09.12.2021

Handlungsbedarf am „Nachbarzaun“

Zur Rechtmäßigkeit einer grenzüberschreitenden Wärmedämmung

Handlungsbedarf am „Nachbarzaun“

Zur Rechtmäßigkeit einer grenzüberschreitenden Wärmedämmung

Eine grenzüberschreitende Außendämmung der Giebelwand sollte geduldet werden, da eine Innendämmung nicht mit vertretbarem Aufwand vorgenommen werden könne. | © sveta - stock.adobe.com
Eine grenzüberschreitende Außendämmung der Giebelwand sollte geduldet werden, da eine Innendämmung nicht mit vertretbarem Aufwand vorgenommen werden könne. | © sveta - stock.adobe.com

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs verhandelte am 15.10.2021 und entschied am 12.11.2021 (Az. V ZR 115/20) über die Frage, ob landesrechtliche Regelungen zu grenzüberschreitenden nachträglichen Wärmedämmungen von Bestandsbauten mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Bundesländer grenzüberschreitende Wärmedämmungen regeln dürfen. Konkret geht es um einen Nachbarstreit aus Nordrhein-Westfalen.

Das Verfahren beleuchtet die hierzu existierenden zivilrechtlichen Vorgaben im Verhältnis der Nachbarn untereinander. Hiervon unabhängig sind die diese flankierenden bestehenden landesrechtlichen öffentlich-rechtlichen Vorschriften zu Abstandsflächen, in denen ebenfalls der gesetzgeberische Wille zum Ausdruck kommt, Energieeinsparung durch energetische Gebäudesanierung zu erleichtern. So regeln beispielsweise die §§ 6 Abs. 6 S. 4 Nr. 2, 4 Abs. 2 S. 4 Hessische Bauordnung, dass die mit Wärmedämmung zusammenhängenden notwendigen Änderungen von Bauteilen nicht abstandsflächenrelevant sind. Zwar betreffen auch die Regelungen über Abstandsflächen die Belange der Nachbarschaft und sind mithin drittschützend. Sie sind aber als rein öffentlich-rechtliche Vorgaben nicht geeignet, etwaige zivilrechtliche Belange, wie den Überbau, mit zu lösen. Insoweit besteht das Erfordernis verfassungskonformer zivilrechtlicher Regelungen.

Die Parteien des Rechtsstreits sind Eigentümer von benachbarten Grundstücken, die mit Mehrfamilienhäusern bebaut sind. Die Giebelwand des vor mehreren Jahrzehnten errichteten Gebäudes der Klägerin steht unmittelbar an der gemeinsamen Grundstücksgrenze mit der Beklagten. Deren Gebäude steht ungefähr 5 Meter von der Grundstücksgrenze entfernt. Die Klägerin verlangt nun von der Beklagten, eine grenzüberschreitende Außendämmung der Giebelwand zu dulden, da eine Innendämmung nicht mit vertretbarem Aufwand vorgenommen werden könne.


Das Amtsgericht Köln gab in erster Instanz der Klage statt (AG Köln – Urteil vom 2. Oktober 2019 – 127 C 551/17). Auf die Berufung der Beklagten hin wies das Landgericht Köln die Klage ab und ließ die Revision zu (LG Köln – Urteil vom 14. Mai 2020 – 29 S 223/19).

In Nordrhein-Westfalen bestimmt § 23a Abs. 1 NachbG NW, dass  der Eigentümer bzw. die Eigentümerin eines Grundstücks die Überbauung seines bzw. ihres Grundstücks aufgrund von Maßnahmen, die an bestehenden Gebäuden für Zwecke der Wärmedämmung vorgenommen werden, zu dulden hat, wenn diese über die Bauteileanforderungen in der Energieeinsparverordnung vom 24. Juli 2007 (BGBl. I S. 1519), geändert durch Verordnung vom 29. April 2009 (BGBl. I S. 954), in der jeweils geltenden Fassung nicht hinausgeht, eine vergleichbare Wärmedämmung auf andere Weise mit vertretbarem Aufwand nicht vorgenommen werden kann und die Überbauung die Benutzung des Grundstücks nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt. Eine wesentliche Beeinträchtigung soll vorliegen, wenn die Überbauung die Grenze zum Nachbargrundstück in der Tiefe um mehr als 0,25 m überschreitet.

