmen Listenbewerber gewählt worden sind. Die entsprechenden Ausgleichsmandate sind nicht durch Zweitstimmen gedeckt. Die Abgeordneten mit Ausgleichsmandat gelangen also nicht durch Wahl in das Parlament, sondern durch eine „Hintertüre“, die ihnen der Wahlgesetzgeber aus nicht nachvollziehbaren Gründen einer „ausgleichenden“ Gerechtigkeit geöffnet hat. Die Wähler wählen, und die Wahlleiter gleichen das Wahlergebnis wieder aus? Das kann es nicht sein. Damit hat sich der Gesetzgeber über die Verfassung hinweggesetzt. Dort heißt es in Art. 38: „Die Abgeordneten werden (…) gewählt.“ Der Mandatsausgleich ist grob verfassungswidrig! – Doch „wer hängt der Katz’ die Schelle um?“ Wer bringt diesen groben Unfug vor dem Verfassungsgericht zu Fall?

Wer hängt der Katz’ die Schelle um?

Die sog. personalisierte Verhältniswahl ist gerade bei den kleinen Parteien eine bloße Fata Morgana. Die Grünen erlangten wie schon 2009 so auch 2013 nur ein einziges Direktmandat und schon gar kein Überhangmandat. Die FDP hat – bei jetzt 15 Bundestagswahlen! – 2013 wiederum keinen einzigen Wahlkreis gewonnen! Bei den Grünen wurde 2013 nur ein einziger Listenplatz „personalisiert“. Bei der FDP überhaupt keiner. Bei den kleinen Parteien kann also von einer personalisierten Verhältniswahl überhaupt keine Rede sein. Anders ist das nur bei der CSU. Sie ist aber keine der kleinen Parteien, sondern eine besonders große Volkspartei, die aber nur in Bayern antritt.

Die Erststimmen sind folglich für die Grünen, ebenso wie für die FDP, vollkommen bedeutungslos. Bei den Grünen würde sich an der Sitzverteilung nichts ändern, wenn diese Partei überhaupt keinen Wahlkreis gewonnen hätte. Wenn bei den kleinen Parteien alle Direktmandate verloren gehen, ändert das an der Zahl der im Bundestag erlangten Listenplätze nichts. Das hat sich herumgesprochen. Man kann also mit den Erststimmen „taktisch“ wählen, ohne irgendeinen Nachteil zu erleiden. Eine Partei, die sowieso fast keine oder gar keine Wahlkreise gewinnt, braucht die Erststimme nicht. Für sie sind die Direktmandate eine bloße Arabeske, auf die man gut und gerne verzichten kann.

Gibt es weniger Listenplätze als Direktmandate, ist es anders. Doch eine Überhangpartei braucht umgekehrt im Überhangland die Zweitstimmen nicht. Sie würde selbst dann die gleiche Zahl an Direktmandaten erreichen, wenn sie dort keine einzige Zweitstimme erhalten hätte. Die Wähler können also durch ein Totalsplitting im Zusammenspiel bei der Union alle Erststimmen und bei der FDP alle Zweitstimmen konzentrieren. Das wäre der sichere Wahlsieg gewesen. – Was für ein absurdes Wahlsystem!

 
n/a