15.01.2015

Hartz IV und arbeitslose EU-Bürger

Anmerkung zum EuGH-Urteil vom 11.11.2014 in der Rechtssache Dano

Hartz IV und arbeitslose EU-Bürger

Anmerkung zum EuGH-Urteil vom 11.11.2014 in der Rechtssache Dano

EuGH: EU-Bürgern kann unter Umständen Hartz IV in Deutschland verweigert werden.|© Jörg Lantelme - Fotolia
EuGH: EU-Bürgern kann unter Umständen Hartz IV in Deutschland verweigert werden.|© Jörg Lantelme - Fotolia

Im Januar 1989 trat der damalige Präsident der Europäischen Kommission Jacques Delors vor das Europäische Parlament, um am Ende seiner ersten Amtszeit, die von einem Stocken des europäischen Integrationsprozesses geprägt war, über den Fortschritt der Gemeinschaft zu sprechen. In seiner Rede behandelte er die erreichten Maßnahmen zur Liberalisierung des Kapitalverkehrs, zur gegenseitigen Anerkennung und zur Vergemeinschaftung des öffentlichen Auftragswesens, um mit dem bekannt gewordenen Bonmot zu enden, man „verliebt […] sich nicht in einen großen Binnenmarkt”. Drei Jahre später trat die Gemeinschaft mit dem Vertrag von Maastricht in eine neue Phase ein. Der Vertrag führte das Institut der Unionsbürgerschaft ein und erkannte damit das Recht auf Freizügigkeit in der Gemeinschaft außerhalb der Grenzen einer wirtschaftlichen Betätigung als Arbeitnehmer oder Selbstständiger an. Deren Freizügigkeit war bereits zuvor über die Grundfreiheiten rechtlich abgesichert.

EU in der Krise

25 Jahre nach der Rede Delors steckt die Europäische Union wieder einmal in einer Krise. Für Aufregung sorgt dabei unter anderem ausgerechnet ein Thema, das den Integrationsprozess einst half wiederzubeleben: Die Unionsbürgerfreizügigkeit. Die politische Sprengkraft, die ihr inzwischen zukommt, steht im Zusammenhang mit den räumlichen Erweiterungen der Europäischen Union in den vergangenen Jahren. Die Rechtssache Dano, über die die Große Kammer des EuGH am 11. 11. 2014 (Az.: C-333/13) entschieden hat, wirkt hier wie aus einer Mobilisierungskampagne von EU-Gegnern. Eine rumänische Staatsangehörige beanspruchte für sich und ihren kleinen Sohn Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II), was das Jobcenter Leipzig unter Berufung auf einen vor allem Unionsbürger treffenden Leistungsausschluss im SGB II ablehnte. Jedenfalls nach den Feststellungen des vorlegenden Sozialgerichts Leipzig war Frau Dano in ihrem Leben nie erwerbstätig und hatte nur drei Jahre in Rumänien die Schule besucht. Um eine Arbeit hatte sie sich in der Bundesrepublik nicht bemüht.

Rechtsprechung des EuGH zur Unionsbürgerfreizügigkeit

Um die Bedeutung der Dano-Entscheidung einordnen zu können, bedarf es eines Blicks zurück in die Rechtsprechung des EuGH zur Unionsbürgerfreizügigkeit. Ihr war dabei von Anfang an ein gewisses Spannungsverhältnis zum Sozialrecht zu eigen. Dies verwundert nicht, weil sich die praktische Bedeutung der Unionsbürgerfreizügigkeit neben einer weit verstandenen Arbeitnehmerfreizügigkeit vor allem auf „wirtschaftlich Inaktive” beschränkt, so dass sich schnell Fragen der Lebensunterhaltssicherung stellen.


