10.12.2021

Europäische Gerichtshof für Menschenrechte setzt polnische Justiz unter Druck

Richterbesetzungen ist rechtswidrig

Europäische Gerichtshof für Menschenrechte setzt polnische Justiz unter Druck

Richterbesetzungen ist rechtswidrig

Die Pandemie hat die ohnehin hohe Belastung der Oberverwaltungsgerichte nochmals erhöht. ©j-mel - stock.adobe.com
Die Pandemie hat die ohnehin hohe Belastung der Oberverwaltungsgerichte nochmals erhöht. ©j-mel - stock.adobe.com

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat ein Urteil gesprochen, das ungeheure Sprengkraft sowohl für die Richterbesetzungen als auch das gesamte polnische Justizsystem hat. Zwei Richter waren bei einer Beförderung übergangen worden und hatten dagegen in Polen erfolglos geklagt. Der EGMR stellte fest, dass sie kein faires Verfahren bekommen hatten.

Nach der Auffassung des EGMR war die Kammer des Obersten Gerichtshofs, die über die Klage der Richter entschieden hatte, kein unabhängiges Gericht auf gesetzlicher Grundlage, wie es Art. 6 EMRK vorschreibt (Dolinska-Ficek und Ozimek gegen Polen, Beschwerde Nr. 49868/19 und 57511/19, Urteil vom 08.11.2021). Die Mängel, die der EGMR erkannte, gehen auf die Justizreform zurück, die Polen im Jahr 2017 durchgeführt hatte. Dabei änderte der Gesetzgeber das Verfahren zur Auswahl, Beförderung und Ernennung von Richtern. In Polen ist für Entscheidungen, die die Karriere von Richtern betreffen, ein besonderes Gremium zuständig, der „Nationale Justizrat“. Dieser ist mehrheitlich mit Richtern besetzt. Lange Zeit war es die selbstverständliche Praxis, dass die Richterschaft die Mitglieder des Nationalen Justizrates wählte. Das polnische Verfassungsgericht entschied sogar, dass diese Prinzip Verfassungsrang hat.

Justizreform: Parlament wählt Richter im Justizrat

Im Jahr 2017 änderte aber der Gesetzgeber im Rahmen einer Justizreform das Verfahren zur Wahl in den Nationalen Justizrat. Von nun an wählte das Parlament die Richter, die dem Justizrat angehörten. Diese Regelung wurde dem Verfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt. Es kam – in neuer Besetzung – zu einem anderen Ergebnis als noch wenige Jahre zuvor. Die Verfassung gebiete es nicht, dass Richter die richterlichen Mitglieder des Justizrates wählten.


Dieser Hintergrund spielte eine wichtige Rolle für das aktuelle Urteil des EGMR. Die Beschwerdeführer hatten sich für Stellen beim Obersten Gerichtshof beworben. Trotz ihrer exzellenten Qualifikation sprach der Nationale Justizrat keine Empfehlung aus. Sie klagten gegen diese Entscheidung. Für das Verfahren war eine besondere Kammer des Obersten Gerichtshofs zuständig. Diese Kammer war ebenfalls im Rahmen der Justizreform im Jahr 2017 gegründet worden. Die Richter, die ihr angehörten, waren vom Nationalen Justizrat nach den neuen Regeln gewählt worden. Die Beschwerdeführer verloren ihr Verfahren und wandten sich an den EGMR. Sie machten geltend, Art. 6 EMRK garantiere ein Recht auf ein Verfahren vor einem Gericht, das unabhängig sei und auf einem Gesetz beruhe.

Grundsatzentscheidung des EGMR zu isländischer Richterbesetzung

Der EGMR hat sich in früheren Fällen bereits mit der Frage beschäftigt, wann ein Gericht unabhängig ist und auf gesetzlicher Grundlage beruht. Die wichtigste Entscheidung zu dieser Frage ist das Urteil der Großen Kammer im Fall Guðmundur Andri Ástráðsson gegen Island (Beschwerde Nr. 26348/18, Urteil vom 01.12.2020). In diesem Urteil entwickelte der Gerichtshof die Standards, die er nun im Fall gegen Polen anlegte.

Der Fall betraf einen Mann, der wegen einer Straftat verurteilt worden war. Das Appellationsgericht hatte seine Verurteilung bestätigt. Dieses Gericht war erst kurze Zeit zuvor im Rahmen einer Justizreform eingeführt worden. Dabei hatte der Gesetzgeber auch das Verfahren zur Wahl der Richter geändert. Der Beschwerdeführer machte geltend, der Justizminister habe sich bei der Ernennung der Richter über gesetzliche Vorschriften hinweggesetzt.