Zwar betrifft das Verfahren nur das Nachbarrechtsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen, in den meisten anderen Bundesländern finden sich jedoch entsprechende Regelungen[1], sodass das Urteil jedenfalls auch für andere Bundesländer richtungsweisend ist.

Das Landgericht ist der Auffassung, dass die in § 23a Abs. 1 NachbG NW vorgeschriebene Duldungspflicht mangels Gesetzgebungskompetenz des Landes verfassungswidrig und nichtig sei. Aus Art. 72 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG ergibt sich die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das bürgerliche Recht. Die Länder haben also nur eine Kompetenz zum Erlass von Gesetzen, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat. § 912 BGB regelt eine Duldungspflicht für den Überbau. Kernfrage des Verfahrens ist mithin, ob der Bund mit § 912 BGB eine abschließende Regelung getroffen hat und ob der Regelungsvorbehalt des Art. 124 EGBGB greift, wonach landesgesetzliche Vorschriften, welche das Eigentum an Grundstücken zugunsten der Nachbarn noch anderen als den im Bürgerlichen Gesetzbuch bestimmten Beschränkungen unterwerfen, unberührt bleiben. Nach Ansicht des Landgerichts regelt § 912 BGB den Überbau und dessen Duldungspflicht abschließend, sodass für landesgesetzliche Regelungen kein Raum bleibt.

Die Revision zum Bundesgerichtshof hatte jedoch Erfolg mit der Wirkung, dass das stattgebende Urteil des Amtsgerichts Köln (AG Köln – Urteil vom 2. Oktober 2019 – 127 C 551/17) in vollem Umfang wiederhergestellt werde und eine Duldungspflicht für die Anbringung der Wärmedämmung besteht.

Der Bundesgerichtshof stellte jedoch zunächst fest, dass das Landgericht Köln wegen der von ihm vertretenen Auffassung, die Norm sei verfassungswidrig, keine Sachentscheidung hätte treffen dürfen. Art. 100 Abs. 1 GG normiert nämlich, dass Gerichte, die ein entscheidungserhebliches Gesetz für verfassungswidrig halten, das Verfahren aussetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hierzu einholen müssen. Gleichwohl sah der Bundesgerichtshof keine Veranlassung, selbst das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, da § 23a NachbG NW verfassungskonform sei.

Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs ist es für die Beantwortung der Frage, wann eine andere Beschränkung im Sinne des Art. 124 EGBGB vorliegt, die die Gesetzgebungskompetenz der Länder wieder aufleben lässt, entscheidend, dass eine vergleichende Gesamtwürdigung der bundes- und landesrechtlichen Regelungen stattfindet. Eine andere Beschränkung liege vor, wenn durch landesgesetzliche Regelungen zwar dieselben Rechtsfolgen wie in vergleichbaren bundesgesetzlichen Regelungen vorgesehen sind, diesen aber ein anderer Tatbestand und Regelungszweck zugrunde liegt, der die Grundkonzeption des Bundes wahrt.

  • 23a NachbG NW entspricht in seiner Rechtsfolge der Duldungspflicht des Überbaus in § 912 BGB, gleichwohl unterscheiden sich Tatbestand und Regelungszweck. Während § 912 BGB die Errichtung eines Gebäudes betrifft, befasst sich § 23a NachbG NW mit einem bereits errichteten Gebäude, bei dem die Dämmung im Nachhinein notwendig wird. § 912 BGB dient ferner unter anderem einem allgemeinen volkswirtschaftlichen Interesse, während § 23a NachbG NW eine im allgemeinen Interesse liegende energetische Gebäudesanierung bezweckt. Auch die Grundkonzeption des § 912 BGB wird nicht berührt, da Neubauten auch weiterhin so geplant werden sollen, dass sich die Wärmedämmung innerhalb der Grenzen des eigenen Grundstücks befindet.

In materieller Hinsicht käme es entscheidend darauf an, ob die landesrechtliche Regelung den Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) eingehalten hat, was vorliegend der Fall sei, denn § 23a NachbG NW enthalte differenzierte Vorgaben zu Inhalt und Grenzen der Duldungspflicht. Die Verhältnismäßigkeit der Norm sei ebenfalls gegeben. Hier sei entscheidend, dass eine vergleichbare Wärmedämmung auf andere Weise mit vertretbarem Aufwand nicht vorgenommen werden kann (Erforderlichkeit) und nur eine unwesentliche Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks unter Gewährung eines finanziellen Ausgleichs erfolgen darf (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne).