Seit Ende der 90er Jahre begann der EuGH erstmals in der Rechtssache Martínez Sala und danach in umstrittenen Entscheidungen wie Grzelczyk oder Trojani, über das als Bestandteil der Unionsbürgerschaft geregelte Diskriminierungsverbot den Zugang zu den Sozialhilfesystemen der Mitgliedstaaten zu öffnen. In diesen Leitentscheidungen stellte der EuGH allerdings einen engen Bezug her zu der aufenthaltsrechtlichen Stellung der Unionsbürger: Das Diskriminierungsverbot schütze sie, solange sie sich rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten.

Das durch Einzelrichtlinien und Fallrechtsprechung des EuGH geprägte Freizügigkeitsrecht wurde durch die so genannte Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG vereinheitlicht. Sie ist in ihren entscheidenden Bestimmungen das Ergebnis eines europäischen Kompromisses zwischen den Gesetzgebungsorganen. Aufenthaltsrechtlich liegt der Unionsbürgerrichtlinie ein abgestuftes System von Freizügigkeitsrechten zugrunde. Es besteht grundsätzlich uneingeschränkt für die ersten drei Monate im Aufnahmemitgliedstaat und verdichtet sich nach fünfjährigem (unionsrechtlich) rechtmäßigem Aufenthalt zu einem Daueraufenthaltsrecht. Für den Zeitraum dazwischen bedarf es eines spezifischen Freizügigkeitsrechts etwa als Arbeitnehmer oder auch – unter bestimmten Bedingungen – als Arbeitsuchender. Die Freizügigkeitsberechtigung Nichterwerbstätiger setzt nach der Unionsbürgerrichtlinie ausreichenden Krankenversicherungsschutz sowie ausreichende finanzielle Mittel voraus, um dem sozialen Sicherungssystem des Aufnahmemitgliedstaats nicht zur Last zu fallen.

Die Sozialleistungsberechtigung von Ausländern

Im Angesicht des engen Bezugs zwischen der Unionsbürgerfreizügigkeit und – über das Diskriminierungsverbot – der Sozialleistungsberechtigung enthält die Unionsbürgerrichtlinie auch Regelungen mit sozialrechtlichem Bezug. Artikel 24, über dessen Fassung zwischen den Organen der Europäischen Union gerungen wurde, enthält im ersten Absatz eine Konkretisierung des allgemeinen Diskriminierungsverbots, indem er in Umsetzung der Martínez Sala-Entscheidung des EuGH einen Anspruch auf Gleichbehandlung für diejenigen vorsieht, die sich „aufgrund” der Unionsbürgerrichtlinie, letztlich also rechtmäßig, im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten. Der zweite Absatz enthält eine Ausnahme vom Gleichbehandlungsgebot: Danach sind die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, Unionsbürgern während der ersten drei Monate des Aufenthalts sowie – unter bestimmten Umständen – Arbeitsuchenden Sozialhilfe zu gewähren. Hiervon hat die Bundesrepublik Gebrauch gemacht, indem sie durch Änderungen des SGB II in den Jahren 2006 und 2007 beide Personengruppen von Leistungen ausschloss (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 SGB II).

Anders als andere Sozialgesetze verlangt das SGB II allerdings keinen rechtmäßigen Aufenthalt als Leistungsvoraussetzung; jedenfalls nicht ausdrücklich. Dies war ursprünglich durchaus gewollt, weil möglichst alle Ausländer, denen eine Erwerbstätigkeit gestattet war, unter das SGB II-Regime des „Förderns und Forderns” fallen sollten. Das SGB II leidet an dieser inneren Unstimmigkeit, den Leistungsausschluss an ein bestimmtes Aufenthaltsrecht zu knüpfen, so dass Ausländer ohne rechtmäßigen Aufenthalt im Inland von ihm – jedenfalls nach seinem Wortlaut – nicht erfasst sind.