Grundsätzlich handelt es sich bei der Richterbesetzung um eine Frage des nationalen Rechts. Der EGMR ist aber nicht dafür zuständig, die Anwendung nationalen Rechts zu prüfen. Sein Mandat ist darauf beschränkt, zu prüfen, ob Staaten die EMRK eingehalten haben. Der EGMR sagt, vereinfacht gesprochen, einem isländischen Gericht nicht, wie es isländisches Recht anzuwenden hat. Um diesen Konflikt zu lösen, entwickelte der EGMR in dem Fall gegen Island einen dreistufigen Test: Er prüft zunächst, ob Staaten bei der Besetzung von Richterstellen offensichtlich gegen innerstaatliches Recht verstoßen haben. Dann befasst er sich mit der Frage, ob der Verstoß das Recht auf ein unabhängiges Gericht wesentlich beeinträchtigt. Schließlich berücksichtigt er, ob die nationalen Gerichte den Verstoß gründlich geprüft haben.

Im Fall gegen Island stellte der Gerichtshof auf dieser Grundlage eine Verletzung der EMRK fest – vor allem, weil der Justizminister sich bei der Ernennung ohne Begründung über die Empfehlung einer Expertenkommission hinweggesetzt hatte, was klar gegen isländisches Recht verstieß.

Gefahr politischer Einflussnahme zu groß

Diese Kriterien wandte der Gerichtshof nun auch im Fall der polnischen Richter an. Nach seiner Auffassung war die Ernennung der Richter, die dem Nationalen Justizrat angehörten, ein eklatanter Bruch nationalen Rechts. Der EGMR wies darauf hin, dass das polnische Verfassungsgericht sein Urteil, nach der die neue Regelung verfassungskonform sei, nicht begründet habe. Darüber hinaus wies der Gerichtshof auch auf die einhellige internationale Kritik hin, der die polnische Justizreform begegnet war.

Diese Mängel hatten aus Sicht des EGMR das Recht auf ein unabhängiges Gericht wesentlich beeinträchtigt. Wenn Abgeordnete die Richter bestimmten, die für die Wahl anderer Richter verantwortlich waren, öffnet das politischer Einflussnahme auf die Justiz Tür und Tor, betonte der Gerichtshof. Eine Möglichkeit zu effektivem Rechtsschutz hatten die Beschwerdeführer nicht gehabt.

Das Gericht, das über die Klagen der Beschwerdeführer geurteilt hatte, war also aus Sicht des EGMR nicht auf Grundlage eines Gesetzes errichtet und nicht unabhängig. Deshalb waren die Beschwerdeführer in ihrem Recht auf ein faires Verfahren verletzt.

Rechtswidrige Richterwahl in Polen und die prozessualen Folgen

Das Urteil wirft interessante Fragen auf, die weit über den konkreten Fall hinausgehen. Der EGMR hat ja nicht nur festgesellt, dass es in dem konkreten Prozess der Beschwerdeführer zu Verstößen gegen das Recht auf ein faires Verfahren gekommen ist. Vielmehr hat er entschieden, dass die Richterwahl in Polen seit der Justizreform grundsätzlich mangelhaft ist. Richter, die nach dem neuen Procedere ernannt worden sind, sind bereits in einer Vielzahl von anderen Verfahren tätig. Nach dem Urteil des EGMR stellt sich die Frage, ob auch diese Verfahren gegen Art. 6 EMRK verstoßen. Der Gerichtshof hat sich mit diesem Problem in dem Fall gegen Island bereits auseinandergesetzt und erklärt: Nicht jedes Verfahren ist schon dadurch mangelhaft, dass Richter nach einem neuen rechtswidrigen System ernannt wurden. Es sei hier immer abzuwägen, wieviel Zeit bereits vergangen und wie groß das Interesse an Rechtssicherheit ist. Allerdings heißt das umgekehrt auch, dass eben ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren jederzeit möglich ist. Es bleibt also abzuwarten, wie viele Fälle den EGMR noch erreichen werden, die die Richterwahl betreffen.

Der EGMR hat jedenfalls in seinem Urteil angeordnet, dass Polen die Mängel des neuen Systems der Richterwahl korrigieren muss. In Polen beschäftigt sich derzeit das Verfassungsgericht mit der Frage, ob Art. 6 EMRK in der Auslegung des EGMR mit der polnischen Verfassung zu vereinbaren ist. Für weiteren Konfliktstoff zwischen Polen und den europäischen Gerichten ist also gesorgt.

 

Holger Hembach

Rechtsanwalt, Hembach Legal
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