Für das Land Nordrhein-Westfalen ergeben sich also keine weiteren Handlungspflichten aus dem Urteil des Bundesgerichtshofs. Gleiches gilt wohl für die Länder, deren Regelungen hinsichtlich der nach dem Bundesgerichtshof maßgeblichen Punkte der Regelung in Nordrhein-Westfalen entsprechen.[2]

In der Pressemitteilung Nr. 210/2021 des Bundesgerichtshofs zu dem hier besprochenen Urteil wurde auch der § 23a NachbG NW teilweise unter dem Stichwort „maßgebliche Vorschriften“ abgedruckt. Hier wurde auch der Teil der Regelung abgebildet, wonach eine wesentliche Beeinträchtigung insbesondere dann anzunehmen sei, wenn die Überbauung die Grenze zum Nachbargrundstück in der Tiefe um mehr als 0,25 m überschreitet (§ 23a Abs. 1 NachbG NW). Nicht alle Länder haben jedoch eine solche mit Zahlen untermauerte Definition vorgenommen.[3] Es stellt sich also die Frage, ob die Vorschriften dieser Länder dann verfassungsgemäß sind, oder nicht Inhalt und Schranken des Eigentums mangels nicht ausreichend differenzierter Vorgaben Inhalt und Grenzen der Duldungspflicht verletzen.

Darüber hinaus weichen die Regelungen von Berlin und Bremen noch unter weiteren Gesichtspunkten von § 23a NachbG NW ab.

  • 16a NachbG Bln enthält keine Anforderungen an die Erforderlichkeit der Grenzbebauung, z. B., dass diese nur dann zulässig ist, wenn eine vergleichbare Wärmedämmung auf andere Weise mit vertretbarem Aufwand nicht vorgenommen werden kann. Aus einem Verweis auf § 17 Abs. 3 NachbG Bln ergibt sich lediglich die Verpflichtung, das Recht so zügig und schonend wie möglich auszuüben und nicht zur Unzeit geltend zu machen. Ob dies den Anforderungen des Bundesgerichtshofs an eine verfassungskonforme Regelung genügt, ist unter Berücksichtigung der an die Hand gegebenen Maßstäbe äußerst fraglich.
  • 24a AGBGB Bremen enthält ebenfalls keine Vorgaben zur Erforderlichkeit des Überbaus. Problematisch dürfte ferner sein, dass keine Entschädigungsregelung enthalten ist, diese aber nach Wertung des Bundesgerichtshofs maßgeblich für die Bewertung von § 23 a NachbG NW als verhältnismäßig im engeren Sinne ist.

Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass für Berlin und Bremen Handlungsbedarf bei der verfassungskonformen Ausgestaltung ihrer Regelungen zur nachträglichen grenzüberschreitenden Wärmedämmung besteht. Allerdings sollten auch Hessen und Bayern ihre Regelungen unter dem Gesichtspunkt der ausreichend differenzierten Vorgaben zu Inhalt und Grenzen der Duldungspflicht auf den Prüfstand stellen.

 

[1] § 10a NachbG HE (Hessen), Art. 46a AGBGB (Bayern), § 7c NRG BW (Baden-Württemberg), § 16a NachbG Bln (Berlin), § 74a HBauO (Hamburg), § 14a ThürNRG (Thüringen), § 21a NNachbG (Niedersachsen), § 19a BbgNRG (Brandenburg), § 24a AGBGB (Bremen), § 19a NachbarG SL (Saarland).

[2] § 7c NRG BW (Baden-Württemberg), § 74a HBauO (Hamburg), § 14a ThürNRG (Thüringen), § 21a NNachbG (Niedersachsen), § 19a BbgNRG (Brandenburg), § 19a NachbarG SL (Saarland).

[3] § 10a NachbG HE (Hessen), Art. 46a AGBGB (Bayern), § 16a NachbG Bln (Berlin), § 24a AGBGB (Bremen).

 

Prof. Dr. Stefan Pützenbacher, Notar

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Kanzlei Kapellmann und Partner, Frankfurt am Main; Honorarprofessor für Baurecht an der Frankfurt University of Applied Sciences
 

Lena Gutberlet-Wendorff

Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich des öffentlichen Baurechts, Kanzlei Kapellmann und Partner, Frankfurt am Main; Assessorin
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