Der Fall „Dano”

Die nun vom EuGH entschiedene Rechtssache Dano wird maßgeblich durch den Umstand bestimmt, dass die Klägerin nicht freizügigkeitsberechtigt war. Da sie keine Arbeit suchte, hätte sie über ausreichende Existenzmittel verfügen müssen, was nicht der Fall war. Das SG Leipzig hielt bei seiner Auslegung des nationalen Rechts gleichwohl den Leistungsausschluss für Arbeitsuchende für einschlägig; eine Ansicht, die in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung unter Hinweis auf die aufenthaltsrechtlichen Folgen fehlender Freizügigkeitsberechtigung mit guten Gründen bezweifelt wird und zurzeit Gegenstand mehrerer Revisionsverfahren vor dem Bundessozialgericht ist.

Die Antwort des EuGH auf die Vorlagefragen aus Leipzig war angesichts dieses Sachverhalts eher schlicht: In seinen Kernaussagen beschäftigt er sich zunächst mit der Ausnahme vom Gleichbehandlungsgebot nach Art. 24 Abs. 2 Unionsbürgerrichtlinie, auf dem auch der deutsche Leistungsausschluss beruht. Hier fehle es bereits am persönlichen Anwendungsbereich, weil sich Frau Dano bereits länger als drei Monate in der Bundesrepublik aufhalte und nicht auf Arbeitsuche sei. Damit konzentriert sich alles auf die Frage, ob sie sich im Hinblick auf ihre Leistungsberechtigung auf das Diskriminierungsverbot stützen kann. Der EuGH führt aus, dass maßgeblich insoweit Art. 24 Abs. 1 Unionsbürgerrichtlinie sei, der das nunmehr in Art. 18 AEUV primärrechtlich niedergelegte Diskriminierungsverbot konkretisiere. Gleichbehandlung könne aber nur derjenige Unionsbürger verlangen, der sich rechtmäßig im Inland aufhalte. Hieran fehle es vorliegend.

Keine Transferleistung ohne Freizügigkeitsrecht

Die Dano-Entscheidung behandelt im Hinblick auf die Frage, unter welchen Umständen die Mitgliedstaaten Unionsbürger von Transferleistungen wie dem Alg II ausschließen können, nur einen Teilaspekt. Sie beschränkt sich auf die Fälle, in denen Unionsbürger nicht freizügigkeitsberechtigt sind. Dies dürften vor dem Hintergrund der geringen Anforderungen zum Beispiel an den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff eher Einzelfälle sein. Sollte sich in der Bundesrepublik die Ansicht durchsetzen, dass der im SGB II geregelte Leistungsausschluss auf Personen ohne materielles Freizügigkeitsrecht gar nicht anwendbar ist, wäre die Entscheidung nur rechtspolitisch von Interesse, weil mit ihrer Hilfe die verbliebenen Handlungsmöglichkeiten der nationalen Gesetzgeber deutlicher werden. Damit steht insbesondere noch eine Klärung der Frage aus, ob arbeitsuchende Unionsbürger unbefristet von SGB II-Leistungen ausgeschlossen werden können. Diese Frage war bereits Gegenstand einer Entscheidung des EuGH im Jahr 2009 (Vatsouras und Koupatantze) und ist vom BSG auf der Grundlage der in der Bundesrepublik weit fortgeschrittenen fachöffentlichen Diskussion noch einmal zum Gegenstand eines derzeit anhängigen Vorabentscheidungsverfahrens gemacht worden (Alimanovic). In seinem Vorlagebeschluss hat sich der 4. Senat des BSG insoweit bereits positioniert, als er das den Lebensunterhalt sichernde Alg II als eine Leistung ansieht, die auch den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll. Der EuGH hatte bereits in der Rechtssache Vatsouras und Koupatantze unter Bezugnahme auf frühere Rechtsprechung (Collins) entschieden, dass Art. 24 Abs. 2 Unionsbürgerrichtlinie jedenfalls im Einklang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit (jetzt Art. 45 AEUV) auszulegen sei. Es spricht insgesamt also einiges dafür, dass die Reaktion der Bundesregierung auf die Dano-Entscheidung, sie bestätige die deutsche Rechtslage, zu kurz greift.

 
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